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Für unsere Mütter und Hausfrauen

Im Bewußtsein des Blindgeborenen fehlen im Bilde der Kirsche jene Bestandteile, die durch das Auge vermittelt werden. Kirsche ist ihm etwas, was man tasten, schmecken und dessen Namen man hiren tann, nicht etwas, was man auch zu ſehen vermag. Es fehlt in dem Gedankenbild gewissermaßen jener Mosaikstein, der durch das Auge vermittelt wird. In der gleichen Weise verändert sich für uns irgendein Gedankenbild im Laufe der Zeit, wenn wir es durch neue Empfindungen ergänzen können, wenn ein neuer Stein in das Mosaik eingefügt wird. Stellen wir uns vor, wir haben irgendeine Frucht bisher nur gesehen und beim Namen nennen gehört, aber noch niemals geschmeckt. Wenn wir sie zum ersten Male geschmeckt haben, so ist uns das Gedankenbild anders ge­worden, als es früher war. Und wenn wir nunmehr den Namen dieser Frucht nennen hören, etwa einer Banane, so erwachen in uns andere Gedankenbilder als früher, wo wir die Frucht noch niemals geschmeckt hatten.

Ich denke an meinen Freund. Das heißt, daß ich mich seiner erinnere. Mein Freund ist ein Mensch, der so und so aus­sieht, solche und solche Handlungen begeht, so und so spricht, und den und den Namen führt. Alles, was in meinem Bewußtsein wach wird, wenn ich an meinen Freund denke, sind Spuren früher gehabter Empfindungen. Alles Denken beruht auf der Fähigkeit, sich zu erinnern, zu gedenken. Man fann nur über Dinge denken, deren man sich erinnern kann, die man erlebt hat. Das Erlebte, die Erfahrung der Dinge ist die Voraussetzung unseres Denkens. Es gibt also keine ,, angeborenen Ideen", wie man früher glaubte, Vorstellungen, die von der Erfahrung unabhängig sind. Weder die Idee Gottes noch die Jdee des Teufels ist uns angeboren, ebensowenig sind es die Ideen des Guten, des Bösen, der Gerechtigkeit, der Liebe, der Frei­heit usw. Diese Ideen sind entstanden als die Summe der zu ver­schiedenen Zeiten unter den verschiedensten Verhältnissen gemachten Erfahrungen und haben deshalb auch je nach den Zeiten und Ver­hältnissen ihren Inhalt geändert.

Da höre ich schon den Zweifler. Wer von uns hat denn die Er­fahrung Gottes gehabt, wer von uns hat Erfahrungen gemacht, aus denen er sich die Jdce des Guten oder des Bösen abgeleitet hat? Wir haben ja alle diese Ideen, diese Denkdinge in uns, bevor wir die Fähigkeit gewonnen haben, unsere Erfahrungen bewußt · zu verarbeiten.

Gewiß, alle diese Ideen sind in uns, ohne daß wir in jedem einzelnen Falle die entsprechende Summe von Erfahrungen ge­macht haben. Diese Ideen scheinen uns angeboren zu sein. Wenn wir aber näher zusehen, so ergibt sich folgendes. Das Kind, das heranwächst, macht eine Reihe von Erfahrungen, hat eine be­stimmte Summe von Erlebnissen, die das Material abgeben für sein Denken. Jedoch außer diesen eigenen Erlebnissen und Erfah­rungen wird dem Heranwachsenden Kinde eine ganze Summe von Gedankendingen vermittelt durch die Erziehung. Wir wissen alle viel mehr, als wir durch eigene Erfahrung wissen können. Wir wissen, daß die Welt um uns, die wir niemals gesehen, so und so anzuschauen ist, daß dort diese und jene Völker leben, mit solchen und solchen Sitten, ja, wir lernen die Sprache eines an­deren Volkes kennen, das wir niemals gesehen haben. Wir wissen das alles, weil wir davon gehört haben. Aber wir kennen die ein= zelnen Bestandteile dieser Dinge aus eigener Erfahrung. Wir haben zum Beispiel gehört, daß es Berge und Bergketten rings um uns gibt, Flüsse, Seen usw. Und wenn wir auch niemals eine Bergkette, einen reißenden Strom gesehen haben, so haben wir doch einen Hügel, haben Wasser geschaut. Wir haben diese Dinge erlebt. Auf diesem erlebten Material weiterbauend schaffen wir uns die ungefähre Vorstellung auch der nicht unmittelbar mit den Sinnesorganen erlebten Dinge.

In dieser Weise kommt auch das Gedankenbild, die Vorstellung Gottes zustande. Wir wissen von vielen Dingen und aus eigener Erfahrung, daß sie nur werden, wenn man sie macht, daß sie sich nur bewegen, wenn etwas hinter ihnen ist, das sie dahin oder dort­hin verschiebt. Wenn man uns sagt, daß hinter der großen Welt, hinter der Welt, die sogar noch viel größer ist, als wir mit un­seren Sinnesorganen erfassen können, auch einer steht, geradeso wie wir hinter den kleinen Dingen unseres Kleinen Lebens, so glauben wir das, die Behauptung wird uns geläufig wie unsere eigene Erfahrung. Wir kennen ja die Bestandteile dieses Ge­danfendinges aus eigener Erfahrung: die Menschen um uns, das eigene wollende Jch, die alle täglich die verschiedensten Dinge be­wegen und nach Gutdünken formen. Wir brauchen uns das alles nur größer, mächtiger vorzustellen. Die vieltausendjährigen Er­fahrungen freilich, die der Mensch gemacht hat, um die Idee Gottes zu schaffen, wie ihn zum Beispiel die christliche Lehre vor­

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stellt, braucht der einzelne heute nicht mehr zu machen. Er be­kommt die Jdee fertig geliefert von Kirche und Schule, von Eltern, von Bekannten, aus Büchern.

