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Die Gleichheit

schen Wortes zu vergessen: Du denkst zu schieben, und du wirst geschoben."

Im Erlaß selbst kommt das Weben und Walten der gesell schaftlichen Mächte zum Ausdruck, die, von der gleichen Trieb­fraft bewegt den Interessen und Anschauungen der ver­schiedenen Bevölkerungsklassen, gegensäglichen Zielen zu streben. Während die einen zur durchgreifenden Demokratic in ganz Deutschland   drängen, widerstreben die anderen diesem Drängen mit zäher Kraft. Die kaiserlichen Verheißungen tragen die Muttermale der Geburt unter diefem Stand der Dinge. Gewiß: sie stellen das unmittelbare und geheime Wahlrecht zum Preußischen Abgeordnetenhaus   in Aussicht und sprechen es klipp und klar aus, daß das Klassenwahlrecht unhaltbar geworden ist. Aber sie erklären nicht ebenso unzweideutig, daß cs vom gleichen Wahlrecht abgelöst werden müsse, ja, das sonst so beredte Dokument schweigt darüber, welches Wahl recht denn an Stelle des Klassenwahlrechts treten solle. Es fündigt eine Reform des Herrenhauses an, die politisch wie moralisch dessen Kraft und Ansehen erhöhen würde. Im Hause der Demokratie ist hingegen fein Raum für das Zweikammer system, das in allen Staaten ein übles überbleibsel vormärz. licher Verhältnisse, eine Machtstärkung der Aristokratie und Plutokratie ist. Der französische   Senat ist ein abschreckendes Beispiel der Rolle, die Institutionen solcher Art als Fort­schrittsbremsen auch bei bestehendem allgemeinem Wahlrecht zur Volksvertretung spielen.

Außerdem: geht es denn einzig und allein um die Neu­ordnung der politischen Einrichtungen in Preußen und nicht vielmehr in ganz Deutschland  ? Der Reichstag hat diese Frage

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Revolution, ungeheure Aufgaben vor sich: ist es am Werk, den kaum konstitutionell verhüllten Absolutismus des Zarats in die reifste bürgerliche Demokratie umzuschmelzen.

Wir vermögen uns nicht die Genügsamkeit des Vorwärts" zu eigen zu machen, der erklärt: Aber es ist unseres Er­achtens im gegenwärtigen Moment nicht die Hauptsache, scharf­finnige Rechenerempel darüber aufzustellen, ob die Regierung 50 oder 75 oder 100 Prozent unserer Forderungen zu erfüllen verheißt." Unseres Dafürhaltens ist das allerdings die Haupt­fache. Dent, was die Regierung gewähren will, müssen die Massen gegenüberstellen, was sie fordern. Es ist die Voraus­segung dafür, alle politischen Kräfte des Volkes" für die schleunigste und durchgreifende Demokratisierung Deutschlands  zu mobilisieren. Sollen die großen Ursachen des Weltgeschehens auch bei uns große Wirkungen zeitigen, so bedarf es eines Volkes, das weiß, will und handelt, eines Voltes, das sich politisch aktiv für bestimmte große Ziele einsetzt. Dhne solch ein Volt werden kleine gewährte Geschenke an die Stelle großer er­strittener Rechte treten. Ohne solch ein Volt wird etwas mehr oder minder Demokratie in der Form eine vergoldete taube Nuß sein, mit der Kapitalismus   und Imperialismus spielen lassen, wie jekt in England und Frankreich  . Ohne solch ein Volt wird die Geschichte angesichts des erhabenen Ernstes" der Zeiten ihr Urteil über alle Erlasse, Verfassungsausschüsse, Parlamentsreden, gelehrte und ungelehrte Literatur zur Frage der Neuorientierung in dem Wort zusammenfassen: Große Ur­sachen, Kleine Wirkungen.

Opposition zu Gotha  .

Vom 6. April an hat in Gotha   die Konferenz der sozial­demokratischen Opposition getagt. In ihrem Präsidium saß der sturmerprobte, treue Genosse Wilhelm Bock  . Vor 42 Jahren hat er in der nämlichen Stadt dem Einigungskongreß der deutschen   Sozialdemokratie präsidiert. Heute, siebzigjährig, führte er den Vorsitz bei einer Tagung, die die Spaltung der Partei zur vollendeten Tatsache macht, und Wilhelm Bock  steht in dem Lager, wo die Fahne der Rebellion gegen die Kriegspolitik der Mehrheitsanhänger, gegen die Preisgabe der Grundsäge des internationalen Sozialismus weht. Das sind Tatsachen, die zu denken geben.

