Nr. 18

Die Gleichheit

Die Sozialdemokratie hat den Feldzug unter der Losung des Wahlrechtskampfes geführt. Die Abstimmung sollte in erster Linie ein eindrucksvoller Protest, sollte der Urteilsspruch der entrechteten proletarischen Wähler gegen das elendeste aller Wahlsysteme sein. Die Wahl sollte eine Heerschau der drittklassigen Wähler sein, um durch das Mißverhältnis der Wählerzahl zur Zahl der Mandate die ganze Ungeheuerlichkeit des Dreiklassensystems der Öffentlich­feit schlagend vors Auge zu führen und die Empörung gegen diese Lüge eines Wahlrechtes kräftig anzufachen. Die Eroberung von Mandaten stand weit im Hintergrund. Denn daß unter dem Geld­sadswahlrecht auch bei den größten Anstrengungen für die Sozial­demokratie an Parlamentssigen nicht viel zu holen ist, das liegt allzu ar auf der Hand. Die sozialdemokratische Fraktion im Dreiklassenhaus wird unter diesem Wahlunrecht stets nur ein Kleiner vorgeschobener Posten sein können, und für die Erfüllung seiner Aufgaben verschlägt es nicht viel, ob er um ein paar Köpfe stärker oder schwächer ist. Natürlich ist eine Verstärkung der kleinen Schar erfreulich, der tapferen Sechse, die im verflossenen Abgeord= netenhaus den parlamentarischen Kampf gegen die Vertreter der besitzenden Klassen mit so viel Mut geführt haben. Jede Mandats­eroberung unter diesem Wahlrecht, die siegreiche Überwindung feiner Wolfsgruben, Fußangeln und Stacheldrahtzäune darf mit Stolz verzeichnet werden als Beweis der Kraft der organisierten Arbeiterklasse. Unsere preußischen Genossen haben nicht nur die bisherigen sechs Size, fünf in Berlin  , einen in Linden­Hannover, mit meist erheblich gestiegenen Mehrheiten be­hauptet, sie haben auch das Mandat für den Berliner   Vorortkreis Neukölln- Schöneberg erobert. Ferner sind sie im 10. und im 12. Berliner   Kreise dem Fortschritt bedrohlich nah auf die Hacken gerückt. In den Provinzen ist die Sozialdemokratie in ctwa zehn Kreisen in die Stichwahl gelangt. Und wenn die Aus­sichten hier bei dem engen Zusammenschluß der bürgerlichen Par­teien und angesichts der jämmerlichen Gesinnung des Fortschritts doch nicht allzu vielversprechend sind, so ist doch schon die Tatsache, daß die Sozialdemokratie trotz aller Ungunst der Verhältnisse so weit vordringen konnte, ein hoch anzuschlagender Erfolg.

Höher jedoch anzuschlagen ist das starke Anwachsen der sozial­demokratischen Stimmen. Noch fehlen darüber einigermaßen ge­naue Angaben, aber der Vormarsch der Partei in Berlin   wie in der Provinz, die Steigerung der Zahl der sozialdemokratischen Wahlmänner zeigt klar, daß hier ein großer Erfolg erzielt worden ist. Die Sozialdemokratie hat trotz aller Hindernisse, unter denen die geringe Aussicht auf Mandatseroberungen nicht das kleinste ist, Massen gegen das Wahlrecht auf die Beine gebracht. Das Be­wußtsein der Dreiflassenschmach ist dank ihrer unermüdlichen Ar­beit tief ins Proletariat gedrungen. Willig brachten die Arbeiter die persönlichen Opfer an Zeit und Lohn, die die Beteiligung an dem verzwickten, schier auf Abschreckung der Wähler berechneten Wahlverfahren bedingt, tapfer verachteten sie die Gefahr, die das Bekenntnis zur Sozialdemokratie bei der öffentlichen Abstimmung für viele von ihnen bedeutet. Auf diesen Erfolg kann die preu­ßische Sozialdemokratie mit Stolz bliden. Und die Genossen des außerpreußischen Deutschland   werden ihnen Dank wissen. Ist doch der Kampf gegen die reaktionäre Feste in Preußen auch ein Kampf gegen die Reaktion in ganz Deutschland  . Freilich ist sie im Wahl­gefecht nie zu erobern. Aber der Wahlkampf ist die Vorbereitung und Einleitung zu dem eigentlichen Kampfe, den die Arbeiter­flaffe gegen das preußische Dreiflassenunrecht wird führen müssen und dessen Schlachten nicht am Wahltisch geschlagen werden. Die Aufrüttelung der entrechteten Wählermassen ist ein Schritt zur Formierung des Heeres, das schließlich in günstiger Stunde die Kraft der Arbeiterklasse als Trägerin der Produktion in die Wag­schale des preußischen Wahlrechtskampfes werfen wird.

