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Die Gleichheit

Syndikalisten in ihren Reden erklärt, Mailand   sei ein Pulverfaß und der kleinste Funke genüge, um einen lohenden sozialen Brand zu entfachen. Allein in Wirklichkeit zeigte sich die Mailänder   Arbeiterschaft weder kampfeslustig noch kampfes­bereit. Als einer der Hauptführer der syndikalistischen Rich­tung verhaftet wurde, erfolgte aus der Arbeiterbewegung heraus kein Protest, und noch weniger zeigte sich Neigung zu einem Generalstreif. In den nächsten Tagen wurden weitere Verhaftungen vorgenommen, unter anderem kam der Sekre­tär der syndikalistischen Metallarbeiterorganisation hinter Schloß und Niegel. Auch diese dreisten Stücke der Reaktion lösten beim Mailänder   Proletariat keine Kampfesstimmung aus. Das gerichtliche Verfahren gegen die Verhafteten wurde eröffnet. Das Mailänder   Gericht erwies sich als Vertreter und Nächer der Metallindustriemagnaten, und zwar beson­ders der Vorsitzende Allara. Die angeklagten Gewerkschafts­angestellten, Streifenden und alle, die irgendwie in Bezie­hung zu dem Ausstand gebracht werden konnten, sollten eine ,, exemplarische Strafe" erhalten. Dieser Absicht gemäß ging das Gericht noch über das Maß der Strafen hinaus, die der Staatsanwalt beantragt hatte. So wurde der Sekretär der Metallarbeiterorganisation zu anderthalb Jahren Gefängnis berurteilt, und unerhört harte Strafen wurden auch über seine Mitangeklagten verhängt, obgleich sich unter ihnen Leute befanden, die lediglich Zuschauer bei einer Versamm­lung gewesen waren.

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Ganz unerwartet spielte sich nun im Gerichtshof eine er­schütternde Szene ab, die die Leserinnen der Gleichheit" be­sonders interessieren und in ihnen starke, tiefe Gefühle der Solidarität erwecken wird. Als der Urteilsspruch bekannt wurde, ertönte im Hofe des Gerichtsgebäudes und auf der Straße davor herzzerreißendes Weinen und Jammern, Ver­zweiflungsschreie erfüllten die Luft. Die Frauen der Verur­teilten ließen ihrem Entsezen freien Lauf. Manche sanken ohnmächtig zu Boden, andere riffen sich die Kleider vom Leibe und rauften sich das Haar. Gerade die Frauen fühlten sich am härtesten getroffen, deren Angehörige gar nicht am Streik beteiligt waren. Unter den Verurteilten befand sich zum Bei­spiel ein Handwerker, ein Juwelier. Die dem Klassenkampf fernstehenden Frauen konnten nicht verstehen, weshalb die Familien ,, von Rechts wegen" des Ernährers beraubt werden sollten. Hätte eine Krankheit, der Tod das verschuldet, so würden die Frauen mit südländischem Temperament die Un­gerechtigkeit und Grausamkeit der Natur verflucht haben. Aber hier trat ihnen eine noch unerbittlichere Macht entgegen, die sie bis dahin nicht erkannt hatten. Das Gericht enthüllte sich als der Sachwalter, der Büttel der kapitalistischen   Unter­nehmer. Gesellschaftliche Mächte zeigten sich, die in ihrem Walten an Unerbittlichkeit dem Tode gleichkommen, in ihrer Grausamkeit ihn oft genug übertreffen. Fassungslos standen die Frauen dem Unbegreiflichen gegenüber. Wie, war das Gericht nicht dazu da, Recht zu sprechen, die Unschuld zu schir­men? Und nun überlieferte es Schuldlose nebst ihren Fa­milien einem harten Los! Wer weiß, ob nicht gerade der An­blick der verzweifelten Frauen der Funke gewesen ist, der den großen Brand der Empörung unter der Mailänder Arbeiter­schaft entzündete. Er hat unzweifelhaft die Empfindung, das Verständnis vieler Proletarier dafür geweckt, daß die gefäll­ten Urteile Ausflüsse einer brutal zynischen Klassenjustiz schlimmster Art waren. Tatsache ist jedenfalls, daß mit einem Schlage in den proletarischen Massen die Erkenntnis lebendig wurde, in den Urteilen liege eine Demütigung, eine Heraus forderung der Arbeiterschaft vor, die nicht in schweigender Duldung hingenommen werden dürfe. Etwas mußte ge­schehen, um die Schmach zurückzuweisen. Das war die Stim­mung, die rasch immer weitere Kreise ergriff.

