Nr. 9

Die Gleichheit

von denselben Gesichtspunkten geleitet, die es der Gesetzgebung zur Pflicht machen, bei der Ausdehnung des Wahlrechts die Gesetz­mäßigkeit der stufenweisen Entwicklung nicht durch übergangslose übertreibungen über den Haufen zu werfen.

Wenn es gilt, ein so zahlreiches neues Wählerpublikum aur Ausübung des wichtigsten politischen Rechts zu erziehen, welches an ziffernmäßigem Umfang binnen furzer Zeit die Gesamtzahl der gegenwärtigen Wähler erreichen wird, wäre es nicht zeitgemäß, die Erschütterungen des überganges dadurch zu steigern, daß wir in die politischen Kämpfe gerade jetzt auch noch die Frau ein­beziehen, der es ja nur nachteilig sein könnte, wenn die Gegen­sätze, die nicht einmal noch im wirtschaftlichen Wettbewerb aus­geglichen sind, nun auch noch durch die Parteigegensätze verschärft würden.

In eine theoretische Diskussion über das Frauenwahlrecht möchte ich mich nicht einlassen. Auch in der Frage des Männerwahlrechts gehe ich ja nicht von abstrakten Theorien aus, und so will ich denn auch diese Frage lediglich aus dem Gesichtspunkt der Zweckmäßig­feit beurteilen, ob es geraten wäre, zu einer Zeit, da wir von einem in die engsten Schranken gebannten Wahlrecht zu einer umfangreichen Rechtsausdehnung übergehen, die ungewissen Chancen der Zukunft auch noch durch Gewährung des Frauen­wahlrechts zu vermehren. Denjenigen, die vom Standpunkt theo­retischer Argumente für die im Kampfe ums Dasein selbständige Frau das Wahlrecht fordern, trete ich mit den Argumenten der praktischen Zweckmäßigkeit entgegen. Ich halte es für recht und billig, daß die Frau, die ungeachtet ihrer ungünstigeren Rüstung unter den gleichen Bedingungen wie der Mann für das tägliche Brot kämpft oder an dem um die Geltung im öffentlichen Leben wogenden ewigen Kampfe teilnimmt, zu den öffentlichen An­gelegenheiten ihr Wort erheben dürfe. Auch lassen sich auf einer gewissen Stufe der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung die Kriterien finden, innerhalb welcher wir der Frau das Wahl­recht erteilen könnten.

Die natürlichste Grundlage des Zensus des Frauenwahlrechts wäre die Intelligenz, die Vermögenslage und die Selbständigkeit. Allein diese Bedingungen würden, weder kombiniert noch gesondert ins Auge gefaßt, eine gerechte Selektion möglich machen. In dem wirtschaftlichen und sozialen Leben unseres Landes ist nämlich die Lage der zum Broterwerb genötigten oder im öffentlichen Leben auf andere Art wirkenden Frau noch lange nicht so weit gedichen, um schon jetzt ohne große Ungerechtigkeit oder lüdenhafte Generali­fierung die Grenze feststellen zu können, innerhalb deren die Frau in den Besitz des Wahlrechts gelangen könnte.

Bei der Frau könnte, wenn auch die Kriterien des Vermögens oder der Selbständigkeit sonst zutreffen, der Jntelligenzzensus in der Regel nicht erlassen werden; denn bei den gegenwärtigen so­zialen Verhältnissen erschließt sich im Kreise der auf tieferer In­telligenzstufe stehenden Arbeiterschaft für die erwerbende Frau ein unverhältnismäßig geringeres Gebiet, um die zur Stellung nahme im öffentlichen Leben erforderlichen Kenntnisse in noch so oberflächlicher Weise zu erwerben, als dem Manne. Die infolge= dessen unerläßliche Einführung eines höheren Intelligenzzensus hinwieder würde zu der Ungerechtigkeit führen, daß gerade die ausschließlich von der eigenen rechtschaffenen Arbeit lebenden selb­ständigen Frauen in ihrer großen Mehrheit aus der Wählerschaft ausbleiben würden. Und es könnten auch zahlreiche gebildete Frauen, die im öffentlichen Leben oder im Familienkreis ihren Frauenberuf in hervorragender Weise ausüben, nicht in den Besitz des Wahlrechts gelangen, da sie im Elternhaus unterrichtet wurden und daher nicht in der Lage sind, das als Durchschnittsmaß ge= forderte Schulzeugnis aufzuweisen.

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Wenn wir mithin schon jetzt im Verein mit dem anderen Kriterium auch an dem höheren Intelligenzzensus festhaltend der Frau das Wahlrecht erteilen wollten, so würde dies in der Braris nur einen verschwindend geringen Bruchteil der Frauen aur Urne zulassen. Da wir aber das über das Minimum hinaus­nehende Maß der Schulbildung zum überwiegenden Teil im Kreise der wohlhabenderen Bürgerklaffe vorfinden, so würde das auch auf den höheren Intelligenzzensus begründete Frauenwahlrecht in der Braris zu einem Klassenvorteil werden, der die in der männlichen Gesellschaft vorhandenen Wahlrechtsgegensätze auch unter die Frauen tragen und solchermaßen, statt Beruhigung zu schaffen, die Klassengegensätze verschärfen würde. Dies sind die hauptsäch­lichsten Gesichtspunkte, die mich bewogen haben, die Ausdehnung des Wahlrechts auf die Frauen bei diesem Anlaß nicht in Bor­schlag zu bringen."

