Nr. 26
Die Gleichheit
so gut wie gar nicht für die Heimarbeiterschaft der Schweiz . Nicht einmal das Trucksystem ist gesetzlich verboten, so daß noch vielfach die Arbeiter und Arbeiterinnen mit Spezereiwaren statt mit Geld bezahlt werden. Zum niedrigen Lohn gesellt sich dabei sehr leicht die Ausbeutung der Arbeiter als Konsumenten.
Die Schweizer Heimarbeitausstellung fällt auf durch die große Anzahl von Ausstellungsgegenständen. Zirka 3000 Produfte der Heimarbeit sind zusammengetragen worden, um dem Besucher durch eine Aufschrift, die jedem Gegenstand beigefügt ist, über Geschlecht, Alter, Familienstand des Verfertigers sowie über Arbeitszeit, Lohn, Unkosten, Nettolohn Aufschluß zu geben. Selbstverständlich ist auch der Herstellungsort verzeichnet, den zu kennen für die Beurteilung des Lohnes wichtig ist. Eine besondere Rubrik der Etikette gibt darüber Auskunft, ob das Einkommen aus der Heimarbeit das einzige Einkommen ist, oder ob es notwendigen oder willkommenen Nebenverdienst bildet. Notwendiger Nebenverdienst wurde das Einkommen aus der Heimarbeit nach dem offiziellen Führer genannt, wenn der andere Verdienst zur Fristung des Lebens unterhaltes nicht ausgereicht hätte. War die Einnahme aus der Heimarbeit zur Fristung des Lebensunterhaltes nicht unbedingt notwendig, sondern wurde sie zum Vergnügen, zum Zeitvertreib, zur Beibringung von Taschengeld verrichtet, so ist der Ertrag als willkommener Nebenverdienst bezeichnet. Es soll hier nicht darüber gesprochen werden, ob diese Einteilung des Nebenverdienstes in notwendigen" und" willkommenen" für den sozialpolitischen Zweck der Ausstellung notwendig oder auch nur willkommen ist, jedenfalls birgt sie die Gefahr in sich, daß vielfach willkommener statt notwendiger Nebenverdienst deklariert wird. Wer je Erhebungen dieser Art vorgenommen hat, weiß, daß viele Heimarbeiterinnen geneigt sind, die Verrichtung von Heimarbeit nicht mit der Notwendigkeit zu erklären, den unzureichenden Verdienst des Mannes zu ergänzen, sondern mit dem Verlangen, eine Beschäftigung zu haben. Sie glauben, diese Verleugnung ihrem Ansehen schuldig zu sein.
Zu der Ausstellung gehört auch eine Arbeitshalle, in der Werkstätten für Seidenbandweber, Tabafarbeiter, Holzschnitzer, Leineweber, Bürstenmacher, Schneider, Schuhmacher und Stroh hutarbeiterinnen errichtet sind. Die Werkstätten sind mit dem Inventar ausgestattet, das die betreffenden Arbeiter in ihren gewöhnlichen Arbeitsräumen um sich haben, um dem Besucher ein Bild von dem Aussehen der oft engen, kleinen und überfüllten Räume zu geben, die vielfach zugleich als Arbeits-, Wohn- und Schlafstätte dienen.
In einem anderen Raum sind Photographien, Tabellen und graphische Darstellungen ausgestellt. Die Photographien geben Wohnungen der Heimarbeiter wieder und werden wohl manchem mehr von Not und Elend erzählen als es Zahlen allein ver möchten. Die Tabellen und graphischen Darstellungen, die zum Teil von der Ausstellungsleitung, zum Teil aber auch vom Statistischen Amt der Eidgenossenschaft und von den statistischen Amtern einzelner Kantone angefertigt worden sind, geben Auskunft über Verbreitung der Heimindustrie, ihr Stärkever hältnis zur Fabrikindustrie, über Geschlecht der Heimarbeiter, über Verbreitung des Trucksystems, über Durchschnittslöhne der Heimarbeiter einzelner Industrien und anderes.
