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Für unsere Mütter und Hausfrauen

während der Kulischwarm unter lautem, feigem Geheul nach allen Seiten davonstiebt... und dann ist das Ganze vorbei.

Der Malaie bleibt auf dem Wege zurück, mit sechs Kulis, die er bei den Zöpfen gepackt hält. Es sind sechs von denen, die zu­gesehen haben und insofern unschuldig sind; das böse Gewissen lieh ihnen nicht wie den Schuldigen Flügel, und darum wurden sie ge­fangen. Glaubt nicht, daß Ling Chang zwischen diesen war; er sprang in der Ferne davon wie ein Hirsch, feurig und frei. Aber selbst wenn die eigentlichen Missetäter entkamen, was schadete es, wer konnte den einen Chinesen von dem anderen unterscheiden, und das Zuchthaus hatten sie doch allesamt verdient. Der Malaie bindet die sechs Zopfenden zusammen, nicht ohne Zeichen persönlichen Abscheus, indem er das schmutzige Gewürm berührt, aber er ist ein Beamter und kennt seine Pflicht- und jetzt können sie ihm nicht davon laufen( denn wie in aller Welt sollten sechs Chinesen sich einigen, in dieselbe Richtung zu laufen), und nun zur Polizei! Ihr Schweine!

Fo, der windelweich gehauen und bewußtlos auf dem Wege liegt, schenkt der Malaie kaum einen Blick; was geht das blutende Tier ihn an? Der Kuli ist schändlich ermordet worden, und die Gerechtigkeit, die natürlich ihren Gang gehen muß, besteht darin, die Missetäter auf der Polizei zu strafen. Pegi, vorwärts... lekas, und ein bißchen plöglich!

Unten auf der Orchard Road, wo die vornehme Welt im Traber­wagen fährt, wurde man zehn Minuten später Zeuge des nicht un­gewöhnlichen Anblicks, daß ein Rudel Chinesen, an den Zöpfen zu sammengebunden und alle in Tränen aufgelöst, von einem gebieten­den und von Verachtung geschwellten malaiischen Schuhmann in Arrest geführt wurden. Wieder ein halbes Dußend gelbe Banditen, die natürlich nichts getan hatten; das hatten diese Halunken ja nie! Als der Leichenwagen sich eine Stunde später bei der Aasstelle einfand, um das Opfer zu holen, war Fo verschwunden; er hatte eine Blutlache auf dem Wege hinterlassen und die Trümmer des Rickschaws, die in den Graben geworfen waren. Ob er wieder zum Bewußtsein erwacht war oder ob einer der heimlichen chinesischen Vereine die Leiche aus dem Wege geräumt hatte, das war eine von den Fragen, die den englischen Beamten, die der Justiz in Singapur  vorstehen, graue Haare wachsen läßt. Jetzt war nichts anderes zu tun, als die sechs Mörder freizulassen! Von dieser Art Blindekuhspielen mit den Farbigen hatte das Gericht manche Probe zu bestehen.

Raum acht Tage später ereignete sich ein neuer Mord unter den Chinesen; diesmal gelang es dem Gericht, auf die Leiche Be­schlag zu legen, wogegen sich keine direkte Spur fand, die auf den Täter hinwies; es ist eine Eigentümlichkeit bei chinesischen Ver­brechen, daß gewöhnlich mehrere an einem Mord beteiligt sind. Dieser neue Mord war von besonders unheimlicher Beschaffenheit. Es war ein junger Rickschawkuli, der in seinem Logis in der South Water Street ermordet vorgefunden wurde, ein insofern Namen­loser, als er Ling Chang hieß und im übrigen ein Gelber zwischen Gelben war. Er wurde eines Morgens mit durchschnittener Kehle gefunden, tot wie ein Stock. Das Abscheuliche bei dem Morde war, daß der Tote auf eine tierische Weise verstümmelt war, in­dem die Nase und die Ohren abgeschnitten und beide Augen aus­gefragt waren. Etwas Geld, das er besessen haben sollte und wor auf er des Nachts schlief, war fort. Nun gut, einige eingeborene Detektivs wurden in die chinesische   Bevölkerung hineingeschmuggelt, und bereits tags darauf kehrten sie mit Hoang Tchin Fo zurück, der der Untat überwiesen und gehängt wurde.

