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Die Gleichheit
letter Instanz eine Volksabstimmung entscheidet. Die Frauen schicken sich an, durch eine ausgedehnte rührige Agitation einen vollen Sieg zu erringen.
Fürsorge für Mutter und Kind.
Die unentgeltliche Geburtshilfe in der Schweiz . In der Stadt Zürich wurde am 24. September durch Volksabstimmung die vorgeschlagene Verordnung über die unentgeltliche Geburtshilfe mit 11759 gegen 7102 Stimmen angenommen. Die wichtige Verordnung lautet:„ Die Stadt Zürich leistet an die Kosten der Erweiterung der kantonalen Frauenklinik einen Beitrag von 440 000 Franken. Wöchnerinnen, die seit mindestens einem Jahre ununterbrochen in der Stadt niedergelassen sind und deren Familien vermögenslos und auf ein Einkommen von nicht mehr als 2000 Fr. angewiesen sind, haben Anspruch auf unentgeltliche Verpflegung in der kantonalen Frauenklinik oder auf Ersatz der Hebammenkosten in der Höhe der staatlichen Hebammengebühr, und bei patholo gischen Geburten auch auf Ersatz der Arzt- und Arzneikosten. Ausnahmsweise können diese Leistungen, wo ein höheres Einkommen vorhanden ist, aber die wirtschaftliche Lage der Familie es rechtfertigt, ebenfalls gewährt werden."
Ungleich länger als dieser Text ist die beigegebene Begründung zur Verordnung. Aus ihr erfährt man zunächst, daß bereits im Dezember 1905 ven sozialdemokratischer Seite im Großen Stadtrat( Stadtverordnetenversammlung) ein Antrag zur Einführung unentgeltlicher Geburtshilfe gestellt und auch angenommen wurde. Es hat also sechs Jahre gedauert, bis die Forderung endlich Erfolg hatte. In der Begründung des erwähnten sozialdemokratischen Antrags war darauf hingewiesen worden, daß für zahlreiche Fas milien des städtischen Proletariats die Geburt eines Kindes ein folgenschweres Ereignis ist. Der Zustand der niederkommenden Mutter verursacht Störungen im Haushalt, denen oft nicht abgeholfen werden kann. Armselig, oft geradezu elend sind die Verhältnisse, unter denen die Entbindung vor sich geht. Nicht selten fehlt es an den Mitteln, um der entkräfteten Mutter entspres chende Nahrung zu reichen. Von alledem und anderem noch abgesehen, sind viele Familien überhaupt nicht imstande, die Kosten einer Entbindung zu tragen. Häufig ist es nicht zu vermeiden, daß die Hebammengebühr durch die Heimatgemeinde bezahlt wer den muß, und das kann unangenehme Folgen für die betreffende Familie haben. Deshalb sei es eine soziale Forderung, so erklärte der Antrag, daß die Kosten der Entbindung von der Gesamtheit Staat und Gemeinde übernommen würden, ohne daß diese Beihilfe als Armenunterstützung betrachtet werden dürfe. Die unentgeltliche Geburtshilfe sei von ebenso großer, wenn nicht noch von größerer Bedeutung als die unentgeltliche Beerdigung, die an vielen Orten eingeführt worden ist.
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In der zur Annahme gelangten Vorlage ist diese Begründung als durchaus berechtigt anerkannt worden. Es wird in ihr des weiteren ausgeführt, daß sogar manche Familien mit einem foge nannten schönen Verdienst" des Vaters durch Entbindungen wirt schaftlich in große Verlegenheit kommen, namentlich wenn der Kindersegen sich oft erneuert. Eine gute Geburtshilfe, die den Ans forderungen der Gesundheitspflege entspricht und auch dem Ärmsten zugänglich ist, gehört in der Tat zu den öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen, welche der Staat beziehungsweise die Gemeinden im Interesse der Allgemeinheit schaffen sollten. In diesem Sinne kann die Geburtshilfe gar wohl in Parallele gestellt werden mit anderen sozialen Institutionen und Maßnahmen, welche gewisse Lasten den einzelnen abnehmen und auf die Schultern der Gesamtheit legen, wie unentgeltlicher Unterricht in der Volksschule, Lernmittelfreiheit, unentgeltliche ärztliche Behandlung, unentgeltliche Bestattung, un entgeltlicher Arbeits- und Wohnungsnachweis und dergleichen.
Die Begründung der Vorlage durch den Stadtrat enthält auch eine Übersicht über die Orte der Schweiz und des Auslandes, wo die unentgeltliche Geburtshilfe bereits gewährt wird. Es gereicht der deutschen Sozialdemokratie zur Ehre, daß Offenbach a. M. als der Ort angeführt ist, wo dant unseren Genossen zuerst die unentgeltliche Geburtshilfe eingeführt wurde. Sie besteht in der Auszahlung von 15 Mt. aus der Stadtkasse zur Bestreitung der Heb. ammengebühr; der Beitrag darf nicht als Armenunterstüßung betrachtet werden. In der Schweiz war es die kleine Gemeinde Gräfstall bei Winterthur , die zuerst die Gewährung von Wochenhilfe im Betrag von 25 Fr. an die Hebamme und weiteren 15 Fr. für eventuellen ärztlichen Beistand einführte. In Neuenburg zahlt die Stadtkasse 15 Fr. für jede Entbindung, wenn die Kosten nicht von anderer Seite gedeckt werden. Die Stadtkasse in Aarau gewährt 25 Fr. für jede Geburt, wenn die Wöchnerin mindestens
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ein Jahr in der Stadt wohnhaft ist. Im Jahre 1910 wurden für diesen Zweck 3000 Fr. ausgegeben. Die Stadt Zug unterhält eine fleine Gebäranstalt mit zwei Betten für arme Frauen, und außerdem zahlt sie die Hebammengebühr. Die bezügliche Jahresausgabe ist auf 3050 Fr. berechnet. Die kantonale Gebäranstalt in Lau sanne nimmt jährlich etwa 400 Frauen aus unbemittelten Fa milien unentgeltlich auf, die Kosten werden vom Staate getragen. Im Kanton Tessin besteht ein Gesetz, nach dem die Gemeinden für die Kosten der Geburtshilfe auftommen müssen. In der Stadt Zofingen wird die Hebammengebühr mit 25 Fr., bei Zwillingen mit 30 Fr. aus der städtischen Kasse bezahlt.
