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Die Gleichheit
gewann, befindet sich auch nicht ein einziges, dessen Eroberung ihr durch Unterstützung und Gönnerschaft des Liberalismus erleichtert worden wäre. Viele hat sie ihm selbst im heißen, zähen Kampfe abgerungen, alle sind sie nur der äußersten Anstrengung der eigenen Straft, dem Aufgebot der proleta rischen Massen zu verdanken. Dem Aufgebot der proletarischen Massen, die Treue für Treue übend die Sozialdemokratie so weit in das Vordertreffen des Wahlkampfes getragen haben, daß sie noch an 121 Stichwahlen beteiligt ist, von denen sie 57 mit Fortschrittlern und Liberalen ausfechten muß. Jedoch so wertvoll die Beute an Mandaten ist, mit der die Sozial demokratie aus der Wahlschlacht zurückkehrt, und ganz gleich, um wieviel sie ihre Size im Reichstag bei den Stichwahlen vermehren wird: das bedeutsamste geschichtliche Ergebnis ihres Kampfes bleibt das millionenköpfige stolze Heer selbst, das sie um ihr rotes, internationales Banner gesammelt hat. Etwa 4% Millionen sozialdemokratische Stimmzettel sind nach den bis jetzt veröffentlichten Zählungen am 12. Januar zu der Urne getragen worden, rund eine Million mehr als 1907. Ungefähr ein Drittel aller Wahlberechtigten hat sich zum Sozialismus bekannt, hat der bürgerlichen Gesellschaft Todfeindschaft und Kampf angesagt. Wohin im Reiche man blickt, ist das„ rote Meer" reißend gestiegen. In den alten gefestigten Hochburgen der Partei ist nicht minder tapfer, begeistert, ausdauernd gerungen worden als in neu emporblühenden Mittelpunkten der Bewegung. Die Berliner Sozialdemokratie hat in den sechs Wahlkreisen ihre Stimmenzahl um 56000 gesteigert, und das bei einer Vermehrung der Wahlberechtigten um nur 13000. mit 308000 Stimmen haben in der Reichshauptstadt mehr als 60 Prozent aller Wahlberech tigten ihre Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie bekräftigt. Prächtig hat sich die Partei in Hamburg , in Bremen , Lübeck , Frankfurt , Erfurt und vielen anderen Großstädten geschlagen. In Sachsen hat sie im ersten Ansturm 15 Mandate geholt und mit 514964 Stimmen 128000 mehr als alle bürgerlichen Parteien zusammen auf sich vereinigt; reichlich 57 Prozent der gesamten Wahlberechtigten sind ihr in der Wahlschlacht gefolgt. Das Zentrum hat in RheinlandWestfalen große Wählermassen an die Sozialdemokratie verloren, in Württemberg , Bayern , Baden hat diese viele Zehn tausende von Wählern geworben.
Die fortschreitende Entwicklung des Kapitalismus hat mit der Zuspizung der Klassengegensätze, mit der Verschärfung der Klassenkämpfe ihr Werk getan. Die Sozialdemokratie hat es an dem Ihren nicht fehlen lassen. Das revolutionierte Sein der proletarischen Massen ist zum revolutionären Bewußtsein geworden. Das aber läßt sich nicht daran ge nügen, mit den Philosophen zusammen die Welt verschieden zu erklären. Es hat bereits den Willen geboren, sie durch den Klassenkampf zu verändern. Denn wahrlich: nicht zu fleinen parlamentarischen Raufereien um Mandate zwischen den Parteien haben sich die vier Millionen Wähler um die Sozialdemokratie geschart. Sie ist ihnen die Führerin in dem gewaltigen welthistorischen Ringen um die Freiheit ihrer Klasse. Auch in dem Kampfe für billiges Brot und Fleisch, für Koalitionsrecht und soziale Reformen, gegen Zuchthausgesetze, Imperialismus und Absolutismus ist es für sie um das Ganze gegangen: um ihr Endziel, die soziale Revolution. Hinter den politischen Gegnern schauten sie den Hauptfeind: die kapita listische Ordnung, und ihn wollten sie in der Gestalt der bürgerlichen Parteien schlagen. Die empordrängende Welt stellte sich zum Gefecht gegen die alte Ordnung der Ausbeutung und Knechtung des Menschen durch den Menschen. Daher riß diefe Wahlkampagne begeisterte, kampfesfrohe Massen mit fort wie keine andere vor ihr, Massen, die infolge unseres undemokratischen Reichstagswahlrechtes nicht wählen durften, die jedoch zu kämpfen begehrten. Auffallend groß war in den fozialdemokratischen Wahlversammlungen die Zahl der jungen Männer unter fünfundzwanzig Jahren, die Zahl der Frauen, vom blühenden jungen Mädchen an, dessen Zukunft der Kapitalismus fniden wird, bis zur humpelnden Greisin, die er
