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Die Gleichheit
Nr. 15
den Zehnstundentag in Crimmitschau erklärten Arbeiterinnen öffentlich, der Streif gebe ihnen Gelegenheit, auch einmal ihren Kindern Mutter zu sein. Welch furchtbare Anklage das gegen die bürgerliche Gesellschaft! Nicht früher dürfen die Textil
Abschlagszahlung auf ihr Recht als Mütter erlangt haben.
Der zehnstündige Maximalarbeitstag fann aber natürlich mur eine Etappe auf dem Wege zum achtstündigen Normal arbeitstag sein. Diesen zu erreichen, find die Textilarbeiterinnen als Lohnsflavinnen des Kapitals, als Frauen und Mütter in gleicher Weise interessiert. Für die verheiratete Arbeiterin bearbeiterinnen ruhen, bis sie in Gestalt des Achtstundentags eine ginnt nach Beendigung der Tagesfron in Fabrik und Werks tatt im Haushalt ein neuer Arbeitstag, der oft genug bis in bie Nacht hinein währt. Die Sorge ums tägliche Brot, die die Frau zur Erwerbsarbeit zwingt, nötigt sie auch, ihre Kraft für bie Hauswirtschaft einzusehen. Dem Manne soll es gemütlich gemacht werden, damit er nicht außerhalb des Heims Her ftreuung suche, die Kinder bedürfen einer möglichst traulichen Stätte, wo fie sich geborgen fühlen, wo sie Verständnis und Pflege finden. Mit Aufbietung der äußersten Kräfte trachtet bie Frau diesen Anforderungen gerecht zu werden. Wie schwer bie Proletarierinnen an der doppelten Arbeitslaft zu tragen haben, spüren sie nur zu deutlich am frühzeitigen förperlichen Berfall. Der Achtstundentag würde für die Textilarbeiterinnen ein längeres Erhalten der Arbeitskraft, der Gesundheit, ja des Lebens selbst bedeuten, er käme damit nicht bloß ihnen, sondern auch der Gesamtheit zugute!
Als Trägerinnen und Erzieherinnen der fünftigen Genera tion, als Mütter haben die Textilarbeiterinnen ebenfalls den Achtstundentag zu fordern und zu erkämpfen. Das gesetzliche Verbot der Fabrifarbeit von Wöchnerinnen genügt bei weitem nicht zum Schutze der Mutterschaft und des nachwachsenden Geschlechts. In allen Branchen der Textilindustrie: am sausenden Webstuhl, an den schnurrenden Spindeln, in den Naß spinnsälen der Flachsspinnereien, in den staubgeschwängerten Hechelsäten: überall müssen die Arbeiterinnen in gesegneten Umständen" volle zehn Stunden des Tages fronen, obgleich ihre Muskeln und Nerven infolge der Schwangerschaft oft der Ausspannung bedürften. Sie dürfen nicht raften, dafür sorgen die Aufseher, die darüber zu wachen haben, daß jede Arbeitskraft voll ausgenutzt wird, daß der Profit des Unternehmers durch bie Schwangerschaft keinen Abbruch erleidet. Zu der Hatz des Betriebs kommen noch andere gesundheitsschädigende Wir fungen der kapitalistischen Ausbeutungswirtschaft, die insgesamt durch die Länge des Arbeitstags gesteigert werden und die Mutterschaft verhängnisvoll beeinflussen: das anhaltende Stehen, die permanente Erschütterung des Bodens durch die Maschinen, das Dehnen und Strecken des Körpers am Webstuhl und an der Spinnmaschine, der Aufenthalt in den dunsti gen, ftauberfüllten Räumen usw. Was der Organismus der Schwangeren dadurch leidet, tritt oft genug in lebenslangem Siechtum zutage und trifft das Kind unter ihrem Herzen. Doch was fümmert die Kapitalisten die höchste Weihe des Weibes, die Mutterschaft, wenn es sich nicht um ihre eigenen Frauen und Töchter, sondern um Proletarierinnen handelt? Die ungeheure Verwüstung an Volkskraft, verursacht durch die kapitalistisch ausgebeutete Arbeit der Frauen während der Schwanger schaft, drückt sich in den Zahlen der Früh, Fehl- und Tot geburten, der Säuglingssterblichkeit aus. Die Sterblichkeitsziffer der Kinder im ersten Lebensjahr beträgt in Textilbezirken 30 Prozent und darüber. Die furchtbaren Zahlen würden sinken, wenn der fürzere Arbeitstag die Gefahren minderte, welche die Gesundheit der Schwangeren bei der Arbeit bedrohen, wenn er den Müttern mehr Zeit ließe, sich der Pflege ihrer Kleinen zu widmen. Die von der Statistik ermittelten nackten Ziffern drücken aber nicht einmal die ganze Summe von Elend aus, welches die Mutterschaft der Proletarierinnen belastet. Die gramdurch furchten Züge der Textilarbeiterinnen sprechen eine um so beredtere Sprache. Die beste Begründung der Forderung des Achtstundentags in diesem Zusammenhang sind drei Tatsachen. Während des letzten Generalstreits in Schweden hat sich trotz der Entbehrungen die Gesundheit der Arbeiter gehoben. In Mülhausen i. Els. gewährten die Fabrikanten, um der ungeheuren Kindersterblichkeit zu steuern, den Müttern vor und nach der Entbindung eine Schutzzeit. Nach einem Jahre konnte ein ganz erheblicher Rückgang der Kindersterblichkeit in Textils arbeiterkreisen festgestellt werden. Zur Zeit des Kampfes um