Das sind noch bescheidene Anfänge, aber immerhin Anfänge von grundsäglicher Bedeutung, welche die praktische Durchführbarkeit der Forderung ohne den„ finanziellen Ruin" der Gemeinde oder des Staates erweisen. Die Stadt Zürich mit ihren 185 000 Ginwohnern ist allerdings die größte Gemeinde, die sich zu der Neuerung entschlossen hat, und die dafür auch die größte Summe aufwenden will, eine einmalige Ausgabe von 440 000 Fr.- also nahezu eine halbe Million und eine dauernde Jahresausgabe von fast 100 000 Fr.( 92560 Fr.). Angenommen sind 2000 Geburten in der Frauenklinik und 400 Hausgeburten.
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Gegen den Gedanken der unentgeltlichen Geburtshilfe hatten sich schon im Großen Stadtrat Ärzte gewendet. Dieselben Ärzte waren es auch wieder, die im Hinblick auf die Entscheidung durch die Voltsabstimmung die Opposition führten. Es war die kurzsichtige bürgerliche Erwerbsgier, die sie die vorgeschlagene neue Einrich tung bekämpfen ließ. Trotz einer zähen Gegnerschaft hat die Forde rung der unentgeltlichen Geburtshilfe gesiegt. Die Demokraten und Liberalen sind zwar ebenfalls wie die Sozialdemokraten offiziell dafür eingetreten, nichtsdestoweniger aber sind die 7102 Neinsager so gut wie ausschließlich von den bürgerlichen Schichten gestellt worden. Auch die Einführung der unentgeltlichen Geburtshilfe durch die Stadt Zürich ist im legten Ende eine Frucht der positiven Arbeit der Sozialdemokratie, die in der Schweiz wie überall im Vordertreffen steht, wenn es Reformen zugunsten der breiten werktätigen Volksmassen gilt.
Die Frau in öffentlichen Aemtern.
Z.
Keine Frau aus dem Volke zu der Mannheimer Volks. schulkommission. In Nr. 24 des vorigen Jahrgangs der„ Gleichheit" wurde mitgeteilt, daß die bürgerlichen Gemeindevertreter in Rastatt ( Baden ) sich geweigert haben, einer Frau aus dem Volte, einen Sitz in der städtischen Voltsschulfommission zu gewähren. In Mannheim liegen die Dinge ebenso. Unser dortiges Parteiorgan berichtete kürzlich über die Tätigkeit der Sozialdemokratie in der Gemeindeverwaltung und führte dabei diejenigen Forderungen auf, welche unsere Vertreter im Stadtverordnetenkollegium nicht durch setzen konnten. Zur Rubrit Schulwesen lesen wir da in der„ Volks stimme" folgendes:„ Ausscheidung der Geistlichen aus dem Schul verwaltungskörper und die direkte Wahl von Vertretern der Eltern in alle Instanzen der Schulverwaltung. Der Stadtrat muß solche Vertreter, und nach der Neuen Städteordnung unter ihnen auch Frauen, bestimmen. Allein was tat der Stadtrat? Er wählte unter anderen in die Kommission für die Volksschule eine Frau Professor und eine Frau Kommerzienrat! Eine Frau aus dem Arbeiterstand zu wählen, hielt er nicht für opportun. Jedenfalls ist er der Meinung, daß eine Frau Kommerzienrat besser als eine Arbeiterfrau imstande sei, zu beurteilen, wie es um die Kinder der armen Leute bestellt sei. Dieser Zustand ist ungesund, wie auch der Zustand unhaltbar ist, die Erziehung der noch nicht schulpflichtigen Kinder, soweit sie nicht durch die Eltern erfolgen kann, den Religionsgemeinschaften zu überlassen." Da sich solches in Mannheim begeben, dem Vorort der Sozial demokratie in Baden , so darf nochmals an das Wort erinnert wer den, mit dem Genosse Frank als Verteidiger der Bugdetbewilligung in Magdeburg die Vorzüge seines badischen Heimatlandes feierte:„ Wir haben durchgesetzt, daß in den wichtigen Kommis, sionen für das Armenwesen und das Schulwesen, in denen seit einigen Jahren Frauen tätig sein konnten, künftig Frauen Mitglieder sein müssen. Das ist immer ein Schritt vorwärts, der nicht zu verachten ist.... Rosa Luxemburg braucht sich nur die Stadt auszusuchen, wo sie bei uns in die Schulfommission gewählt werden will." Genossin Luxemburg müßte heute mit der Diogeneslaterne die badische Stadt suchen, die einer sozialdemokratischen Frau einen Platz in der Schulkommission einräumen würde.
mg.