Nr. 10

Die Gleichheit

Frauenwahlrecht in England mit besonderer Aufmerksamkeit. Es ist gewiß wertvoll, Bürgschaft und Erleichterung ihrer fünftigen Siege, daß das weibliche Geschlecht politisches Bürgerrecht in den australischen Kolonialländern Groß­ britanniens   erlangt hat, ebenso in vielen Staaten der nord­ amerikanischen   Union  , in Norwegen   und Finnland  , und daß seine Gleichberechtigung in Schweden   und namentlich in Dänemark   vor der Türe steht. Von ganz besonderer inter­nationaler Tragweite wird es jedoch sein, wenn in England über dem gefallenen Unrecht langer Jahrhunderte das sieg­reiche Banner des Frauenwahlrechts weht. Am Vorabend des sozialistischen   Frauentags soll uns der jetzige Kampf dort ein gutes Omen sein. Rüsten wir kraftvoll gegen die Feste altersgrauer Rechtlosigkeit. Die blutroten Fackeln des Balkan­krieges und der wachsenden Weltkriegsgefahr mahnen auch die Proletarierinnen und gerade fie, für den Sozialismus bereit zu sein. Der Kampf um das Wahlrecht, der Besitz des Wahlrechts ist ein Mittel, sie bereit zu machen. Auch im Stampfe um das Frauenwahlrecht ist uns das sozialistische Endziel alles.

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Inzwischen ist die Entscheidung gefallen. Das heißt, die Regierung hat es nicht einmal zu einer Entscheidung über das Frauenwahlrecht kommen lassen. Der Premierminister Asquith   provozierte die obenerwähnte Erklärung des Speakers, daß die Vorlage durch Einfügung von Anträgen über das Frauenwahlrecht zu einer neuen werde. Nachdem ihm der Speaker diesen Gefallen erwiesen, zog Asquith   die ganze Vorlage zurück. übrig geblieben ist von ihr nur ein nichtssagendes Versprechen des Premierministers, die Re­gierung werde mit der Wahlrechtsreform fortfahren und sie werde, falls nächste Session aus dem Unterhaus ein Antrag für das Frauenwahlrecht komme, diesem wohlwollende För­derung gewähren. Man hätte zwar ganz gut, bevor man die Vorlage zurückzog, über den Antrag Grey abstimmen lassen können, der den Frauen grundsätzlich das Wahlrecht zu­erkennt. Aber dies vermied die Regierung, um den Ruf ihrer beiden Mitglieder Grey und Lloyd George   nicht aufs Spiel zu setzen. Denn diese beiden grundsätzlichen" Anhänger des Frauenwahlrechts hätten im Falle der Ablehnung jenes An­trags zwischen ihrer überzeugung und ihrer Machtstellung zu wählen gehabt. Erst recht hütet sich aber die Regierung, die Frage der Wahlrechtsreform den Wählern zur Entschei­dung vorzulegen, nachdem sie sie im Unterhaus preisgegeben bat. Im Parlament ist der Kampf um die Erweiterung des Wahlrechts und um das Frauenwahlrecht zu Ende. Nunmehr wird er außerhalb des Parlaments mit aller Wucht einsetzen.

Kampf- und Kriegsjahr.

II.

Die Thronrede, mit der der Kaiser den neuen Reichstag eröffnete, prunkte mit der Phrase: Die Entwicklung steht nicht still! Das sollte modern klingen, hörte sich aber wie eine Selbstverhöhnung der preußisch- deutschen   Regierungsweis­heit an. Im übrigen gab Wilhelm II.   den Reaktionären die tröstliche Versicherung, daß die Regierung auf das Ergebnis der Wahlen pfeife, indem sie unbekümmert um den Volks­willen ihre bisherige Politik fortführen werde. Zur Bekräf­tigung dieses Entschlusses kündigte die Thronrede vor allem eine neue Militärvorlage an. Sonst war die Auswahl an Gesegesvorlagen nur gering- aber in der Ära des Im­perialismus durfte natürlich die Forderung für Militär­zivecke nicht fehlen, trotzdem erst ein Jahr vorher eine Heeres­verstärkung beschlossen worden war und trotzdem auf die So­zialdemokratie, der grundsäßlichen Gegnerin jeder Welt­machtspolitik, 4%, Millionen Stimmen gefallen waren. Zu­gleich mit dieser Forderung neuer Ausgaben für kulturfeind liche Zwecke wurde das Eingeständnis gemacht, daß die glor­reiche Finanzreform von 1909 nicht genüge, die Kosten der imperialistischen Politik zu decken. Es wurden neue Steuern

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angekündigt, obgleich die Regierungsblätter während des eben erst beendigten Wahlkampfes mit sittlicher Entrüstung bestritten hatten, daß neue Steuern kommen würden.