bejaht. The er in seinen Arbeiten die Osterpause eintreten Die Osterkonferenz der sozialdemokratischen ließ, beschloß er die Einsetzung eines Verfassungsausschusses, dem nicht bloß die beiden sozialdemokratischen Fraktionen, sondern auch die Parteien der bürgerlichen Linken und des Zentrums die Aufgabe zugewiesen haben, die Rechte des Volts und des Parlaments zu erweitern. Wir erwarten von dem Dornenstrauch des dürren parlamentarischen Bodens sicherlich feine vollfaftigen, reifen demokratischen Feigen. Jedoch die Einsetzung des Ausschusses hat seine Bedeutung als Einge­ständnis, wie brennend die Demokratisierung der politischen Einrichtungen in Deutschland   geworden ist. Und in der Tat! Sind nicht in allen Bundesstaaten erste Kammern zu schließen? Die vorfintflutlichen Wahlsysteme in Mecklenburg   und Braun schweig, das nach belgischem Muster kopierte Pluralwahlrecht in Sachsen  , andere überlebte Wahlrechtsarten halten das werk­tätige Bolt politisch am Boden. Das Reichstagswahlrecht heischt dringend eine Reformierung. Die Neueinteilung der Wahlkreise ist unabweisbar geworden, das Wahlrechtsalter muß herabgesetzt, die infamierende Rechtlosigkeit der unter­stützungsbedürftigen Armut beseitigt, das Frauenwahlrecht ein­geführt werden usw. In der Verfassung darf nicht länger der Absolutismus   in Unterhosen spazieren gehen", um einen Aus­spruch Bismarcks anzuführen. Zore auf für das parlamen. tarische Regime, für die ganze Demokratie!

Des Kaisers Verkündigung erwähnt den vielverschlungenen Komplex dieser Fragen mit keiner Silbe, obgleich er im Reichs­ tag   wieder und wieder erörtert worden ist, obgleich er auf der Tagesordnung des öffentlichen Lebens steht, mit den Riesenbuchstaben zwingender Notwendigkeiten größter Be­völkerungsschichten dort eingeschrieben. Das Schweigen dar über muß um so mehr auffallen, als der Dstererlaß an Herrn von Bethmann Hollweg   auch als Reichskanzler gerichtet wor­den ist. Und zuletzt, aber wahrlich nicht am mindesten: erst nach Kriegsende soll das Volk in Preußen die bescheidenen Blüten dieses frostigen Reformfrühlings pflücken. Die Zeit ereignisse antworten jedoch auf die Frage nach dem Wann einer entschiedenen Demokratisierung der politischen Dinge in Deutschland   mit einem gebieterischen: Sofort. Die Erfüllung ist möglich, Rußland   beweist es. Mitten in dem gleichen Krieg wie das Deutsche Reich  , allein unter erheblich schwierigeren, verwickelteren Umständen, harte militärische Niederlagen hinter sich; mitten in dem elementaren Sturm und Drang einer

Zur Zeit, da diese Nummer gedruckt werden muß, ist noch kein Bericht über die Verhandlungen und Beschlüsse der Gothaer Konferenz erschienen. Es liegt nur eine zusammenfassende Würdigung des Ergebnisses in der Leipziger Volkszeitung  " vor. Ein Konferenzteilnehmer schreibt dort unter anderem:

" Die unabhängige sozialdemokratische Bewegung hat in diesen Ostertagen einen Schritt getan, der zunächst unter den ungeheuren Ereignissen dieser Epoche zurücktritt. Aber wir vertrauen voll Zuversicht, daß die Geschichte der Arbeiterklasse die Ostertagung der sozialdemokratischen Oppo­sition Deutschlands   einst als den Ausgang einer neuen fräf­tigen Entwicklung der proletarischen Bewegung, als die Auf­erstehung der deutschen   Sozialdemokratie aus Frrung und Wirrung verzeichnen wird. Die Organisation der sozialdemo­kratischen Opposition, der Unabhängigen Sozialdemo­ kratischen Partei Deutschlands  , ist geschaffen, der Rahmen ist da, den unsere unablässige Arbeit füllen soll mit soziali­stischem und demokratischem Geist und mit proletarischen Massen.... Der Name ist kennzeichnend. Unabhängige, selb­ständige Politik, die gesteuert wird nach dem Kompaß des Programms und der Parteitags- und Kongreßbeschlüsse, ge­steuert wird allein nach den Interessen der Arbeiterklasse, un­abhängig von der Regierung wie von den bürgerlichen Par­teien, setzen wir der Politik der Mehrheitssozialisten" entgegen.

Die selbständige Organisation der Opposition wurde ge­schaffen. Und damit zugleich die Einheit der Opposition. Der neue Rahmen umfaßt alle ihre Glieder und Gruppen, mit Ausnahme einer einzigen fleinen Sefte.... Die beiden