Nr. 23

Die Gleichheit

dein Auge frei?"( Goethe.) Immerhin erscheint ein solcher Versuch notwendig; wenn er auch zunächst nicht zu endgülti­gen Resultaten führen kann, so führt er doch bereits die not­wendige Korrektur des Gesichtswinkels herbei, sobald man die nun vorliegenden Tatsachen vergleicht mit dem, was sich ein leichtgläubiges Volk vorgestellt hat. Diese Vorstellungen sind ja eine recht wirksame Ursache des Krieges gewesen, und durch ihre Beseitigung wird sicherlich eine Verständigung er­leichtert.

Nach der heute in unseren leitenden Kreisen vielfach ver­breiteten Auffassung geht die Kulturentwicklung durch Grup­penbildung und Auslese vor sich. Eine Anzahl körperlich und geistig Tüchtiger tut sich hervor und erlangt da­durch eine bevorzugte Stellung. Unter Ausnutzung dieser Stellung( Wille zur Macht!) erlangt sie eine bessere Lebens­betätigung und eine höhere Kultur. Diese höhere Kultur läßt sich vererben, und sobald die neue, so erzeugte Kultur­schicht umfangreich genug geworden ist, geht der gekennzeich­nete Ausscheideprozeß neuerdings vor sich, wenn auch für eine verhältnismäßig kleinere Anzahl Menschen. Man kann ihn fich als eine sich stetig verjüngende Pyramide vorstellen. Ge. deckt wird die angezogene Auffassung durch einen Pseudo­darwinismus, der sich die wirkende Gruppenbildung auch innerhalb jedes einzelnen Volkes vorstellt, wobei er den Völ­fern die gleichen Rollen beilegt, die nach ihm die Individuen haben. Als hauptsächlicher Auslesefaktor der volklichen Grup­penbildung gilt der Krieg. Um die Wege und die Entwick­lung der höheren Kulturgruppe zu ebnen, muß der Krieg die Vernichtung oder doch die starke Schwächung der unter­bürtigen Gruppe einschließen. Daher ist nach solcher Auf­fassung der Krieg ein Naturfaktor der Entwicklung, dem man nicht entgegentreten darf im Interesse des Fortschritts und der Kultur. Ein namhafter Vertreter dieser Auffassung, Sigismund Rauh, hat im Tag" diesem Gedanken die folgende Form gegeben:

Bei steigender Kultur wird der Mann fortgesetzt fried­fertiger, fügsamer, arbeitsamer. Die immer weiter steigende Kultur aber mündet in Entartung aus. Wenn der Krieg nicht mehr das Vorrecht der stärkeren Horde, des stärkeren Stam­mes, des stärkeren Volkes auf ein Feld des Lebens feststellt, dann muß bei der wachsenden Bevölkerung der einzelne sich einschränken lernen. Und so endigt denn die Kultur, die ewig ungenügsame, in der stumpfen Genügsamkeit des Chinesen, der sich mit dem kümmerlichen Erwerbsgebiet eben einrichtet. Ist das, wenn uns der kriegerische Sinn gelähmt wird, nicht das notwendige Ende der Entwicklung in Deutschland  ? Wenn dann der Geist des Herrentums gänzlich einmal erlischt, wenn es keine Befehlenden und Gehorchenden, sondern nur noch Gleich­berechtigte und Rücksichtsvolle gibt, dann ist auch von dieser Seite die Kultur gelähmt.... Am gefährlichsten aber von allem wird die Überspannung des eigentlichen Kulturprinzips der Arbeit.... So sind die Kulturideale der Friedfertigkeit, Fügsamkeit und Arbeitsamkeit keine absoluten Biele; ein wenig und nicht zu wenig- urwüchsiger Kühnheit, her­rischen Stolzes und lässig zufriedenen Nurseins brauchen wir, soll unsere Kultur nicht degenerieren."

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Besonders merkwürdig erscheint die Verankerung der vor­stehenden Kulturauffassung mit dem Rechtsgebiet. Wenn der Krieg wirklich das Recht auf ein besonderes Feld des Lebens im Auslejeprozeß feststellt, dann ist natürlich die Vorberei­tung für den Krieg die höchste Aufgabe einer Nation. Der siegreich bestandene Krieg ist zugleich die moralische Recht­men, daß wir die ganze aufgerollte weitschichtige Frage vielfach von einem anderen Standpunkt aus betrachten als der Verfasser. Be­achtenswert und richtig dünkt uns aber von vielen einzelnen Ausführungen abgesehen seine Hauptthese: nämlich daß der Krieg die Auslese" der Bevölkerung nicht günstig, sondern un­günstig beeinflußt. Unserer Auffassung nach tut er das freilich als gesellschaftlicher und nicht als natürlicher" Faktor, wie der Ver­fasser sich ausdrückt, wenngleich seine Wirkungen auf biologisches Gebiet übergreifen. Die Redaktion.

