Nr. 21
Die Gleichheit
unterrichtet sind, so wird man sie bei der Ausstellung von Vorschlagslisten nicht übergehen können. Die Befürchtung wird gegenstandslos, es fehle an geeigneten, geschulten weiblichen Vertretern. Jedwede soziale Anerkennung und Beachtung muß erkämpft werden,- auch die der Berücksichtigung der Frauen bei der Aufstellung von Kandidaten zu den Vertreterkörperschaften der Krankenkassen.
Die Aufflärung der Frauen muß fortgesetzt planmäßig betrieben werden, es genügt nicht, daß sie erst in letter Stunde vor der Wahl einfegt. Das Gebiet der sozialen Versicherung ist nicht so spröde als Gegenstand der Belehrung, wie manche meinen. Im Gegenteil: das tägliche Leben schafft hier unausgesetzt Berührungspunkte. Bei der Besprechung der Dinge, wie sie sind, läßt sich leicht darauf hinweisen, wie sie verbessert werden können, wie die Mutterschaftsfürsorge, die Hauspflege usw. ausgestaltet werden müßte. Wird das alles berücksichtigt, so werden die nächsten Wahlen bessere Resultate für die Frauen zeitigen. Fr. Kleeis.
Katharina Breschko- Breschkowskaja.
( Schluß.)
Da Katharina Breschkowskaja die lange Untersuchungshaft angerechnet worden war, hatte man sie nicht zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschickt, sondern sie dort bloß" einer fogenannten„ freien Ansiedlung" zugewiesen. Der Zwangs arbeit entging sie damit freilich nicht. Die infolge des bereits erwähnten Fluchtversuchs über sie verhängten weiteren vier Jahre„ Katorga"- Zwangsarbeit- mußte sie ungemildert abbüßen. Nach Ablauf der schrecklichen Zeit war die sozia listische Propagandistin keineswegs frei. Um sie unschädlich" zu machen, wurde ihr der Aufenthalt in einer Ansiedlung in Sibirien vorgeschrieben, mit anderen Worten, sie war verbannt und unter Polizeiaufsicht gestellt. Erst 1896 erhielt sie die Erlaubnis, nach Rußland zurückzukehren.
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22 Jahre war Ratharina Breschkowskaja der Heimat fern, war sie unfrei gewesen, denn im Jahre 1874- nicht 1877, nicht 1877, wie ein übersehener Druckfehler in letzter Nummer vermuten läßt war sie verhaftet worden, und sie hatte den Kerker nur verlassen, um nach Sibirien verschickt zu werden. Als sie nach mehr als zwei Jahrzehnten der Abwesenheit auf den Arbeits- und Kampfplay in Rußland zurückkehrte, fand sie vieles verändert. Die meisten ihrer Freunde und Waffenbrüder waren im Kampfe gefallen. Die einen deckte das Grab in Sibiriens Schneefeldern, die anderen lagen im Hofe der Peter Paul- Festung verscharrt oder waren in dem„ steinernen Sack", wie der Volksmund diese Festung nennt, lebendig eingefargt. Und was schlimmer als alles schien: wer die Dinge an der Oberfläche sah, der konnte meinen, alles Ringen und Opfern der friedlichen Propagandisten wie später der Terroristen sei vergebens gewesen. Dem Anschein nach saß der Absolutismus fester im Sattel als je, hatte er über die Revolutionäre gefiegt. Doch das Leid um die geliebten Freunde und der Schmerz über die Niederlage der Sache, der sie sich geweiht, vermochten in Katharina Breschkowskaja weder den Glauben an die Gerechtigkeit dieser Sache zu erschüttern, noch ihren Kampfesmut zu brechen. Schnee im Haar, war sie, die Getreue, innerlich die gleiche geblieben und hing mit derselben heißen Hingabe wie vor 22 Jahren an den revolutionären Befreiungsideen ihrer Jugend.„ Sibirien hatte es nicht vermocht, uns( den Alten) das arbeitende Volt vergessen zu machen, und das Gefängnis hatte uns nicht die Lust genommen, feiner Befreiung zu dienen." So lautete ihr Glaubensbekenntnis nach der Rückkehr aus Sibirien .
