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Die Gleichheit

Butter mußte statt mit 3 Fr. mit 3,70 Fr. und sogar mit 4 Fr. bezahlt werden; die Bohnen stiegen von 25 Gent. pro Pfund auf 80 Cent., das Dutzend Eier schlechtester Qualität stand jetzt 1,40 Fr. im Preise, obwohl früher die besten Eier nur mit 1,10 Fr. be zahlt worden waren; ein Brot, das 56 bis 60 Cent. fostete, wurde zu 85 Cent. verkauft. In gleichem Verhältnis waren auch die Preise für Fleisch und die übrigen Lebensmittel ges stiegen. Was konnten, was sollten die Hausfrauen beginnen?

Als die Hausfrauen von Maubeuge  , einem Zentrum der französischen   Metallindustrie, an einem hellen Augustlage auf den Markt kamen, fanden sie, daß die Preise noch mehr in die Höhe gehen sollten. Da ist es die Verzweiflung der Mütter, die ihrer hungernden Kinder gedenken, welche die Frauen zum Protest aufpeitscht. Sie brechen zusammen in den Ruf aus: Es ist zu teuer geworden!", ein Ruf, der bald als Refrain eines Liedes durch Städte und Dörfer wandert. Die Haus­frauen von Maubeuge   belagern die Markthändler, und die " Internationale" anstimmend, ziehen sie durch die Stadt. Rasch wird ein Komitee der Hausfrauen zur Veranstaltung von Kund­gebungen gegen die Teuerung gebildet. Eine Deputation wendet sich an den Bürgermeister von Maubeuge   und fordert, daß er zur Regelung der Lebensmittelpreise eingreift. Wie eine Lawine wälzt sich die Bewegung von Stadt zu Stadt, verbreitet sich vom Norden aus nach dem Süden und Westen und reißt schließlich das Herz Frankreichs  " Paris  - mit fort. Die bürgerliche Gesellschaft hat zum Gruße Schimpfworte für die frechen Amazonen", für die Frauen der Arbeiterklasse, die es versuchen, durch Entschlossenheit, Opfermut und Einigkeit die " Hundeexistenz" der Arbeiterfamilie zu bessern. Wenn die Männer nicht für höhere Löhne kämpfen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als für billigere Lebensmittel einzutreten," sagte mir eine zielbewußte Proletarierin.

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In Maubeuge  , Roubaix  , St. Quentin, Lille, Rouen  , Reims  , Havre  , Brest   usw. finden großartige Straßendemonstrationen mit 5000 bis 8000 Teilnehmerinnen statt. Frauen sind es, die rote Fahnen und Plakate herumtragen mit den Forderungen: Regelung der Lebensmittelpreise! Heraus mit dem Tarif!" Milch zu 20 Cent. das Liter! Butter zu 1,50 Fr. das halbe Kilo!" usw. Revolutionäre Lieder ertönen unaufhörlich. Überall und immer wieder der Ruf: Es ist zu teuer geworden!" Über­füllte Versammlungen der Frauen, öfters auch unter freiem Himmel, tommen zustande. Zur Annahme gelangen Resolu­tionen, in denen der klassenbewußte Geist der demonstrierenden Proletarierinnen deutlich zu spüren ist. Fast allerorten werden Komitees und Vereine zur Regelung der Lebensmittelpreise und zur Bekämpfung der Teuerung des Lebensbedarfes gebildet. Als Rednerinnen treten nun scheue, bescheidene Hausfrauen auf, die noch vor einer Woche kaum eine Silbe vor cinem Bublifum zu sprechen gewagt hätten. Jetzt haben sie den Mut, auf dem Marktplatz zu Hunderten und Tausenden zu reden. Die Arbeiterbevölkerung begrüßt die mutigen Kämpferinnen mit Blumensträußen. Die organisierte Arbeiterschaft, Gewerkschafter und Parteimitglieder, unterstützen die Protestbewegung und halten sie in Fluß. Besondere Förderung erhält diese von er­werbstätigen Proletarierinnen, von den Tertilarbeiterinnen und Tabatarbeiterinnen. Staat, Kommune, so wird gefordert, sollen die Preise der Lebensmittel regeln. Zwei Forderungen treten Zwei Forderungen treten überall in den Vordergrund: Erhöhung der Löhne und gründ­liche Reform beziehungsweise Aufhebung der Einfuhrzölle auf Lebensmittel. In vielen Orten wird der 24 stündige Protest­streit gegen die Teuerungspreise proklamiert. Als in Ferrères die Männer ihr Wort brechen, einen 48 stündigen Proteststreit durchzuführen, und sich in die Betriebe begeben, erscheinen die Arbeiterfrauen mit roten Fahnen und zwingen die Männer, die Arbeit einzustellen.