Nicht nur als Arbeiterinnen, Mütter und Hausfrauen, sons bern auch als vorwärtsstrebende Menschen haben sie den Achtstundentag zu fordern! Längst haben sie eingesehen, daß sie, mitten im Daseinskampf stehend, Lücken in ihrem Wissen ausfüllen, Kenntnisse sich erwerben müssen, die sie befähigen, sich im Ringen gegen die Ausbeutung erfolgreich zu betätigen. Es tut ihnen Klarheit not über die Zusammenhänge des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens, das sie unweigerlich in seinem Strudel festhält. Sie müssen in der sozialpolitischen Gesetzgebung bewandert sein, die mit Arbeiterinnenschutz, Mutterund Säuglingsfürsorge usw. ihre Existenz so tief berührt. Die Ausplünderung der Massen durch den Zoll- und Steuerwucher schärft ihren Blick für die politischen Vorgänge, an denen sie als Staatsbürgerinnen und Klassenfämpferinnen interessiert sind. Trotzdem die Proletarierin im modernen Wirtschaftsleben eine Kraft geworden ist, welche für die Gesellschaft unschäzbare Werte schafft, verweigert man ihr als Frau die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Sie muß erfämpft werden, und dazu be darf es der Aufklärung, der Organisierung der arbeitenden Frauen. Die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden würde den Textilarbeiterinnen Zeit geben, sich in der gewerkschaftlichen und politischen Bewegung der Arbeiterklasse zu betätigen, dadurch ihre schlummernden Kräfte zu entwickeln und für den Befreiungskampf ihrer Klasse voll einzusetzen. Über die Gegenwart hinaus käme diese Entfaltung zur Geltung. Was die Frau als kämpfende Proletarierin an Kenntnissen und Reife des Charakters erwirbt, das kommt auch der Mutter, der Erzieherin zugute.-
Der Achtstundentag für die Arbeiterinnen muß die Ver kürzung der Arbeitszeit der Jugendlichen auf sechs Stunden täglich zur Folge haben. Welch ein Gewinn das für die Arbeiterjugend! Das Textilproletariat ist daran auf das stärkste interessiert. In der Textilindustrie wurden 1907 nicht weniger als 79749 Jugendliche von 14 bis 16 Jahren und 3749 Kinder unter 14 Jahren gezählt. In beiden Altersgruppen zeigt sich ein überwiegen des weiblichen Geschlechts. Wieviel kindliche, jugendliche Arbeitskraft geht in den Knochenmühlen der Textil fabriken zugrunde, weil der Organismus der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen den Anforderungen der Arbeit noch nicht gewachsen ist, unter ständiger Überanstrengung schwer leidet. Verkürzung des Arbeitstags besagt für die Jugendlichen ein Mehr an förperlicher, geistiger und moralischer Entwicklungsmöglichkeit.
Um der Jugend etwas Lebenssonnenschein zu verschaffen, müssen die Textilarbeiterinnen den Achtstundentag erkämpfen. Seine Einführung würde aber auch eine Verkürzung des Arbeitstags der Männer bedeuten. Ihre Arbeitszeit müßte sich derjenigen der Arbeiterinnen anpassen, da diese in der Textil industrie überwiegen. Die Geschichte des Zehnstundentags in England bestätigt das. In der Niederlausit wird am 1. Oktober d. J. der Einführung des gesetzlichen Zehnstundentags für die Arbeiterinnen der Zehnstundentag für die gesamte Arbeiterschaft folgen.
Das Textilproletariat hat früh die Bedeutung kurzer Arbeitszeit für die Arbeiterinnen, für die gesamte Arbeiterschaft erkannt. Es ist dafür je und je im Kampfe gestanden. Dant seinem unablässigen Ringen ist die Arbeitszeit von zwölf und noch mehr Stunden endlich auf zehn Stunden herabgesetzt worden. In Neumünster verlieren die Textilarbeiter 1888 den Kampf um den 10% stündigen Arbeitstag; 1896 tämpfen sie in Aachen und Kottbus dafür. 1890 treten in Mülhausen i. E. 24000 Lohnstlaven des Textilkapitals in einen Generalausstand, der den Arbeitstag von 12 auf 11 Stunden herabsetzt. 1899 müssen hier die Fabrikanten den 10% stündigen Arbeitstag bewilligen, seit 1906 besteht der Zehnstundentag in den Textilfabriken des ganzen Elsaß . 1905 bis 1906 erobern sich die Textilarbeiter des badischen Wiesentals den Zehnstundentag. An allen diesen