Er war es gewesen, der Ling Chang ermordet hatte; hier han belte die Gerechtigkeit endlich einmal sehenden Auges.

Der Verdacht fiel augenblicklich auf Fo, weil er am Tage nach dem Morde als feiernder Lebemann angetroffen wurde, während alle anderen Kulis für ihr tägliches Reisgericht schufteten. Ja, Fo fiel seiner Natur zum Opfer, seiner unbedachtsamen Lust, den Augenblick zu genießen. Anstatt seinen Raub bis auf weiteres zu vergraben und später, wenn die Sache in Vergessenheit geraten war, einen Anteil an einem einträglichen Unternehmen zu kaufen, an einer Opiumtneipe oder an einem Mädchenimportgeschäft, ging er geradeswegs in den Sonnenschein hinaus und bereitete sich ein Fest nach seinem Herzen. Man fand ihn auf einer Wiese, außer halb der Stadt, neben einer Quelle, die aus der Böschung hervor sprudelte und Feuchtigkeit und Kühlung spendete. Nicht weit da von stand der turmhohe Waldrand eines Haines von Gummi­bäumen, ein Rest des Urwaldes der Insel, der aus irgend einem Grunde stehen geblieben war, und von der sanft ansteigenden Wiese aus fonnte man die grünen Wogen der Meerenge von Singapur  sehen und die vielen kleinen, waldbekleideten Inseln, die unter der Dunstatmosphäre wie weißblaue Nebelwelten dalagen.

Fo fehlte es nicht an dem Sinne für Natur, der den Chinesen eigen ist. Er hatte seit vielen Jahren diese Stelle im Auge ge­

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habt, hatte sich bereits früher zu der Quelle zurückgezogen und es genossen, dort ein Weilchen zu ruhen. Des Abends war hier gut sein, wenn die Ochsenfrösche tief unten aus dem Sumpfe, wo die Quelle sich verlief, ihr Gebrüll hören ließen, und die Dunkel­heit oben bei den Kronen der Riesenbäume sich von fliegenden Hunden bewegte. Dann schwitte das Gras und die Mimosen, und die dicke Nachtluft schäumte über von Dunst, gesättigt wie sie war mit Tau, mit dem Wachstum der Tropenpflanzen und dem kräute­rigen Rauch der Scheiterhausen aus Laub und Abfall, die auf allen Wegen unten in der Stadt glimmen. Aus der nahegelegenen. Baumgruppe strömte eine süße und schwangere Waldlust wie Feder­decken von Wohlgeruch, die Allnatur strahlte Kampfer aus wie die Haut der brünstigen Götter der Finsternis. Pflanzen und Bäume ändern bekanntlich ihre Atmung des Nachts, töten, statt zu nähren; Naturmenschen, die das nicht wissen, empfinden es stärker, sie riechen sich in das gefährliche Geheimnis hinein, fie nehmen teil an der Zauberei. Fo verstand sich darauf, er hatte die Narkose der Dunkelheit mit seinen Nasenlöchern eingesogen, die sich ihr weit öffneten, er hatte das ungeheure Fabeltier der Nacht gesehen. Fo rauchte kein Opium, so nüchtern war er nicht veranlagt; er bes saß ja die Quelle, den eigenen Traumschoß der Erde.

