Nr. 35

Die Gleich beit.

Verkrippelung entdeckt, Meldung innerhalb eines Monats. Bei Hebamme und Arzt wird bei Leistung von Geburtshilfe eine Untersuchung des Neugeborenen in bezug auf Verkrüppe­lung gefordert. Auch von Lehrern und Lehrerinnen fordert man ein gleiches, immer verbunden mit Meldung. Jeder Stadt- und Landkreis soll laut Gesetz Unterbringungsmög. lichkeiten für Berkrüppelte haben oder sie schaffen.

Eine Berkrüppelung im Sinne des Gesetzes liegt vor, wenn ein Kind oder ein Erwachsener infolge eines angeborenen oder erworbenen Knochen-, Gelent, Muskel- oder Nerven­leidens oder Fehlen eines wichtigen Gliedes im Gebrauch der Gliedmaßen so behindert ist, daß eine Erwerbsbehinderung gewiß ist. Trifft man rechtzeitig Fürsorge, läßt man eine regelrechte und zielbewußte Krüppelfürsorge eintreten, fann man ungemein das Leiden selber und auch seine Folgeerschei nungen beeinflussen. Schon allein die Widerstandsfähigkeit zu heben, die Lebensenergie zu stärken ist eine Notwendig feit. Außerdem kommt für alle Strippelfinder eine ziel­bewußte Ausbildung in einem geeigneten Handwerk, eine besonders frühzeitig einsetzende Berufsberatung in Frage.

Es ist selbstverständlich, daß das Elternhaus in diesen Fra­gen nicht ausscheidet, sondern sie vor allem mit zu erledigen hat. Nur da, wo das Elternhaus berjagt, muß die öffentliche Fürsorge Arzt, Hebamine, Lehrer oder Lehrerin- e- ein fegen.

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Man brüllt

Von Erna Büsing.

Wir sind noch alle frant am Kriege; das erfahren wir Tag für Tag, stündlich! Die Brutalität ist uns zur Gewohnheitserschei nung geworden; denn über Roheiten geht man zur Tagesordnung über. Der Militarismus, der sogar das Recht auf ein Seelen­leben mit Beschlag belegte, tötete eben in nicht zu zählenden Fällen die Keime zu feinerem Empfinden. Des Krieges Grau­samleit erwürgte das Gute in uns. So ist uns die Verinner Ichung abhanden gekommen, das Bartgefühl ist verschüttet und daher kommt es heutzutage leider nicht auf den Geist, sondern auf die Stimmittel an. Den Ton unserer Zeit schildert man

Feuilleton

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Die Früchte des Krieges K/ Kummer, der das Mark verzehret, R/ Raub, der бab und Gut verheeret, I/ Jammer, der den Sinn verkehret, E/ Elend, das den Leib befchweret, G/ Graufamkeit, die Unrecht fübret: Sind die   Frücht', die der Krieg genähret Friedrich v.   Logau[ 1604-55.]

Schwerter der Arbeit

De jer Krieg war zu Ende. Auf den Schlachtfeldern gingen Män­ner und sammelten alle Schwerter, blind und rostig von Blut. Sie gingen zum Schmied droben auf der Bergheide und brachten ihm die Waffen.

" Bergrabe sie auf der Heide, daß niemand sie findet bis zum nächsten Kriege. Bis der Tag da ist, an dem wir von neuem zu bir kommen. Dann grabe sie aus und schleife sie blank und scharf!" Sie gingen. In ihren Augen flammte Blutgier.

Der Schmied sah den Männern nach. Ihr säet eine böse Saat. Ihr wollt mit ihr die Erde schänden. Hütet euch." Sie nannten than einen Narren und Feigling und zogen wieder in ihre Städte hinunter, ein Streitlied singend.

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Ueber der Bergheide ging die Sonne unter. Der Schmied stand vor dem Haufen rostiger Waffen und sah in den Abend hin­aus. Der rote Widerschein der untergehenden Sonne strömte blutig über das weite Band über die Waffen zu Füßen des Schmiedes, als seien fie noch feucht von frischem Blute.-

Der Manu say hinaus.

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Weit hinaus in die Ferne.

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eigentlich zutreffend in zwei Worten, indem man sagt: Man brüllt". Diejenigen aber, die auf Grund ihrer Veranlagung und ihrer Entwicklung den Maulforbzwang wirklich nicht ent behren können, brüllen am lautesten.