Da aber jeder einzelne an der eigenen Erfahrung anknüpfen muß, so sind auch die Gedankenbilder Gottes bei den einzelnen Menschen trotz der gleichen Belehrung sehr verschieden, je nach der Summe der Erfahrungen jedes einzelnen. Es ist ein hübsches Er­periment, festzustellen, wie sehr verschieden Kinder sich den lieben Gott vorstellen, je nach den kleinen Erlebnissen und Erfahrungen, die sie schon in ihrem Leben gemacht haben.

Alle überlieferung ist nur möglich auf Grund von Erfahrungen. Einmal in dem Sinne, daß stets nur Erfahrung überliefert wird; und zweitens in dem Sinne, daß die überlieferte Erfah­rung nur dann aufgenommen werden kann, wenn einzelne Be­standteile dieser überlieferung uns schon gegeben sind aus eigener Erfahrung.... Noch eine letzte Frage. Wir haben ge= sagt, daß alles Denken ein Gedenken ist. Es beruht also auf dem Gedächtnis. Was ist das Gedächtnis?

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Eine Empfindung hat eine Spur" in unserem Gehirn zurüd­gelassen. Wie kommt diese Spur zustande? Da müssen wir an ein anderes Kapitel der Lehre vom Leben denken, an die Lehre von der Arbeit der Muskeln. Man kennt die Tatsache, daß Muskeln, die häufig geübt worden sind, an Masse zunehmen, sie werden

dicker. Könnte nicht ähnliches ber der Fall sein bei den Nervenzellen?

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Wir haben ja gesehen, daß alle Empfindung und Erfahrung Arbeit der Nervenzellen im Gehirn ist. Wir dürfen wohl annehmen, daß auch die Nervenzellen durch häufige übung an Masse gewinnen. Wenn das wirklich so ist, so könnten wir verstehen, wieso wir uns der Dinge erinnern. Nehmen wir folgendes Beispiel. Ich habe mehrmals eine Kirsche gesehen, getastet, geschmeckt und ihren Namen gehört. Die Nervenzellen, durch deren Erregung mir die genannten Empfindungen gegeben sind, haben dabei durch Übung an Masse zugenommen das ist zunächst eine bloße Annahme. Wenn die Nervenzellen an Masse zugenommen haben, so werden sie stärkere Erregungen geben, wenn Eindrücke, Erregungen an sie gelangen. Wenn ich nun nach einiger Zeit das Wort Kirsche höre, so werde ich mich um so cher des Geschmacks und des Aus­sehens der Kirsche erinnern, je häufiger ich diese Empfindungen gehabt habe. Denn so oft ich jetzt das Wort Kirsche höre, geht ein leiser Eindruck, Anstoß von den Zellen des Gehirns, deren Er­regung eine Gehörsempfindung ist, zu denjenigen Zellen, deren Erregung eine Gesichtsempfindung oder eine Geschmacksempfin­dung ist. Diese Zellen werden jetzt, wo sie an Masse zugenommen haben, schon mit einer Erregung auf den leisen Impuls ant­worten, der von den Zellen des Gehörgebiets fommt. Es wird eine Gesichtsvorstellung der Kirsche hervorgerufen werden, ich habe mich jetzt an das Aussehen der Kirsche erinnert.

Daß Nervenzellen bei häufiger Übung an Masse zunehmen, genau so wie der Muskel, ist durch Versuche nachgewiesen worden. Der Forscher, der dieser Frage nachging, berfuhr in folgender Weise: Er nahm einen Wurf von jungen Hunden und vernähte einem Teil dieser Tiere die Augenlider. Diese Tiere hatten also niemals Gefichtsempfindungen gehabt. Nach einigen Monaten tötete man sämtliche Tiere und untersuchte mit dem Mikroskop jenen Teil ihres Gehirns, wo die Zellen gelegen sind, durch deren Erregung die Gesichtsempfindungen vermittelt werden. Es ergab sich dabei, daß die Nervenzellen des betreffenden Gehirngebiets bei jenen Tieren klein geblieben waren, denen man die Augen vernäht hatte. Bei den anderen, sehenden Tieren dagegen waren sie viel größer geworden. Es hatten also diejenigen Bellen des Sehgebiets im Gehirn sich schlecht entwickelt, die keine Arbeit ge­leistet hatten, während die Zellen an Größe zugenommen hatten, die bei den sehenden Tieren stets Arbeit tun mußten. Sehen wir nun an Stelle der einfachen Empfindungen unseres Beispiels ein ganzes Bündel von Empfindungen, so haben wir den Vorgang, den wir im täglichen Leben Denken nennen.

Alles, was wir Seele nennen, ist Arbeit unserer Nerven­zellen. Je mehr Arbeit diese leisten, desto rascher und besser das Gedenken, desto schärfer und klarer das Denken. Freilich gilt auch hier dasselbe wie für die Muskeln: die Gehirnzellen können nur gute Arbeit leisten, wenn sie entsprechend ernährt werden und ge= nügend Erholung haben.

Der Seelenglaube.

Bon B. Sommer.

( Schluß.)

Im Alten Testament   ist das Anspeien, selbstverständlich unter Bei fügung einer Verwünschung, noch mehrfach als Rachemittel erwähnt; noch bei uns ist es das Zeichen der tiefsten Verachtung. Aber unter