Und hier wurde er gefangen. Fo hatte es sich für Ling Changs Ersparnisse so behaglich gemacht, wie seine Phantasie es nur wün­schen konnte. Er hatte einen Bambusschirm gekauft, unter dessen Schatten er atmete wie unter einem Zelt, außerdem eine Tüte Tabat mit pulverisiertem Lack gemischt, eine ordentliche Wasser­pfeife von Zinn  , mit Konfuzius' Goldspruch auf dem Behälter, Teufelsdreck, um seine Wunden einzuschmieren, und dann natürlich Nahrungsmittel, Reis, Tee, Ananas und Bonbons mit Nußkernen gefüllt. Fo tochte sich selbst einen Topf Wasser auf einem kleinen Feuer im Gras, ging hin und her und hantierte umständlich, wie ein alter Großvater, der wieder Kind geworden ist und alles selbst tun will. Der Frühling war wieder in sein Herz eingezogen... ja, mit Gesang und Vogelgezwitscher, denn das schönste war, daß er wieder einen Vogel hatte! Mitten in dem saftigen Gras neben der Quelle stand ein Vogelbauer, ein kostbares, herrliches, funkel nagelneues Vogelbauer aus weißem Draht mit einem Henkel, Futter napf und allem übrigen, und darin saß auf einer Stange ein hübscher Sänger und schnabelte klug an den Grashalmen, die durch die Stäbe zu ihm hereindrangen. Er war so froh, ins Freie ge­kommen zu sein, er legte den Kopf auf die Seite und sah zum Himmel hinauf, lauschte, blähte seine Federn... noch schwieg er, vor den Wundern des Grases und der Quelle verstummt, später aber, wenn er gelernt haben wird, daß er sich darauf verlassen fann, wird die Süßigkeit aus seiner Kehle quellen.

Fo ging hin und her, beschäftigte sich mit dem Feuer und mit seinen Gedanken, aber nicht einen Augenblick ließ er den Vogel außer acht. Er erkannte sein Herz in ihm wieder.

Als Fo Tee gemacht hatte, tauerte er sich nieder und genoß ihn, hielt ihn unter die Nase und sog den Dust ein, während er trank. Er füllte die Tasse mit Reis, den er gekocht hatte, goß Tee dar­über und ließ sich den Dampf um die Augen wogen, während er sich mit den Eßstäbchen den Reis in den Mund schaufelte. Zwischen­durch rauchte er ein paar Züge von dem guten Tabat, der nach Lichtschnuppe schmeckte, einfach töstlich, und während er beständig den Vogel im Auge behielt, durchrieselte ihn etwas, das ferner wurde und doch ewig nahe blieb: das Ereignis der vorigen Nacht, als das Rasiermesser seinen Feind aufschlitzte und der kochende Blutstrahl im Dunkeln seine Beine berührte wie die Schnauze eines Hundes, der für seinen Herrn bittet. Der Schweinehund entleerte sich wie eine Tonne, der das Spundloch herausgeschlagen worden ist. Nachher hatte Fo sich in der Quelle gebadet.

Nachmittags, als Fo gerade von einem Schläfchen unterm Sonnenschirm erwacht war, stellten die beiden Naseweisen sich ein und begannen ihn ins Verhör zu nehmen, woher er all die schönen Sachen habe. Fo brüstete seinen welten Körper und erzählte ein Märchen von einem Geldschein, den er in der Telegraph Street gefunden habe. Als sie Ling Chang nannten, grinste er unschuldig, tannte ihn nicht. Aber sie sperrten ihn als verdächtig ein, und wenige Stunden später war er gefällt.

Wieder war es das Gefühl, dem Fo zum Opfer fiel. Denn sorgfältig in sein Lendentuch eingewickelt fand man Ling Changs. Augen und die übrigen fehlenden Gesichtsteile. In einer senti mentalen Laune hatte Fo diese Dinge an sich genommen, damit Ling Chang in seinem neuen jenseitigen Dasein nicht allzu schön ausfähe.

Berantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Bettin( Bundel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart  .

Druck und Berlag von J. H. W. Diez Nachf. G.m.b.g. in Stuttgart  .