Nr. 20

Die Gleichheit

einziges Nichtmitglied festgestellt habe. Trotzdem versicherte der Beamte, daß ein Herr Schnell dort war, der ihm bestimmt als Nichtmitglied bekannt sei, was er auch nachweisen könne. Gegen den Widerspruch des Verteidigers, der die gesetzliche Unzulässigkeit betonte, beschloß das Gericht die Verlesung des Berichts, den der Kommissär über den Verlauf der Versammlung niedergeschrieben hatte. Der Bericht war ein Dokument polizeilicher Wahrheitsliebe und Intelligenz. Neben der interessanten Feststellung: August, wie hast du dir verändert", enthielt er die wahrheitswidrige Behaup­tung, der Referent, Genosse Crispien, habe gesagt: Wir haben auch eine Verteilung von Flugblättern in den Kasernen ins Auge gefaßt, aber sie nicht ausgeführt." Der Verteidiger beantragte die Vernehmung des Parteisekretärs Crispien zum Beweis, daß nur eine Mitgliedersammlung stattgefunden hat. Ohne jeden rechtlichen Grund erklärte hierauf der Vorsitzende:

,, Soll ich einen Mann als Zeugen eidlich vernehmen, der einer Partei angehört, für die Staat und Gericht nicht eristiert, und die offen erklärt, daß solch ein Eid gar nicht bindet? Wie soll ich das als preußischer Be amter tun?"

Rechtsanwalt Rosenbaum erwiderte, daß eine Beurteilung der Zeugen nach ihrer Parteistellung ungefeßlich sei. Die Strafprozeß­ordnung kenne sie nicht. Die Unterstellung aber, daß ein Zeuge wegen seiner politischen überzeugung wissentlich die Unwahrheit sagen würde, sei unerhört. Er protestiere entschieden dagegen. Der Vorsitzende wies diese in der Form ruhige und sachlich unantast­baren Ausführungen als unzulässig zurück. Er behauptete, der Ver­teidiger habe ihn persönlich angegriffen. Er hätte nicht behauptet, daß Crispien absichtlich die Unwahrheit sagen würde. Er meinte nur: ob das Gericht dem Zeugen glauben könne. Darauf hin stellte der Verteidiger fest: Der Vorsitzende habe gesagt, der Zeuge gehöre einer Partei an, die den Staat verneine und den Eid nicht als bindend anerkenne. Die sozialdemokratische Partei habe eine solche Erklärung niemals abgegeben. Wer das Gegenteil be­haupte, der müsse auch den Beweis für die Richtigkeit führen. Vor­sitzender: Wenn Gerichtsnotorität vorliegt, so liegt sie eben vor! Ich habe dann feine Veranlassung, mich auch über die Quellen zu äußern." Der Verteidiger erwiderte: Die private Meinung des Vorsitzenden beweise gar nichts, wenn sie nicht durch Quellenangabe gestützt werde. Gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen spreche gar nichts. Gefeßlich sei die moralische Wertung der Staatsbürger nach ihrer Parteistellung nicht zulässig. Sonst wären ja Millionen deutscher Staatsbürger als Sozialdemokraten aus dem Rechtsleben ganz ausgeschlossen." Der Vorsitzende erklärte, daß ihm diese Logik nicht einleuchte. Er habe nur sagen wollen, die Glaubwürdigkeit des sozialdemokratischen Zeugen stehe nicht so fest, wie die anderer Zeugen, weil es sich um einen politischen Prozeß handle. Das Ge­richt beschloß gegen die Meinung des Vorsitzenden die Bernehmung Crispiens. Bemerkenswert ist es, daß der Vorsitzende diesem die Mahnung zurief:" Der Staat wird Sie mit Zuchthaus bestrafen, wenn Sie nicht die Wahrheit sagen." Crispien bestätigte, daß es sich nur um eine Mitgliederversammlung handelte und stellte fest, daß Schnell, entgegen der Angabe des Polizeikommissärs, politisch organisiert ist. Der Amtsanwalt beantragte nunmehr ohne Begrün­dung die Erhöhung der Strafe auf 40 Mt. Geldstrafe oder acht Tage Haft. Der Verteidiger plädierte auf Freisprechung. Nach kurzer Beratung wurde die Beweisaufnahme wieder eröffnet. Der Kom­missär solite sich darüber äußern, ob die Partei öffentliche Versamm lungen abhalte, ohne sie der Polizei zu melden. Der Beamte er­klärte, das halte er für sehr wohl möglich, wenn er auch darüber nichts wisse, versucht werde von der Partei eben alles! Auf das Verlangen des Verteidigers, diese Behauptung zu beweisen, fiel der Borsigende ein, der Kommissär sei dem Verteidiger darüber feine Rechenschaft schuldig. Vom Verteidiger weiter in die Enge getrieben, meinte darauf der Kommissär, das allgemeine Verhalten der sozialdemokratischen Partei beweise seine Behauptung! Im schroffen Widerspruch zu dem Auftreten des Vorsitzenden sprach das Gericht Genoffin Broßwiß frei. Der Vorsitzende leitete die Urteilsverkündigung mit der drohenden Erklärung an die Zuhörer ein, daß jeder sofort einen Tag ins Loch fliege, der sich auch nur eine zustimmende oder abfällige Bemerkung erlaube. Die Frei­sprechung wurde mit der Feststellung begründet, daß es sich tat­sächlich um eine Mitgliederversammlung gehandelt habe.