Schon am Tage, wo das Urteil gefällt worden war, traten die juristischen Verteidiger der Verurteilten zusammen. Ver­schiedenen politischen Parteien angehörend, beschlossen sie, ein parteiloses Komitee" zu gründen, um einen Protest gegen das infame Urteil einzuleiten. Selbstverständlich wäre

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das Vorgehen bedeutungslos geblieben, wenn nicht gleich­zeitig die Vertreter der Gewerkschaften und der sozialistischen  Partei eine energische Protestaktion beschlossen hätten. Auf Veranlassung von drei Parteigenossen fand eine gemeinsame Sigung von Vertretern der reformistischen und der syndika­listischen Richtung statt, die sich sonst stets auf das erbittertste bekämpfen. Waren ja die syndikalistischen Gewerkschaften in Mailand   zu dem Zweck gegründet worden, die reformistische Arbeitskammer zu vernichten. Trotz aller Gegensäße und Brüderfeindschaft gelang es, eine zeitweilige Verständigung zwischen Reformisten und Syndikalisten herbeizuführen. Von diesem Augenblick an rückte die Idee des Generalstreifs in greifbare Nähe, gewann Leben und Gestalt, ward zur Tat. Der Generalstreik war die Losung von Versammlungen der organisierten Arbeiter, die in der Arbeitskammer von Refor. misten und von Syndikalisten abgehalten wurden. Die Massen schienen sie erwartet zu haben. Fabriken, Werkstätten blieben Montag leer. Streifposten gingen durch die Stadt. Vor allem kam es darauf an, die Trambahnangestellten zum Ausstand zu bewegen. Die allgemeine Arbeitsruhe konnte rasch und stark um sich greifen, wenn der Tramverkehr aufhörte. Tau­sende und aber Tausende von Proletariern konnten ihre Ar­beitsstelle nicht erreichen, wenn keine Stadt- und Vorortsbahnen zirkulierten. Darum konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Polizei, der Behörden wie die der organisierten Arbeiter gleicherweise auf das Verhalten der Trambahnangestellten.

Die Frage ist mit durch die Energie und Opferwilligkeit der Frauen entschieden worden. Frauen Angehörige der Tramführer, streikpostenstehende Arbeiterinnen, Genoffin­nensuchten die arbeitswilligen" Kondukteure zur Ein­stellung des Dienstes zu überreden. Wenn das nicht half, packten sie die Arbeitswilligen mehr oder weniger sanft an den Armen und führten sie davon. Wo auch dieses Mittel versagte, warfen sich die Frauen auf das Tramgeleise, um die Streitbrecher an der Arbeit zu hindern. Die Polizei ver­schuldete wilde Szenen und nahm Verhaftungen vor, dar­unter die eines Berichterstatters des sozialdemokratischen Avanti" und des Sekretärs der reformistischen Arbeits­fammer. Viele Fabriken und Werkstätten mußten schon am ersten Tage aus Mangel an Arbeitswilligen geschlossen wer­den. Allein noch war der Streit nicht allgemein. Einige Trams verkehrten weiter, und im Zentrum der Stadt pul­fierte das Leben noch ziemlich stark.

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Die Leitung des Streiks lag in den Händen der Gewerk­schaften, die Partei nahm an den gemeinsamen Sizungen der Vertreter beider Richtungen nicht teil, wohl aber for­derte der Avanti" das Zentralorgan der Partei in Artikeln die Mailänder Arbeiterschaft zum Kampfe und zum Generalstreit auf, und die meisten Redner, die das gleiche taten, waren Parteigenossen in offizieller Stellung. So Ge nosse Mussolini  , Redakteur des Avanti" und Partei­vorstandsmitglied, Genosse Lazzari, Parteisekretär, Ge­nosse Treves, Abgeordneter, Genossin Balabanoff  , Barteivorstandsmitglied und Redakteurin des Avanti". Die Syndikalisten beabsichtigten, der Bewegung den Charakter eines Pressionsstreits zu geben: eine Kommission sellte die Behörden vor die Entscheidung stellen, entweder baldige Behandlung der eingelegten Berufung gegen die Urteile, die den Protest des Proletariats heraufbeschworen hatten, und sofortige Freilassung der nach dem Prozeß Ver­hafteten, oder aber Fortdauer des Streifs. Die Partei­genossen mit dem Avanti" an der Spize waren dagegen der Meinung, der Streik solle bloß als Demonstra tionsstreit geführt werden. Ohne Rücksicht auf die un­mittelbaren praktischen Ergebnisse solle er lediglich als Kraft­äußerung des klassenbewußten Proletariats gewürdigt wer den. Dieser Unterschied. der Auffassung führte erfreulicher­weise nicht zu polemischen Auseinandersetzungen, er machte sich nur im Ton der Neden und der Artikel bemerkbar. So war es gerade Genosse Mussolini  , der durch seine Rede die Massen dazu bestimmte, sich nach dem Domplatz zu be­