Nr. 16

Die Gleichheit

burten. Naturgemäß sind es die unehelichen Kinder, die das stärkste Kontingent dieser kleinen Todesopfer stellen. Von den 180000 Unehelichen, die nach den letzten Berechnungsperioden im Durchschnitt jährlich in Deutschland   geboren werden, fällt fast ein Drittel gegen 60000- im ersten Lebensjahr dem Würger zur Beute. Aber auch diese Opfer unserer traurigen sozialen Verhältnisse machen nicht das verstockte Gewissen der herrschenden Gewalthaber schlagen.

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Ein weiterer Beweis für die im Gefolge der Unterernährung zutage tretende Degenerierung des deutschen   Volkes ist der starke Rückgang der Militärtauglichkeit. Diese ist in dem Zeitraum von 1902 bis 1908 im Gesamtdurchschnitt um 4,3 Prozent ge­sunken. In dem agrarischen Ostpreußen   sogar um ungefähr 9 Prozent, in Schleswig- Holstein   um 5 Prozent, in der Rhein­proving um 4,9 Prozent. Es ergibt sich überhaupt aus den Feststellungen der letzten Jahre, daß die Schwächung der körper lichen Konstitution, die physische Entartung bei der landgebürtigen und landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung ständig zunimmt, während sie für das städtische Proletariat vielfach gehemmt wird. Der hauptsächlichste Grund dieser Erscheinung liegt darin, daß die städtischen Proletariermassen mit Hilfe ihrer gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der durch die fapitalistische und agrarische Ausbeutung herbeigeführten ab­soluten Verelendung auf verschiedenen Gebieten erfolgreich ent­gegenwirken können, während ihr die Masse der ländlichen Be­völkerung noch widerstandsloser preisgegeben ist.

Ein Arzt, Dr. med. J. Kaup, hat in einer Schrift Ernährung und Lebenskraft der ländlichen Bevölkerung" eine Fülle von Tatsachen zusammengestellt, die beweisen, daß die Lebenskraft der ländlichen Bevölkerung durch den Rückgang in den Er­nährungsverhältnissen immer stärker untergraben wird. Es zeigt sich, daß in den ländlichen Kreisen nicht nur die Militäruntaug lichkeit rascher steigt wie in den Städten, sondern daß auch der Rückgang der Säuglingssterblichkeit bedeutend geringer ist. Diese fiel in dem Zeitraum von 1876/80 bis 1908 in den Städten um 5,4 Prozent, auf dem Lande nur um 1,7 Prozent. Die Sterblichkeit der Altersgruppen vom 5. bis 20. Lebensjahr ist bei der Landbevölkerung ebenfalls wesentlich höher. Außer der minderwertigen Ernährung ist das wohl auch der vorzeitigen Inanspruchnahme der Jugend für die schweren landwirtschaft. lichen Arbeiten zuzuschreiben.

Bei der Verschlechterung der Ernährung auf dem Lande spielt besonders die Milchentziehung durch die Molkereien die nachteiligste Rolle. Die Landbesitzer, auch die kleinsten, ver­faufen die Vollmilch an die Molkereien und erhalten dafür Magermilch, die natürlich ebensowenig wie die anderen Surros gate, dünner Kaffee, Wassersuppen usw., einen gleichwertigen Ersatz für die Vollmilch darstellt. Das macht sich wiederum bei der Ernährung von Säuglingen am deutlichsten fühlbar. Dr. Raup erbringt auch für diese traurigen Tatsachen ein reich haltiges Beweismaterial. So schreibt ein Arzt aus dem Kreise Rosenberg( Westpreußen  ): Ich hege die Befürchtung, auch wenn ich den Beweis nicht erbringen kann, daß eine Zunahme der Molkereien zu einer offenkundigen Unterernährung führt oder schon geführt hat. In manchen Bauerndörfern findet sich eine ganze Reihe blutarmer, schlecht ge nährter Kinder. Aus dem Kreise Neustadt wird berichtet: Die Bevölkerung ist unterernährt und überarbeitet, schon die Schulkinder. Die Kinder sind viel frank, dann werden Mehle   und andere Surrogate verabreicht. Der Kinder­reichtum ist groß, groß ist aber auch die Sterblichkeit. Aus der Landschaft Angeln( Kreis Flensburg  ) berichtet ein Arzt: Es ist bedauerlich, daß sich in den letzten 20 bis 30 Jahren ein großer Umschwung zum Schlechteren vollzogen hat, der insbesondere die landwirtschaftlichen Arbeiter, in erster Linie die Säuglinge, aber auch die heranwachsen den Kinder und die Frauen der Arbeiterfamilien trifft.... Die alte Voltsernährung mit Milch und Grüße ist ausgeschaltet, Surrogate wie Kaffee mit Bäckerbrot sind an deren Stelle getreten.... Diese Familien müssen alle Nahrungsmittel teuer bezahlen. Die schlechteren Ernährungsverhältnisse ver­

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ursachen eine besondere Häufigkeit von Tuberkulose. Ein Lehrer aus dem südlichen Teile Schleswigs   erklärt: Nicht einmal die Kinder erhalten süße Milch. Die Ernährung der kleinen Leute, der Kätner und auch mancher Bauern ist teil­weise recht mangelhaft. In der Schule sind oft schlecht aus. sehende Kinder zu finden.