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fertigung seiner selbst, und die Vorbereitung auf diese Recht­fertigung ist deshalb das höchste Ziel. Als der Ablaßkrämer Tegel   einmal seine Ablaßzettel feilbot, da kam zu ihm ein Ritter und verlangte Ablaß   für eine besonders schlimme Tat, die er aber noch nicht begangen habe, sondern erst noch be­gehen wolle. Tezel verlangte eine sehr hohe Summe und freute sich, als er sie erhielt, des guten Geschäfts. Nachts aber erschien der Ritter mitsamt seinen Knappen und nahm dem Ablaßkrämer nicht nur die gezahlte Summe, sondern die ganze Kasse ab. Allen Vorstellungen gegenüber blieb er taub und berief sich auf seinen Ablaßzettel. Eine solche Veräußerlichung des Bußgedankens, wie jener Ritter sie in die Praxis um­fette, finden wir heute in der Auffassung des Krieges als eines natürlichen Faktors der Emporentwicklung. Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte."

Man kann dieser Auffassung nicht vorwerfen, daß sie an einem Mangel an Logik leide. Es gibt genug Analogien aus der Natur, die sie ganz plausibel erscheinen lassen. Wie bei der Goldwäscherei durch fortwährendes Rühren die edlen und schweren Goldkörner sich am Boden festsetzen, so soll der Krieg die beteiligten Völker durcheinander bringen und das tüch­tigste und beste Volk an die ihm gebührende Stelle. Nietzsche  hat das in eine klare Formel gebracht: Geschichte nennt man den Umweg, den die Natur nimmt, um zu einem großen Menschen zu gelangen." Damit hat denn auch die besagte Pyramide ihre Spike bekommen, und es ist klar, daß die Pyramide nur ihrer Spike wegen da ist. Für die Einwen­dungen ethisch- christlicher Natur, Schutz der Schwachen usw. hat diese Auffassung keinen Raum, denn die Schwachen sind ja nur Mittel zum Zweck. Indessen wird durch die Nietzschesche übertreibung die Einseitigkeit der Gedankenfolge klar. Im Grunde genommen ist die ganze Beweisführung der Theo­logie entnommen. Sie ist eine bewußte Zielsetzung für die Natur, eine kindlich- naive Idealbildung, die durch die Praxis noch nicht genügend kontrolliert wird. Es wird mit der Auf­fassung des Krieges als wichtigsten Kulturfaktor ähnlich gehen, wie es dem Wunderglauben und Herenwahn ergangen ist, sie wird so lange geglaubt werden, bis ein tieferes Verstehen von Natur und Gesellschaft sie unmöglich macht.

Eine zur Beseitigung genügende Kritik der kriegerischen Kulturauffaffung ist daher in der Hauptsache von den Natur­wissenschaften zu erwarten. Der Punkt, bei dem die Natur­wissenschaften am ersten einsetzen werden, ist der Gedanke, daß die Verwirklichung des kriegerischen Ideals Menschen­opfer verlangt. Dafür hat schon der normal Denkende kein rechtes Verständnis, ihm erscheint vielmehr das Leben, noch dazu das Menschenleben, als eine der wertvollsten Äuße­rungen der Natur, die einfach als solche geschüßt und gepflegt werden soll. Der Krieg aber bewirkt das Gegenteil. Den hier Klaffenden Widerspruch hat Professor David Starr Jordan   scharf charakterisiert. Was er darüber sagt, lesen wir in Krieg und Mannheit", Verlag der Friedenswarte, Berlin   W, Bülowstraße 66, 1912. Es heißt da:

,, Wenn man in einer Rinderherde die stärksten Stiere, die schönsten Kühe, die vielversprechendsten Kälber vernichtet, so überläßt man damit die Zeugung der künftigen Herde dem dafür untauglichen Rest. Dies nennen wir Entartung, und es ist zugleich die einzige Art von Rassenentartung, die wir kennen.... Diese Tatsachen sind auch für die Menschheits­geschichte grundlegend. Im weiteren Sinne genommen ist jede Menschenrasse im wesentlichen einer Tierherde gleich.... Die einzige uns bekannte Rassenentartung wird durch jene. Kräfte bedingt, welche die besten Indibiduen vernichten und die zum Kriegshandwerk oder zu Kolonisationszwecken Un­tauglichen zu Vätern fünftiger Generationen machen."

Jordan hat in einer neueren Studie, die leider noch nicht im Deutschen   erschienen ist, War's Aftermath", Boston  , Houghton Mifflin& Co., die biologischen Verhältnisse unter­sucht, die sich in den Staaten ergeben haben, die durch den amerikanischen   Bürgerkrieg heimgesucht worden waren. Das Resultat seiner Untersuchung ist, daß der Krieg eine Um­