Wir begnügen uns für heute damit, zwei Bekundungen in dieser Begründung zu unterstreichen. Erstens das offene Eingeständnis,

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daß nur eine verschwindend kleine Zahl von Frauen ihre politische Gleichberechtigung erlangen würden, wenn ein Frauenwahlrecht zur Einführung käme, das auch nur an einen Bildungszensus ge= fnüpft wäre. Zweitens die verhüllte Beichte, daß die Regierung lezten Endes darauf verzichtet hat, durch ein Damenwahlrecht die politische Macht der Besitzenden noch weiter zu stärken, weil sie befürchten mußte, dadurch den Appetit der entrechteten Arbeiter= massen allzusehr zu erregen und den Zorn dieser Massen gegen die reaktionäre Wahlrechtsverhöhnung zu steigern. Die ungar ländische Sozialdemokratie ist entschlossen, die freche Reformkomödie der Regierung mit allen Mitteln zu bekämpfen, auch mit dem des Massenstreiks. Ein außerordentlicher Parteitag soll im Januar stattfinden und das Signal zum wuch­tigen, zähen Kampfe geben. Es versteht sich dabei von selbst, daß die Sozialdemokratie dabei dem Reformwechselbalg der Neat­tion ihre eigene Wahlrechtsforderung entgegenstellt: die vollen politischen Rechte für alle Großjährigen ohne Unterschied des Geschlechts. Sie begreift das allgemeine Frauenwahlrecht in sich. Es liegt auf der Hand, daß diese For­derung in dem gegenwärtigen Kampfe feine entscheidende Rolle spielen kann. Aber ebenso selbstverständlich ist es, daß sie nicht sang­und flanglos aus ihm verschwinden darf. Auch dieser Kampf muß der Agitation für das allgemeine Frauenwahlrecht nutzbar ge= macht werden und dazu beitragen, dessen fünftigen Sieg vorzu­bereiten. Die ungarländische Sozialdemokratie wird sich gewiß dieser Verpflichtung nicht entziehen, die sie selbst durch Zustim= mung zu dem betreffenden Beschluß des Internationalen Sozia­listischen Kongresses zu Stuttgart   anerkannt hat. Davon abgesehen, ist die Agitation für das Wahlrecht aller Großjährigen das wirk­samste Mittel, der Gefahr eines beschränkten Frauenwahlrechts entgegenzuarbeiten. Daß diese Gefahr durch den gegenwärtigen Entwurf der Regierung keineswegs endgültig beseitigt ist, läßt die Begründung deutlich genug erkennen.

Frauenbewegung.

I. K. Nationaler Kongreß der amerikanischen   Frauenrecht­lerinnen. Vont 20. bis 25. November hat zu Philadelphia   der 24. Jahreskongreß der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen in den Vereinigten Staaten   getagt. Die Situngen sowie die in Verbin­dung mit der Tagung veranstalteten Versammlungen waren glän­zend besucht und von einer freudigen Stimmung beherrscht. Die Tatsache, daß soeben vier weitere Staaten der Union Orc= gon, Arizona  , Kansas   und Michigan  - das Frauen­siimmrecht eingeführt hatten, gab dem Kongreß den Charakter einer Siegesfeier. Die Berichte der Delegaten aus den einzelnen Etaaten lauteten äußerst ermutigend und legten Zeugnis dafür ab, daß sich die Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten  rasch ihrem politischen Ziele nähert. Die volle politische Gleich­berechtigung aller amerikanischen   Bürgerinnen ist nur noch eine Frage der Zeit. Die einzige Frage, die auf der diesjährigen Tagung der Frauenrechtlerinnen zu hizigen Erörterungen führte, war die der Stellungnahme zu den politischen Par­teien. Die nationale amerikanische   Frauenstimmrechtsorganisa­tion hat seither an dem Standpunkt der absoluten politischen Neu­tralität festgehalten und nur das eine Ziel verfolgt: Erlangung des allgemeinen, unbeschränkten Frauenwahlrechts. Während der verflossenen Wahlkampagne hat nun aber Fräulein Jane Addams  , eine nationale Beamtin der genannten Organisation, den Grundsatz der politischen Unparteiischfeit durch brochen, indem sie öffentlich und mit großer Energie für Roosevelt   und dessen neue Partei eingetreten ist. Darüber wurde Fräulein Addams von einem Teil der Delegaten angegriffen, während ein anderer Teil sie leidenschaftlich verteidigte. Schließlich einigte man sich darauf, allen Mitgliedern der Organisation volle persönliche Bewegungsfreiheit in bezug auf ihre Zugehörigkeit zu einer po­litischen Partei zuzugestehen, aber die Organisation selbst wie bis­her streng neutral zu halten. Sozialistische Frauen waren als Delegierte wie auch als Gäste auf dem Kongreß anwesend. Das nationale Frauenkomitee der Sozialistischen Partei war durch feine Sekretärin, Genossin Branstetter, vertreten. Am zwei­ten Tage der Verhandlungen hielt diese eine Ansprache. Ihre Fest­stellung, daß die 900 000 sozialistischen Wähler grundsätzlich für das Frauenwahlrecht eintreten, wurde mit stürmischem Beifall begrüßt. Diese Feststellung wurde ergänzt durch die Berichte der Delegierten aus den vier Staaten, die jüngst den Frauen volles Bürgerrecht zuerkannt haben; sie hoben hervor, wie tatkräftig dort die Sozialistische Partei die Sache der politischen Gleichberech tigung des weiblichen Geschlechts gefördert habe. Die sozialisti­

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