In der Rheinprovinz   sieht es nicht weniger traurig aus. So wird aus Aachen   geschrieben, daß die Ernährung des Volkes zurückgehe, da man den Wert der Milchernährung nicht ver­stehe, daß man Milch für unnötig, für Lurus" erachte. Die Bevölkerung verliere an Gesundheit und Kräfte­zustand, weil die Kinder zu früh in die Fabrik müssen.

Aus dem Kreise Grevenbroich   heißt es: Seit Einführung der Molkereien( 10 Jahren) hat der Milchverbrauch für Kinder und Erwachsene abgenommen; der Butter­konsum ebenfalls. Es werden viel Surrogate benutzt. Rachitis ist sehr verbreitet. Aus Bergisch- Gladbach  : Fleisch wird von der Bevölkerung meist nur an Feiertagen und Kirmessen verzehrt. Die Milch wird weit und breit von Händlern aufgekauft und nach größeren Orten verkauft, so daß die Ernährungsverhältnisse der Landbevölkerung recht ärmliche sind.

Bayern  , Württemberg und Thüringen   zeigen dasselbe Elends. bild. So wird aus Weilheim  ( Oberbayern  ) geschrieben: Die bäuerliche Kost im allgemeinen ist entschieden nicht besser ge­worden. An Stelle von Milch, Butter und Schmalz sind schlechtere Surrogate und das Flaschenbier getreten. Die Kindersterblichkeit im Bezirk ist eine hohe, die Stillfähigkeit eine geringe. Man begegnet in vielen Landschulen bleichen, blutarmen und schlecht genähr ten Kindern.

In einem Bericht aus Schwabmünchen  ( Schwaben  ) heißt es: In den 28 Schulen des Bezirks wurden 1908 3831 Kinder untersucht. Bei 11 Prozent würde Blutarmut  , bei 1 Pro­zent ein auffallend schlechter, bei 60 Prozent ein mittelmäßiger Ernährungszustand festgestellt. Der Grund hierfür liegt in der unzweckmäßigen Ernährung. Statt einer Milchsuppe, namentlich am Abend oder am Morgen, erhalten die Kinder eine Suppe aus Schwarzbrot mit Wasser gekocht. Bei dieser Ernährung ist es kein Wunder, wenn die körperliche Entwicklung der Kinder langsam und mangelhaft fortschreitet. Nur bei 28 Prozent der Kinder wurde eine gute, bei 61 Prozent eine mittelgute und bei 5 Prozent eine direkt schlechte Körperbeschaffen­heit festgestellt. Ein Urteil aus Sachsen- Koburg- Gotha lautet: Schwächliche Konstitutionen, schleichende Krankheiten, besonders auch Krebs, viele Frauenleiden, Mattigkeit des Körpers, damit zusammenhängende geringe In­itiative, die Wirtschaft immer intensiver zu betreiben, das alles der gesteigerten Arbeit Herr zu werden hängt zum nicht geringsten Teile mit der tatsächlichen, bis auf die ersten Jahre der Kindheit zurückgehenden Unterernährung zusammen.

Einzelne Berichte weisen auch noch auf die Überbürdung der Frauen mit schwerer gesundheitschädigender Arbeit hin als auf eine der Ursachen für die Degeneration der ländlichen Nach­kommenschaft. So heißt es in einer Notiz aus Westpreußen  : In den landwirtschaftlichen Betrieben pflegen die Frauen häufig bis kurz vor der Entbindung ihre Ar­beit zu verrichten und dieselbe bald nach der Entbin dung wieder aufzunehmen, trotzdem diese Arbeiten im all­gemeinen anstrengender für sie sind als die in den industriellen Betrieben, nach denen sich die Frauen zum Teil aus diesem Grunde sehnen. Aus Schleswig- Holstein   kommt folgendes Urteil: Die Säuglingsernährung hat sich durch Abnahme des Selbststillens der Mütter verschlechtert. Teils wollen die Frauen sich nicht durch das Stillen ans Haus fesseln lassen, teils besteht physisches Stillunvermögen. Ferner erklärt Grunenberg in seiner Schrift Die Landarbeiter in Schleswig- Holstein  ": Die Frauen, besonders im ländlichen Arbeiterstand, sind in bedauernswerter Lage. Die kraftstrogen­