Wie sehr neue Steuern nötig waren, wie wenig von einer dauernden Gesundung der Reichsfinanzen durch die große Schröpfung von 1909 gesprochen werden kann, das zeigte der Etat, der dem Reichstag unterbreitet wurde. Er konnte nur mit Hilfe einer Anleihe von 433 Millionen ins Gleich­gewicht gebracht werden, und dieser Pump wäre noch höher ausgefallen, hätte man nicht einfach die gesetzlich vorgeschrie­bene Schuldentilgung unterlassen. Ein Blick auf die Zahlen­reihen des Etats zeigte, wo die Ursache für diese Mißwirt­schaft zu suchen ist. Von 1847 Millionen Mark Nettoein­nahmen des Reiches wurden nicht weniger als 1675 Mil­lionen durch Heer, Flotte, Militär- und Marinepensionen, Verzinsung der Reichsschuld und Kolonien verschluckt, so daß nur noch 172 Millionen für nichtmilitärische Zwecke übrig blieben.

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Das hat die bürgerlichen Parteien nicht gehindert, die Aus­gaben für den Militarismus aufs neue zu steigern. Ohne weiteres, fast ohne Debatte bewilligte der Reichstag   die Ver­stärkung des Heeres um 29 000 Mann die Unteroffiziere nicht mitgerechnet nicht mitgerechnet und die Verstärkung der Flotte. 650 Millionen Mark, die sich auf sechs Jahre verteilen, wurden dadurch dem deutschen   Volke noch zu den bisherigen gewal­tigen Rüstungslasten aufgepackt. In Verbindung mit den Mehrlasten des 1911 bewilligten Heeresquinquennats ergab das für die nächsten sechs Jahre eine Ausgabensteigerung um 889,7 Millionen Markes fehlte nicht mehr viel an der Milliarde.

In der Bewilligung der Ausgaben waren die bürgerlichen Parteien einig: Aber bei der Frage, wie die Deckung zu be. werkstelligen sei, ging ihre Einigkeit in die Brüche. Die Libe­ralen wünschten die Erbschaftssteuer- da an eine neue Be lastung der breiten Massen durch indirekte Steuern nach der großen Plünderung der Reichsfinanzreform nicht zu denken war, wollten sie so wenigstens verhüten, daß die neuen Lasten durch Sondergewerbesteuern einseitig der Industrie und dem Handel auferlegt würden. Aber gerade die Erbschaftssteuer wollten die Junker und das Zentrum nicht. Obgleich diese Parteien bei den Wahlen verprügelt worden waren, war ihre Forderung dem Reichskanzler Befehl. Der Reichsschatzsekretär Wermuth, der den Weg in neue Schuldenwirtschaft nicht mitmachen wollte, mußte zurücktreten. An seiner Stelle unternahm es sein Nachfolger Kühn, die Deckung zu be­sorgen, ohne die steuerscheuen Junker zu belästigen. Das Ergebnis konnte nur unzulängliches Flickwerk sein. Die Branntweinliebesgabe wurde aufgehoben- die schnaps­brennenden Junker hatten sie nicht mehr nötig, denn der durch die Branntweinsteuergesetzgebung geschütte Spiritus­ring sichert ihnen hohe Schnapspreise. Da jedoch diese Fi­nanzmaßregel nicht entfernt die Gelder aufbringt, die zur Deckung der großen Mehrausgaben nötig sind, so machte Herr Kühn mit fröhlichem Mute eine Rechnung auf, wonach das Reich auch ohne neue Steuern auskommen werde. Er setzte die Erträgnisse der Zölle und der Reichsbetriebe einfach höher an und verwies zur Rechtfertigung auf die überschüsse, die die Einnahmen von 1910 über den Etatsvoranschlag er­geben hatten. Ein Aushilfsmittel, das genau so lange vor­hält, als die gute Wirtschaftslage dauert, das aber in der Zeit der Krise gänzlich versagen muß. Ferner mußte auch noch die schon wiederholt versprochene Ermäßigung der Zucker­steuer wieder hinausgeschoben werden. Denn Junker und Zentrum rissen in die schöne Rechnung Kühns ein großes Loch, indem sie zwar die Branntweinliebesgabe aufhoben, aber wenigstens einen Teil dieser Unterstützung der Brenner aus öffentlichen Mitteln durch eine Subvention in anderer Form wiederherstellten.

Allerdings ist es den blauschwarzen Brüdern bei diesem Streiche nicht ganz wohl gewesen. Das Zentrum, das die politischen Folgen der Reichsfinanzreform noch in allen Kno­