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Die Gleichheit
was Stimmen für die Sozialdemokratie bedeutet. Es fragt sich aber, ob die freisinnigen Wähler in größerer Zahl dieser Parole folgen werden, zumal da der Vorsitzende des freisinnigen Landesvereins, der Reichstagsabgeordnete Günther- Plauen, ganz allgemein die Abstimmung für die„ nationalen" Kandidaten empfohlen hat.
Eine ähnliche Situation wie in Sachsen liegt in Baden vor. Die Stelle der Konservativen nimmt dort das Zentrum ein. Es hat besser standgehalten als die Konservativen in Sachsen , aber es hat doch einen ganz erheblichen Stimmen verlust erlitten und ein Mandat an die Sozialdemokratie verloren. Während es 1905 auf den ersten Hieb 28 Mandate erlangte, fonnte es diesmal nur 23 behaupten, um die übrigen mußte es noch in der Stichwahl kämpfen. Dagegen errang die Sozialdemokratie im ersten Gang 10 Size gegen 5 im Jahre 1905 und gelangte in 27 Wahlkreisen in die Stichwahl. Vor allen Dingen aber steigerte sie ihre Stimmenzahl von 50431 auf 86 835, also um 36404 Stimmen oder 70 Prozent. Das Zentrum dagegen verlor rund 15000 Stimmen. Ahnlich wie in Sachsen hat aber der Liberalismus von diesem Zurückdrängen der Rechten keinen direkten Gewinn. Die drei liberalen Parteien hatten gegen 1905 einen Rückgang um rund 10000 Stimmen, und im ersten Wahlgang vermochten sie nicht mehr als fünf Mandate zu erobern. Auch sie waren auf die Stichwahlen an gewiesen, aus eigener Kraft kann auch der badische Liberalis mus nicht mehr viel erreichen. Indes liegen die politischen Verhältnisse in Baden ganz anders als in Sachsen . Das gibt sich schon darin zu erkennen, daß in Baden das allgemeine gleiche Wahlrecht besteht, das dem Reichstagswahlrecht fast gleichkommt, während in Sachsen das Pluralunrecht herrscht. In dem vorwiegend noch kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Baden erscheint die Sozialdemokratie zurzeit dem Liberalismus noch als die kleinere Gefahr im Vergleich zum Zentrum. Da ihn außerdem seine Mandatsinteressen auf das Zusammengehen mit der Sozialdemokratie hinweisen in den Stichwahlen hat er weit seltener gegen fie als gegen das Zentrum zu fämpfen, so hatte er wie im Jahre 1905 für die Stich wahlen ein Großblockabkommen mit unserer Partei geschlossen. Danach stimmten die Liberalen für die Sozialdemokratie in sechs Kreisen, die Sozialdemokraten für die Liberalen in 18 Kreisen, während in 11 Kreisen, wo fein Sieg des Zentrums in Frage tam, der Streit zwischen Sozialdemokratie und Liberalen ausgefämpft wurde. Die Stichwahlen haben den glänzenden Sieg unserer Partei vollendet. Sie gewann in ihnen 10 weitere Mandate und ist mit ihren 20 Vertretern zur zweitgrößten Fraktion des badischen Landtags geworden.
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Tags nach den großen Erfolgen des 21. Oktober eroberte die Sozialdemokratie das Reichstagsmandat von Koburg in der Stichwahl. Der Freifinn war fast wie ein Mann für den nationalliberalen Landbündler eingetreten, die bürgerliche Stimmenzahl war gegen die Hauptwahl um 158 Stimmen gestiegen; die Sozialdemokratie aber brachte noch 877 Zuzügler ins Feuer, und mit 7060 Stimmen siegte Genoffe Zietsch über den Nationalliberalen, der es auf 6646 Stimmen brachte. So ist dieser Sieg, gegen die äußerste Kraftanstrengung der vereinigten Gegner erfochten, besonders glanzvoll.
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Am 26. Oktober folgte der vierte Streich das Berliner Proletariat gab dem Freifinn die Antwort auf seinen feigen Mandatsraub, der der Sozialdemokratie in Preußen vier von ihren sieben Landtagsmandaten entreißen sollte. Die Antwort war unzweideutig genug. Das Ergebnis des Kampfes hat scharf hervorgehoben, daß selbst unter dem elenden Dreiklassenwahl recht der Freisinn im fünften, sechsten und siebten Berliner Landtagswahlkreis gegen die Sozialdemokratie nicht mehr auf fommt. Die Zahl der sozialdemokratischen Wahlmänner ist bei diesen Ersazwahlen gegen die Hauptwahlen von 1908 gestiegen, die Mandate sind also mit vermehrten Stimmen behauptet worden. Nur im zwölften Kreis, wo die Sozialdemokratie 1908 bloß durch einen glücklichen Zufall siegte, wird die Entscheidung erst in den Wahlmännerstichwahlen fallen. Aber auch in diesem Kreise ist die Zahl der sozialdemokratischen
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Wahlmänner um 18 gestiegen, und für die Stichwahlen werden die Genossen von Moabit alle Kraft einsetzen. Wie aber auch die Entscheidung schließlich fallen mag, die Wahlen in Berlin reden dieselbe Sprache wie die in Sachsen , Baden und Koburg.