Man brüllt bei den Ringkämpfern und bei den Boxern, im Tingel- Tangel und im Kabarett, ja, selbst im Zirkustheater. Im Kriege reichgewordener Pöbel amüsiert sich lärmend. Was füm. mert ihn die Not in den Hinterhäusern. Man schreit in Blafaten, man brüllt in Handlungen, man bekommt Genicsbarre beim An­stieren des Aufklärungsfilms. Uebermütige, lose Buben brüllen auf in Rassen- oder Nationenhaß und tragen neue Spannungen in die Atmosphäre. Buntbemühte Studenten und Gymnasiasten schreien in falsch verstandenem Patriotismus. So betreibt un­fere Beit die systematische Ausbildung zu Radauhelden.

Auch auf dem Gebiete der Politik braucht jetzt der lauteste Po­litiker um Beifall nicht zu bangen. Man steht einfach im Banne des Gebrülls. Man protestiert oft und weiß nicht mal warum; nur, weil es mit Geräusch verbunden..

Man brüllt eben; nicht aus Sühnheit oder Mut, sondern aus einem Irrtum heraus. Das hat man freilich auch schon zu an­deren Zeiten verstanden. Denn als Lassalle bei einer Rede in  Berlin einmal von der Bühne weg verhaftet wurde, haben Ar­beiter Beifall geschrien.

Viele aber gebärden sich jetzt absichtlich so laut, nur um Auf­sehen zu erregen, um zu gefallen. Sie erdrosseln sich jedoch selbst, weil sie in ihrer Sucht, den Menschen zu gefallen, ihre Seele ertöten. Wir Frauen aber, und gerade wir sozialdemokratischen Frauen, wollen uns unserer Seele bewußt sein und auf ihre Straft rechnen. Wir, die geschworenen Feinde der rohen Gewalt, wiffen Gefühlswerte zu schäßen. Wir führten einen unblutigen Kampf um das Frauenwahlrecht, um unser Recht auf Arbeit; wir vertrauen auf den Sicg geistiger Waffen und das Geistige im Kampfe des Proletariats zieht uns immer wieder an. Wir wollen, daß unser Sehnen nach Erlöstwerden ruhige Bahnen geht und sich nicht in lautem Schreien austobt. Weil wir das aber wollen, müssen wir an der inneren Umstellung der Jugend arbeiten. Wenu der uns notwendige Gemeinsinn gewachsen ist, die Krise des Uebergangs überwunden wurde und die Bett tommt, in welcher der ruhige, warmherzig empfindende, sich zur Reife sehnende Mensch wieder etwas gilt, muß ein reiches Ma. terial in unseren Reihen vorhanden sein.

Da flang ein heller Ruf über die Bergheide. Ein Enkel lief ihm enigegen. Er hob ihn hoch auf seine Arme und zeigte ihm die scheidende Sonne.

Morgen geht die Sonne wieder auf!" jubelte das Kind.

θα

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morgen scheint uns die Sonne wieder. Siehst Du das viele rostige Eisen am Boden? Morgen wollen wir beginnen, Pflüge daraus zu schmieden, daß der Landmann die öde ge wordene Erde bebauen kann."

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In der Schmiede auf der Bergheide stieben die Funken zum Rauchfang hinein. Hart dröhnt der Hammer auf den   Amboß. Viele blanke Pflugscharen liegen schon am Boden.- Draußen braust der Wintersturm über das Land. Alles Leben scheint er. storben. Es schläft aus tief in der Erde und wartet auf die Sonne.

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Der alte Schmied schafft raftlos Tag um Tag. Wenn er seinen Mein Sohn Enkel sieht, dann geht es hell über seine Büge. starb da draußen am Schwert. Du sollst einmal als froher Menjeh frei den Pflug führen."

Ein Februarabend.

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Feucht weht es über das Land, der Schnee verging, schwarz und fruchtbar liegt die Erde. Blinkende Pflugscharen gehen hin­durch..., ein schwerer herber Hauch strömt aus den Erdschollen und macht die Augen der Menschen leuchtend in Freude am Leben. Die Schmiede droben auf der Bergheide liegt still.

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Der Schmied und sein Enkel gehen hinter dem Pfluge. Der Tag fam, an dem jene Männer glaubten, ihre Zeit sei ge­tommen. Sie brachen auf mit großem Getöse und zogen nach der Bergheide, die Schwerter zu fordern. Am Abend famen fie an. Die Natur lag in unendlicher Ruhe unter dem Abend himmel.

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Der Schmied stand vor der Tür. Die letzte Furche war gezogen. Müde und zufrieden schaute er in den fintenden Tag.