Am ersten Pfingstfeiertag trat in Bern   eine deutsch  - fran­zösische Verständigungskonferenz zusammen. Der weitere Ausbau der militärischen Rüstungen, den Deutschland   und Frankreich   zurzeit vornehmen, hatte schweizerische Volksvertreter, sozialdemokratische und bürgerliche, veranlaßt, die Abgeordneten des deutschen   Reichstags und der französischen   Kammer und des Senats zu einer Konferenz auf neutralem Schweizer   Boden ein­zuladen. In ihr sollte versucht werden, durch gemeinsame Aus­sprache zwischen den Vertretern der beiden Völker eine Verstän­digung anzubahnen, die dem Wettrüsten Einhalt tun könnte. Die Einladung hatte einen gewiffen Erfolg namentlich aus Frank­ reich   folgte ihr eine nicht unerhebliche Anzahl bürgerlicher Abge­ordneter. Allerdings gehörten sie fast ausschließlich, von ein paar Vertretern der bürgerlichen Friedensbewegung abgesehen, der bür­gerlichen Linken an. Daneben war natürlich die französische   So­zialdemokratie stark vertreten, ebenso wie die deutsche. Hingegen

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sah es mit der Vertretung der bürgerlichen Parteien Deutschlands  sehr mager aus. Es hatte sich neben einigen Vertretern des elsaß= Iothringischen Landtags lediglich eine Handvoll fortschrittlicher Neichstagsabgeordneter eingefunden. Zwei angemeldete Zentrums­abgeordnete blieben schließlich stillschweigend fort, und die national­liberale Fraktion war so ehrlich, sich mit einem Sympathieschreiben zu begnügen. Die Franzosen waren daher in einer starken Mehr­heit, und sie haben der Konferenz durch ihr leidenschaftlich- begei­stertes Verhalten den äußeren Aufputz gegeben. Es hat an gut­gemeinten und schönen Reden und namentlich auch an lauten Bei­fallskundgebungen nicht gefehlt, und in der Verständigungsresolu­tion wurde das Wettrüsten einstimmig verurteilt. Das praktische Ergebnis der Verhandlungen war die Einsetzung eines ständigen französisch- deutschen Verständigungkomitees. Eine gewisse dekora= tive und auch moralische Wirkung läßt sich der Konferenz nicht absprechen in dieser Zeit der Ausbrüche des Chauvinismus. Die Beteiligung aus bürgerlichen Kreisen zeigt, daß das Drückende der Rüstungslast auch in ihnen gespürt wird und daß der Wunsch nach Verständigung vorhanden ist. Nur darf darüber nicht ver­gessen werden, daß die bürgerlichen Parlamentsredner ihre pla­tonische Liebe für die Verständigung noch nie in Taten umgesetzt haben, weil sie sich mit der starken nationalistischen und imperia­listischen Strömung im Bürgertum nicht in Widerspruch zu sehen wagen. Die politisch maßgebende fortschrittliche Presse Deutsch­ lands   hat gleich nach der Konferenz erklärt, daß die fortschrittlichen Abgeordneten, die in Bern   der Resolution gegen das Wettrüsten zugestimmt haben, das mit dem Bewußtsein taten, daß es sich um fromme Wünsche handle; keiner von ihnen werde etwa mit Rück­sicht auf Bern   gegen die Wehrvorlage stimmen. Und nicht einer der fortschrittlichen Abgeordneten, die zu Bern   waren, hat gegen diese Auslassungen Einspruch erhoben. Es wäre deshalb verfehlt, wenn man der Konferenz größere Bedeutung beilegen wollte, wenn die Sozialdemokratie sich unter dem Eindruck des äußeren Verlaufs der Kundgebung der Illusion hingeben würde, es könne der Ar­beiterklasse aus dem Bürgertum noch eine ernstliche Unterstützung in ihrem Kampfe gegen den Militarismus erwachsen. Daran ist im Zeitalter des Imperialismus nicht zu denken. Die inneren Ge­setze der kapitalistischen   Entwicklung wirken sich aus. Der Imperia­lismus ist eine notwendige Folge des Ausbreitungsbedürfnisses des Kapitalismus, und diese Ausbreitungsbestrebungen müssen notwendig zu friegerischer Politik und zu gigantischen Rüstungen führen. Und gegen die gebieterischen Bedürfnisse des Kapitalismus kann sich auf die Dauer keine bürgerliche Partei stemmen. Die Ar­beiterklasse muß sich darüber im Klaren sein, daß sie im Kampfe gegen Krieg und Rüstungen schließlich stets auf die eigene Kraft angewiesen sein wird.