Sehr reich ist die Bekleidungsindustrie vertreten. Sie hat ihren Hauptsitz in den Kantonen Zürich , Thurgau , Aargau und Bern , und beschäftigt annähernd 9000 Heimarbeiter und -arbeiterinnen. Die Frauenarbeit überwiegt. Die Schweizer Ausstellung bestätigt, was auch die beiden reichsdeutschen Ausftellungen ergeben haben, daß die Heimarbeit nicht nur Probufte geringerer Qualität, sondern Arbeiten ganz hervorragender Güte liefert. Vom groben, bunten Hemd" bis herauf zum feinsten Jupon und eleganter Damenwäsche finden wir alle Stufen vertreten. Die Löhne sind zum Teil unglaublich niedrig. An einer Schürze, die in Zürich von einer 28 jährigen Arbeiterin hergestellt worden ist, fanden wir einen Stundenlohn von 5 Cts., und in der Knabenkonfektion aus Zürich waren Löhne von 5,8 Cts. für die Stunde verzeichnet. Vereinzelt melden die Etiketten auch Stundenlöhne von 50 Cts. und mehr,
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aber in den meisten Fällen bleiben sie doch unter 30, sehr oft gar unter 20 und nicht einmal selten unter 10 Cts. Besonders niedrig sind die Löhne in der Strickerei und Häkelei, etwas erträglicher in der Damen- und Herrenkonfektion, obgleich auch hier sehr niedrige Löhne nicht selten find. In der Kleiders konfektion ergibt sich, daß fast regelmäßig die Löhne der Heimarbeiter hinter den Löhnen der Werkstättenarbeiter zurückbleiben. Auffallend ist, daß die Löhne im gleichen Ort für die gleiche Arbeit oft verschieden sind, aber es bestätigt nur, daß es den Fabrikanten leicht möglich ist, die Arbeiter verschieden zu bezahlen, weil der Zusammenschluß der Heimarbeiter fehlt. Für einen Teil der Bekleidungsindustrie sind die Durchschnittslöhne berechnet; sie betragen in der Wäschekonfektion( Arbeitskleider, Schürzen, Leibwäsche mit Ausnahme der weißen Wäsche) 21,3 Cts., für Weißzeugnähen 17,9 Cts., für Strickerei 13,4 Cts. und für Häfelei 10,2 Cts. für die Arbeitsstunde.
Von den Erzeugnissen der Textilindustrie fallen vor allem die der Basler Seidenbandweberei auf. Für zirka 25 Fabris kanten, von denen die meisten in Basel wohnen, arbeiten in Fabriken und in der Hausindustrie mehr als 20000 Personen. Sowohl von den in den Fabriken wie in der Heimarbeit Beschäftigten sind 75 Prozent Frauen. Trotz der enormen Gewinne, die diese Industrie den wenigen Kapitalisten bringt, sind die Löhne nicht nur sehr bescheiden, sie sind zum Teil direkt HungerLöhne: fie gehen bis zu 12 Cts. für die Stunde herab und übersteigen selten 35 Cts. Die Arbeitszeit ist lang, sie beträgt, wie der Bearbeiter dieses Teils der Ausstellung, Dr. Fr. Mangold, Leiter des Statistischen Amts in Basel , berichtet, normalerweise 13 bis 14 Stunden täglich, oft auch 15 Stunden.
Erheblich schlechter sind noch die Verhältnisse der Heimarbeiterinnen in der Seidenstoffweberei, die ihren Hauptsitz im Kanton Zürich hat. Die Fabrikarbeit verdrängt hier die Hausindustrie. 1871 waren noch 89,5 Prozent aller Webstühle Hand- und nur 10,5 Prozent mechanische Webstühle, 1906 dagegen war der Anteil der Handwebstühle auf 17,7 Prozent gesunken und der der mechanischen Webstühle auf 82,3 Prozent gestiegen. Trotz der Ausdehnung der Arbeitszeit, die man immer bei der Konkurrenz zwischen Hand- und Maschinenarbeit findet, können die Heimarbeiter ihren Unterhalt nicht erwerben, sondern sind auch in der Schweizer Seidenstoffweberei dem sprichwörtlichen Weberelend preisgegeben. Stundenlöhne von 3 bis 4 Cts. sind nicht selten und solche von mehr als 10 Cts. fallen auf. Von einer Weberin schreibt die Lehrerin des Ortes wörtlich: " Ohne gute Leute müßte die Arme betteln, sie tut es aber nicht; aber die schlechtbezahlte Arbeit bringt sie. an den Bettelstab. Strenge Arbeit, elende kost und Kummer und Sorgen haben die Witwe in gesundheit. licher Hinsicht ruiniert." So wird warmes Leben kapitalistischer Ausbeutung geopfert.
Ein wenig besser sind die Lohnverhältnisse in der Platt. stichweberei und Seidenbeuteltuchweberei. In beiden Branchen bestehen Organisationen, die die große Mehrzahl der Heimarbeiter umfassen. Für die Plattstichweberei sind die Durch schnittslöhne auf zirka 20 Cts., für die Seidenbeuteltuchweberei auf zirka 34 Cts. berechnet. Der Arbeitgeberverein für Handweberei hat es den Plattstichwebern durch Drohung mit strafgerichtlicher Anzeige verboten, der Ausstellung Arbeiten zu liefern, die mit Material und nach Mustern des Arbeitgebers angefertigt seien. Die Seidenbeuteltuchweberei ist ausschließlich Heimarbeit; sie wird, ebenso wie die Plattstichweberei, in feuchten Rellern betrieben, und zwar fast nur von Männern, weil sie große Kraft erfordert. Trotzdem greifen zuweilen auch Frauen zu dieser schweren Arbeit, aber," so lesen wir im offiziellen Führer durch die Heimarbeiterausstellung, bereits in allen Fällen ist das Ende vom Liede, daß in wenigen Jahren das junge weibliche Wesen nur noch ein Schattenbild ist." Die Organisation der Seidenbeuteltuchweber hat nicht vermocht, die Löhne entsprechend den gesteigerten Lebensmittelpreisen zu erhöhen. Die Arbeit ist aber nicht nur schwer, sondern auch äußerst gesundheitschädlich, weil die Webkeller nie geheizt und nur mangelhaft beleuchtet werden.