Wahrhaftig, das Elend muß einen hohen Grad erreicht haben, damit die schüchternen Hausmütterchen" zu solch energi­schem Auftreten gezwungen waren. Wahrhaftig, die Lage muß unerträglich geworden sein, damit sich die Mütter überwanden, mit leerem Korbe ins Haus zurückzukehren, wo die hungrigen Kleinen sehnsüchtig auf das Mittagbrot warteten. Die Haus­

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frauen boykottierten nämlich die Marktfrauen und Händler, welche die Preise nicht herabsetzen wollten. Sogar Milch wurde nur noch für franke und schwächliche Kinder gekauft, und es kam vor, daß in einigen Orten bloß 150 Liter davon abgeholt wurden, während doch sonst 4000 verkauft worden waren. Die Milch konnte den Schweinen gefüttert werden. Nur die ent­schlossene, ausdauernde Haltung der Arbeiterfrauen zwang all­mählich die Händler zur Nachgiebigkeit.

Der Opfermut und die Kampfestüchtigkeit der proletarischen Hausfrauen wurde durch das Eingreifen der Klassenregierung auf die Probe gestellt. Kaum war die Bewegung im Flusse, als die französische   Regierung zu den äußersten Mitteln griff, um sie zu ersticken. Polizisten, Gendarmen und selbst Soldaten wurden gegen sie mobil gemacht. Die kleine Stadt St. Quentin erhielt drei Regimenter Einquartierung, sogar die Artillerie ward bereit gehalten. Die Marokkoaffäre schien vergessen zu sein, unter den Fenstern der Bourgeois stand der innere Feind", repräsentiert durch die hungernden, verzweifelten Ar­beiterfrauen. Der Notschrei der Demonstrierenden: Wir und unsere Kinder sterben vor Hunger!" verkündete allzu öffentlich die wachsende Misere der proletarischen Bevölkerung des reichen Frankreichs  .

Fast in allen Orten, wo Kundgebungen gegen die Teuerung stattfanden, kam es zu gewalttätigen, blutigen Zusammenstößen. Die Bajonette der bürgerlichen Republik   richteten sich gegen die Brust waffenloser Proletarierinnen. Kinder und Frauen wur­den verwundet. Kein Tag verging ohne Verhaftungen. Männer und Frauen wurden vor die Tribunale der republikanischen Klassenjustiz geschleppt und müssen mit vierzehn Tagen bis sechs Monaten Gefängnis die Schuld büßen, daß sie das wachsende Elend bekämpfen wollten. Haussuchungen, besonders bei So­zialisten, fanden statt. Sogar Arbeiterkonsumvereine blieben nicht verschont. Die Polizei bewies, wozu sie da ist: der bürger­lichen Gesellschaft Ordnung und Ruhe zu schaffen! Die Be wegung zählt Hunderte von Verwundeten und Verletzten, in Roubaix   gab es sogar Tote. Und das, obgleich selbst die bürger­liche Presse zugestehen muß, daß die Bewegung der Hausfrauen und ihre Protestkundgebungen gegen die Teuerung keinen An­laß zu brutaler Niederknüppelung gegeben hatten.

Freilich war es hier und da zu einigen gewalttätigen Vor­gängen gekommen, wie bei allen Volksbewegungen, wenn die Atmosphäre besonders erhitzt ist. Fenster waren eingeworfen, Läden geplündert, Händler gemißhandelt, Auslagen demoliert worden. Aber die Arbeiterfrauen konnten vor der Öffentlich­feit mit Recht behaupten, daß sie mit diesen Gewalttaten nichts zu tun hatten. Was war das Ärgste, das sie sich hatten zu­schulden kommen lassen? In ihrer Erregung hatten sie in dem einen oder anderen Orte auf dem Markte ein paar Körbe Eier oder Gemüse umgestürzt oder einer Milchhändlerin, die absolut nichts von niedrigeren Preisen hören wollte, ihre Milch über den Kopf gegossen. Man könnte eher erstaunt sein, daß trog der allgemeinen Empörung und trotz des leidenschaftlichen Temperamentes der Franzosen   die Kundgebungen gegen die Teuerung ohne ernste Ruhestörungen abgelaufen sind. In Mau­ beuge   hatten die Demonstrantinnen selbst eine Miliz zur Auf­rechterhaltung der Ordnung gebildet. Aber was half es? Die Protestbewegung der Hausfrauen war eine zu offene Anklage gegen die Klassenpolitik, die auch die Regierung der franzö­fischen Republik treibt. Daher Einschüchterung und Niederknütte­lung der ungebärdigen Demonstrierenden. Als die Bewegung Paris   ergriff und die Hausfrauen der historischen Faubourgs" ( alte Vorstädte, Arbeiterviertel  ) auf den Märkten erschienen, um gegen die Teuerungspreise zu protestieren, war es der Polizei­präsident der Hauptstadt in Person, Lépine, ein würdiger Bruder Jagows, der sich von Polizisten und Gendarmen um­ringt auf den Kampfplatz", das heißt auf den Markt begab. Hier war er bereit, sans merci, ohne Sentimentalität", ohne Gnade und Barmherzigkeit den Ruhestörerinnen" entgegenzu­

treten....

Vor der entschlossenen Haltung der Hausfrauen mußten je­doch am Ende die Gewalten des Klassenstaats kapitulieren.