Ms sie das Ende ihrer Verbannung herannahen sah, so er zählt Katharina, lauschte sie gespannt auf jedes Wort, auf jede Nachricht, verschlang sie gierig jede Zeile, die ihr Aufklärung über die Zustände zu Hause" gaben. Langsam hatte sie sich dem Ural genähert und geheime Versammlungen der sozialistischen Jugend besucht. Doch hier wurde der„ Großmutter" wohl die herbste Enttäuschung ihres Lebens: die sozia
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listische Bewegung hatte andere, ihr fremde Wege eingeschlagen. Bitter flagte Statharina Breschkowskaja über den vielen Widerstand, auf den sie stieß, als sie es versuchte, da anzuknüpfen, wo vor 22 Jahren der Faden ihres revolutionären Wirkens gerissen war. Denn was sie predigte, das war die Notwvendigkeit des Appells zur Erhebung an die Bauernschaft und die rücksichtslose Anwendung des Terrors gegen einzelne hochgestellte Persönlichkeiten, um das absolutistische Regime zu untergraben und zu stürzen und die sozialistische Gesellschaft einzuführen.
" Großmutter" sah nicht, was sie nicht sehen wollte: die in fräftigen Fluß gekommene Umwandlung der spezifisch russischen Verhältnisse in typisch kapitalistische und die Folgen davon: die andere Auffassung von dem revolutionären sozialistischen Kampf und seiner Methoden. Katharina Breschkowskaja entging die gewaltige Veränderung der gesellschaftlichen Wirtschaftsbedingungen in Rußland , sie unterschätzte die Bedeutung der neuen gesellschaftlichen Macht, die auf der geschichtlichen Schaubühne des wirtschaftlichen Lebens erschienen war, das industrielle Proletariat. Sie ignorierte es, daß auch in den Bauernmassen kapitalistische Entwicklungstendenzen sich zeigten und die früheren sozialrevolutionären Anschauungen von der historischen Rolle der Bauernschaft als geschlossenes Ganze über den Haufen warfen. Es ist der Schatten der starken, unbezwinglichen Überzeugungstreue, daß die„ Großmutter" sich hartnädig weigert, die sozialrevolutionäre Weltanschauung ihrer Jugend der notwendigen Revision zu unterziehen. So ist sie nicht zu dem Ergebnis gekommen, das in der Partei der aufsteigenden Klasse des Proletariats verkörpert ist, in der Sozialdemokratie, die sich auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung ein festes wirtschaftliches Programm gegeben hat.
In die Heimat zurückgekehrt, ist es Katharinas erste Aufgabe, eine Zählung aller in allen Schichten" schlummernden revolutionären Kräfte vorzunehmen. In der Jugend, zumal der studierenden Jugend sieht sie jetzt wie einst das geeignete Element, die sozialrevolutionäre Propaganda, ins Volk zu tragen. Zu diesem Zweck agitiert und organisiert sie unter der Jugend, und unterstützt von dem Zauber ihrer starken, kampfbegeisternden Persönlichkeit gelingt es ihr, hier zahlreiche Anhänger ihrer Jdeen zu werben. Doch nicht allein der Ju gend ist ihre Zeit gewidmet. Katharina Breschkowskaja wendet sich unmittelbar an das Volt, agitiert und sammelt allen Gefahren zum Trotz enthusiastische Kämpfer. Sie schildert diese Zeit ihres Wirkens von 1897 bis 1903 felbst äußerst charatteristisch:" Ich brauchte nun nicht mehr zu Fuß zu gehen wie einst, denn ich hatte genug Geld, um mir ein Fahrbillet zu kaufen, und konnte deshalb in derselben Zeit eine zehnmal so große Strecke durchreisen wie früher. Ganze sechs Jahre waren die Eisenbahnen sozusagen meine Wohnung. Ich versammelte die Leute nachts auf Flußbarken, in städtischen Wohnungen, in Dorfhütten und Wäldern. Doch wie ganz anders war es jetzt, fast überall hatte jemand anders den Boden vorbereitet."
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Mehr als einmal war Katharina Breschkowskaja in Gefahr, bei ihrer Agitation erkannt und abgefaßt zu werden. Sie er zählt darüber:„ Einmal erschien die Polizei in Odessa in demselben Haus, wo ich weilte, und nahm eine Haussuchung vor. die List gelang. Ich, verkleidete mich sofort als Bäuerin Einen Monat später war ich bereits im Süden Rußlands als Französin. Durch allerhand umlaufende Gerüchte aufmerksam geworden, nahm die Polizei eine Razzia vor. Ich schlüpfte aus der Wohnung, als die Polizei noch im Nachbarhause fahndete, und kehrte zurück, als sie schon bei mir gehaussucht hatte." Die Jagd der Polizei auf die„ Großmutter" erfüllte die Parteigenossen mit ernsten Besorgnissen. Sie hielten es im Interesse ihrer Sicherheit wie ihrer Gesundheit für geboten, daß Katharina Breschkowskaja für einige Zeit ins Aus land ging. Sie selbst beteiligte sich an der Erörterung dieser Frage im Zentralfomitee, dessen Mitglied sie war, und nur ungern fügte sie sich dem Beschluß.