Auf der Balkanhalbinsel   ist jetzt der Frieden nahe­gerückt. Allerdings ist er noch nicht völlig gesichert, da der Streit um die Beute zwischen den Verbündeten noch sehr scharf und heftig tobt. Mehrfach ist es schon zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Truppen der Balkanstaaten gekommen. Doch ist zu erwarten, daß die Gefahr eines Krieges zwischen den Verbündeten schließlich durch Vermittlung beseitigt werden wird. Österreich- Ungarn  und Italien   haben, da keines dem anderen traut, zunächst auf eine Expedition nach Albanien   verzichtet. H. B.

Gewerkschaftliche Rundschau.

Ein schreckliches Unglück ist der deutschen   Arbeiterschaft passiert: in Zukunft werden wohl keine Vertreter der Reichsregierung mehr Arbeiterkongresse durch ihre Anwesenheit zieren. Schade, daß damit das schöne Einvernehmen gestört ist, das ja von jeher zwischen Arbeiterschaft und Regierung geherrscht hat! Die Schuld daran tragen aber nicht etwa die roten Gewerkschaften, sondern einzig und allein sanfte blaue Organisationen. Auf dem Ver= bandstag der Hirsch- Dunckerschen Gewerkver= eine waren zwei leibhaftige Regierungsvertreter erschienen, der eine vom Staatssekretär des Innern, der andere vom Reichs­versicherungsamt entsandt. Anfangs war alles eitel Harmonie. Der eine Regierungsvertreter erklärte: Die Gewerkvereine ver­dienen und erfahren die Beachtung der Reichsregierung, weil sie die bestehende Staats- und Wirtschaftsordnung anerkennen." Und der Sendbote des Reichsversicherungsamtes belobte die taktvolle und zweckentsprechende Vertretung" der Hirsch- Dunckerschen Ge­werkvereine vor dem Reichsversicherungsamt. Wie übel lohnte aber der Verbandssekretär Gleich auf dieses väterliche Wohlwollen der Regierung! In einem Vortrag über das Rechtsverhältnis zwi­schen Unternehmern und Arbeitern fand er treffliche Worte der Kritik an den ungeheuerlichen Rechtszuständen im deutschen   Vater­