Diese Sprache ist leicht zu verstehen. Es ist die der Empörung der Massen über die volksfeindliche Politik der bürgerlichen Parteien, die sich bei der Reichsfinanzreform in ihrer ganzen brutalen Nacktheit entschleiern mußte. Der rücksichtslose Egoismus, den die Vertreter der Besitzenden dabei bekundet haben, die Skrupellosigkeit, die sie bewiesen, wo es sich um die Belastung des Proletariats und des Mittelstandes handelte, um die Arbeitsgelegenheit und Existenz vieler Zehntausender von Arbeitern: das ist die Kraft gewesen, die wider den Willen der ausbeutenden Klassen weite Kreise der Massen aus ihrer bisherigen politischen Stumpfheit emporgerissen und in Bewegung gesetzt hat. Daß diese Wählerscharen jetzt der Sozialdemokratie zuströmen, ist ein glänzendes Vertrauensvotum für unsere Partei und hat als solches seinen gewichtigen Wert. Jedoch die Empörung über die verteuerten Streichhölzer, den Preisaufschlag des Kaffees usw. und die Abgabe eines sozialdemokratischen Stimmzettels macht noch nicht den Sozialdemokraten. Der steht erst fämpfend im Leben unserer Zeit, wenn die instinktive Empörung zur Erkenntnis vertieft wird, daß der Steuerraubzug nicht eine vereinzelte Schändlichkeit der bürgerlichen Parteien ist, sondern nur die Konsequenz ihres ureigensten Wesens, daß alle Handlungen der bürgerlichen Parteien bestimmt werden durch den Umstand, daß sie Vertreter der Besitzenden und als solche Feinde der aufstrebenden Arbeiterklasse sind. Kurz, das Leitmotiv unserer Arbeit muß sein, den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen herrschenden Klassen und Proletariat, in der klarsten Weise herauszuarbeiten und ihn scharf, unverwischbar dem Bewußtsein der Massen einzuprägen. Die Arbeit des Wahlkampfes darf daher nicht mit dem Wahltag enden, sie muß vielmehr in anderer, vertiefter Form weitergehen. Nur dadurch werden wir es verhindern, daß jene aufgerüttelten Schichten der Volksmassen wieder dem politischen Schlaf verfallen oder fich gar von irgend einer hurrapatriotischen Finte betören lassen; nur dadurch werden wir erreichen, daß sie zu treuer Gefolgschaft unserer Partei, daß sie zu zielflaren, kampfgerüsteten Befennern des Sozialismus werden. Darauf aber, daß die Massen zielflar, kampfgerüstet in Bewegung bleiben, daß ihr unerschütterlicher Wille den Herrschenden nicht verborgen ist, kommt es vor allem an, wenn wir dem Proletariat die Früchte des 21. Oftober und der anderen Wahltage sichern wollen. Die Stärke der Fraktionen in den Parlamenten und die Konstellationen der Parteien haben gewiß ihre Bedeutung, die wir nicht übersehen dürfen. Die Furcht vor den Massen allein aber wird die bürgerlichen Parteien von manchen- wenn auch nicht von allen wenn auch nicht von allen Anschlägen auf Volksrecht und Volksinteressen abhalten. Dauernde Bewegung der Massen setzt jedoch politisch geschulte, grundfäßlich gefestigte Massen voraus.
H. B.
Als Schiller am 10. November 1759 zu Marbach geboren wurde, zuckte durch die geistige Atmosphäre Frankreichs das erste Wetterleuchten des aufsteigenden weltgeschichtlichen Gewitters, das die feudale Gesellschaft hinwegfegte. 1751 begann die Enzyklopädie der Diderot , d'Alembert , Holbach und Grimm zu erscheinen, jenes gewaltige wissenschaftliche Wert, das von einer materialistischen Naturbetrachtung ausgehend in einer naturrechtlichen Gesellschaftsphilosophie gipfelte und die fran
* Diese Ausführungen sind der wesentliche Inhalt einer Rede, die 1905 zur Schillerfeier der Mannheimer Arbeiter gehalten wurde. Was seither an„ Schillerliteratur" erschienen ist, hat uns nicht zu fachlichen Aenderungen veranlassen können. Wir nehmen die Gelegenheit wahr, unferen Leserinnen dringend die Lektüre der vorzüglichen Studie von Franz Mehring zu empfehlen: Schiller ", ein Lebensbild für deutsche Arbeiter. Sie ist 1905 im Verlag der Leipziger Buchdruckerei erschienen.