Der für den Assessor Warmbrunn und die Polizei so bla­mabel ausgegangene Prozeß scheint noch ein Nachspiel erhalten zu sollen. Genosse Crispien hatte in der Verhandlung entgegen der Behauptung des Polizeikommissärs Günther festgestellt, daß Schnell sozialdemokratisch organisiert ist, worüber der Beamte auf­fällig erstaunt war. Nunmehr erschien gleich nach dem Prozeß die

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Polizei zu dreien Malen in der Schnellschen Wohnung und verlangte von Genossen und Genoffin Schnell zu wissen, ob und seit wann sie im sozialdemokratischen Verein organisiert seien. Ferner wurde die Vorlegung der Mitgliedsbücher gefordert, weil diese für das Meineidsverfahren gegen Crispien notwendig seien. Und schließlich suchte die Polizei immer wieder zu erfahren, ob Schnell und seiner Frau in der Versammlung anwesende Nichtmitglieder bekannt seien. Auch bemühte sich die Polizei, Genossin Schnell in Abwesenheit ihres Mannes auszuforschen. Jedesmal wurde Genossen und Genossin Schnell die beruhigende Zusicherung gegeben, ihr Name würde nicht genannt und sie würden feinerlei Ungelegen­heiten haben. Doch blieb alle Liebesmühe der Löblichen vergebens. Sollte wirklich ein Meineidsprozeß eingeleitet werden, so würde das die Umsetzung der Warmbrunnschen Theorie in die Praxis und eine neue Niederlage der Behörden bedeuten. Die Danziger Polizei hat in letzter Zeit so wenig Seide vor Gericht gesponnen, daß sie sich doch etwas mehr Zurückhaltung auferlegen sollte. Aber schließlich muß sie ja aus langjähriger Erfahrung am besten wissen, durch welche Mittel die Sozialdemokratie am wirksamsten gefördert wird. b.

Politische Rundschau.

Einen schweren Kampf hat die österreichische Sozial. demokratie in Ehren bestanden. Am 13. Juni haben in Öster reich die Reichsratswahlen stattgefunden, die zweiten Wahlen unter dem allgemeinen gleichen Wahlrecht. Die ersten waren ein Triumph der Sozialdemokratie aller Zungen des bunten Natio­nalitätenstaats. 87 Mandate brachte sie aus den Haupt- und Stich­wahlen des Mai 1907 heim, ein Erfolg, der alle Erwartungen übertraf. Er war erstens dem außerordentlichen Ansehen geschuldet, das der siegreiche Kampf ums gleiche Wahlrecht der Sozialdemo tratie bei den Scharen der politisch sonst gleichgültigen, noch nicht zu einer bestimmten Partei gehörenden Wählern verschafft hatte, und zweitens der großen Uneinigkeit der bürgerlichen Parteien, die eben dieser Wahlrechtskampf zertlüftet hatte und die sich auf dem Kampsboden des gleichen Wahlrechts zum Teil noch fremd fühlten. Die meisten dieser günstigen Umstände fielen diesmal fort, dafür stellten sich besondere Schwierigkeiten dem Wahlkampf der Sozial­demokratie in den Weg. Die überschäumende Begeisterung, womit vornehmlich die politisch noch ungeschulten und unentschiedenen Wähler das gleiche Wahlrecht und das Volkshaus begrüßt hatten, war einem bösen Razenjammer gewichen, die Hoffnungen, die man auf das Parlament des demokratischen Wahlsystems gesetzt hatte, waren bitter enttäuscht worden. Der Nationalitätenstreit war nicht zurückgedrängt, die Arbeitsfähigkeit der Volksvertretung nicht ge= wahrt, der Absolutismus  , das Regieren ohne Parlament vermittels. des§ 14 der Verfassung nicht beseitigt worden. Und an sozial­politischen Reformen war das erste Haus des allgemeinen Wahl­rechts unfruchtbar gewesen. An all dem trug freilich die Sozial­demokratie feine Schuld, aber die politische Mißstimmung, die alle diese Enttäuschungen hervorriefen, mußte auch sie schädigen. Dazu fam, daß die von der Größe des sozialdemokratischen Wahlerfolgs erschreckten bürgerlichen Parteien sich inzwischen gesammelt und ihre Organisationen den Bedingungen des neuen Kampfbodens angepaßt hatten. Und endlich hatte der unselige Gewerkschaftsstreit die Reihen der tschechischen Sozialdemokratie zertlüftet und auch in gewissem Maße auf die deutsche Partei, namentlich in Böhmen  , zurück­gewirkt. Kurz, unsere österreichischen Genossen fochten diesmal unter erschwerten Bedingungen, und es war wohl zu verstehen, daß in ihren Reihen Zweifel auftauchten, ob es ihnen gelingen werde, die Stellung von 1907 zu halten, sowohl in bezug auf die Man­date als auch die Stimmen.

Die Stimmen sind für die Sozialdemokratie stets das Entschei­dende in den Wahlkämpfen. Sie schätzt den Parlamentarismus nicht so hoch ein, als daß sie in Mandatseroberungen das erste und letzte Ziel des Kampfes erblickte. Außerdem ist der Mandats­besitz bei den Mängeln des einfachen Mehrheitswahlrechts und der Wahlkreiseinteilungen in großem Maße von außerhalb der Macht der Partei liegenden Umständen abhängig, unter anderem von der wechselnden Gruppierung der bürgerlichen Parteien, so daß die Zahl der Mandate aus diesen Gründen meist nicht der richtige Ausdruck für die Stärke der Partei bildet. Einen besseren Maß­stab ihrer Ausbreitung in der Bevölkerung liefert die Stimmenzahl. Gine proletarische Partei, die nicht in erster Linie von den Reden und Anträgen ihrer Abgeordneten, sondern von dem Druck der hinter diesen stehenden Massen Erfolge zu erwarten hat, kann au Mandaten zurückgehen und doch au Stärke zunehmen, wenn die Zahl ihrer Wähler und vor allem die Zahl ihrer Mitglieder wächst.