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um ihr Lebensglück betrogen hat. Zu vielen Zehntausenden haben Jugendliche und Frauen seit Monaten mit einer Hingabe, die weder Müdigkeit noch Opfer tannte, für den Sieg der Sozialdemokratie am 12. Januar gewirkt. Über diesem Siege strahlte ihnen allen der Polarstern des sozialistischen Endziels. Das machte die Massen stark und fühn. Die Gelder des Hansabundes und der Juliustürmer, die Kanzelreden der Geschorenen und Gescheitelten, die Lügen der bürgerlichen Presse, die Verleumdungen einer beispiellosen FlugblattItteratur, die Drohungen, Nücken und Tücken der Behörden haben nichts gegen ihre stürmende Begeisterung ver mocht. Die Besitzenden und Ausbeutenden mögen bei den Schritten des proletarischen Massenaufgebots erschrecken. Den Ausgebeuteten jenseits unserer Grenzpfähle fündet ihr Rhythmus den Frieden. Sind die leztjährigen gewaltigen Demonftrationen des deutschen Proletariats gegen den Krieg-entgegen der Meinung Kurzsichtiger - die wirksamste Vorberei tung des Wahlkampfes gewesen, so ist die millionenköpfige Gefolgschaft der Sozialdemokratie die sicherste Bürgschaft des Friedens. Sie hat den Herrschenden gezeigt, welche Macht das klassenbewußte Proletariat Deutschlands der lauernden Kriegsfurie entgegenstellen kann, wenn es will. Und es wird wollen, denn es geht dann um hohen Preis.
Mehr als vier Millionen Wähler haben über die Politik der bürgerlichen Parteien und über die Ordnung der bürgerItchen Gesellschaft das Verdammungsurteil gesprochen, haben gelobt, mit Stelle und Schwert der sozialistischen Zukunft zu dienen. Hinter ihnen stehen Millionen, die nicht sprechen durften, die aber eins sind mit ihren Brüdern in dem Willen zur Tat. Und angesichts dieser überwältigenden geschichtlichen Erscheinung legt der entschiedene Liberalismus" bedächtig den Finger an die Nase, um die welterschütternde Frage zu prüfen, ob wirklich der Expedient Zubeil" der rechte Mann sei, un alle Interessen aller verschiedenen sozialen Schichtent seines Wahlkreises zu vertreten, eines Wahlkreises, der so biel bürgerlichen Besitz und so viel bürgerliche Bildung be herberge. Die Frage zeigt den ganzen Hochmut, aber auch die volle Nat- und Verständnislosigkeit des Liberalismus, die geschichtliche Situation zu begreifen. Der„ Expedient Zubeil" und seinesgleichen mögen nicht kompetent fein, über die menschheitserneuernde Bedeutung von Barfußtänzerinnen zu urteilen, sie mögen schweigen, wenn es um die Rechte des Dativ und Affusativ geht, aber sie handeln im Stampfe um Menschenrecht und Freiheit, wenn bürgerliche Ästheten und Wissenschaftler versagen, weil die bleiche Handwerkerseele" des Kapitalismus ihre Kräfte lähmt. Es ist ihre Klasse, die in diesen Schlichten lebendig und mächtig ist, die Klasse, die historisch berufen ward, die Welt zu erneuern.
Staatsmännische und parlamentarische Rechenmeister zerbrechen sich jetzt die Köpfe über dem Exempel, wieviel Mandate der bürgerlichen„ Linken" nach Adam Riese bei den Stichwahlen zufallen müßten, damit die Mehrheit der Konferbativen und Zentrümler im neuen Reichstag gebrochen werde. Sie addieren und subtrahieren die Zahl der Size heraus, zu denen die sozialdemokratischen Wähler Fortschrittlern und Nationalliberalen verhelfen sollten, und die Summe der anderen, um die die Sozialdemokratie mit Hilfe der Konservativen und Zentrümler geprellt werden könnte. Sie tun, als ob Deutschlands nächste Zukunft davon abhänge, daß zur entscheidenden Macht im Reichstag ausgerechnet der nämlidje Liberalismus werde, den die deutsche Arbeiterklasse in dem Bülowblock mit den Konservativen zusammen am reaktionärsten Werke gesehen hat. Sie reden, als wüßten sie nicht, daß eine Linke des Reichstags, die ernstlich gegen die Reaktion kämpfen will, um so erfolgreicher sein wird, je stärker, masgebender die sozialdemokratische Fraktion ist. Doch set's un diese Rechenkunststückchen und Rechenfehler. Sie verschwinden vor dem Generalirrtum, die vorwärtstreibende politische Kraft in dem Parlament und nicht in den Massen außerhalb seiner Mauern zu suchen. Der Reichstag ist nichts als das kausmännische Kontor, wo die politischen Werte gebucht und ver