Für unsere Mütter und Hausfrauen

Nr. 11

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oooooooo Beilage zur Gleichheit

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Inhaltsverzeichnis: Nach endlosen Regentagen. Gedicht von May Barthel. Nervöse Kinder. I. Von Jsa Strasser. Lehrerschaft und Krieg. Notizen. Zum Nachdenken.- Feuilleton: Träume in der Wüste. Von Olive Schreiner  .

Nach endlosen Regentagen.

Und nun ist er doch verronnen Und das Licht hat uns gesegnet Lauer Tag in den Argonnen  , Süß und mild und ausgeregnet. Freue dich doch, arme Seele! Sieh, wie sich die Sonne spiegelt! Und nun sing doch, arme Kehle! Denn die Ferne ist entriegelt!

Wie die weißen Wolken schwellen Und wie tief der Himmel gründet! Wie die jungen Büsche quellen, Von dem Frühlingshauch entzündet! O du Wald! Zerknickt, zerschossen, Jm Granatenturm geborsten, Aufwärts neue Wipfel sprossen, Drin die freien Winde horsten!

Aufwärts follt ihr, meine Träume, In den neuen Tag euch heben, Denn ihr sollt wie junge Bäume Wachsen! Blühen! Jauchzen! Leben! max Barthel  , musketter( Argonnen  ). O O O

Nervöse Kinder.

Von Jsa Strasser. I.

Die häufige Nervosität in unseren Tagen hat wirtschaftliche und soziale Ursachen. Die Haft und Heße des kapitalistischen   Erwerbs­lebens, ungesunde Wohnungsverhältnisse, Unterernährung und Massenarmut, Alkoholismus und geschlechtliche Ausschweifungen, Mangel an hygienischen Kenntnissen und Körperpflege, alles das und manches ardere wirkt fortwährend überreizend und zer­rüttend auf das Nervensystem des heutigen Menschen ein, zumal auf den Proletarier. Verschwinden wird deshalb die Nervosität erst dann, wenn unsere ganze gesellschaftliche Ordnung auf neuen Grundlagen ruht.

Troßdem muß natürlich schon heute das Proletariat die Nervo­sität genau so bekämpfen wie alle anderen schädlichen Wirkungen des Kapitalismus, zumal die Nervosität oft nur eine Vorstufe ist zu den schwereren Erscheinungen hochgradiger Nervenschwäche und unheilbarer Nervenleiden. Im allgemeinen ist ja der gesamte Kampf des Proletariats gegen den Kapitalismus zugleich auch ein Kampf gegen die Nervosität; denn jede wirtschaftliche oder sozial­politische Errungenschaft des Proletariats, also jede Verkürzung der Arbeitsseit, jede Lohnerhöhung, jede Verbesserung in den Wohnun­gen und Arbeitsstätten, jedes neue Necht, wo es auch sein möge, trägt in seiner Art bei zur förperlichen und seelischen Kräftigung des Proletariats, vermindert die nervenzerrüttenden Wirkungen der tapitalistischen Wirtschaft.

Daneben ist aber ein besonderer Kampf gegen die Nervosität notwendig, und da der Grund zur Nervosität schon im frühesten Kindesalter gelegt wird, gehört dieser Kampf zu den Aufgaben der proletarischen Erziehung. Die proletarischen Eltern und die Organisationen, die sich mit der Pflege und Erziehung von Proletarierkindern befassen, müssen sich die Fragen vorlegen: Worin äußert sich die Nervosität des Kindes, was ist ihre Ursache und wie ist sie zu verhüten?

Im folgenden soll versucht werden, an der Hand einer bon Ärzten und Erziehern verfaßten Aufsatzsammlung( Heilen und Wilden, ärztlich- pädagogische Arbeiten des Vereins für Individual­#sychologie, herausgegeben von Dr. Alfred Adler   und Dr. Karl Furtmüller) auf diese Fragen eine Antwort zu geben.

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1916

Die Nervosität äußert sich nicht, wie der Laie meist annimmt, einzig und allein in Aufgeregtheit, Unbeständigkeit und ähnlichen Symptomen, sondern sie tritt bei verschiedenen Kindern in der verschiedensten und gegensätzlichsten Weise zutage. Die einen zum Leispiel sind von einer aufgeregten Lebhaftigkeit, wollen immer unterhalten sein, verlangen beständig nach Neuem, die anderen da­gegen sind ungewöhnlich schwerfällig und verträumt. Die einen find frech und tollkühn, die anderen schüchtern und feig. Die einen find trokig und jähzornig, pfeifen auf alle Strafen, die anderen sind die Fügsamkeit selbst und empfinden einen vorwurfsvollen Blick schon als schwere Kränkung. Die einen sind ewig beleidigt und dabei ungesellig, die anderen können nicht einen Augenblick allein sein und peinigen doch ihre Spielgefährten durch ihre Recht­haberei und Empfindlichkeit. Meist finden sich in dem nervösen Kind entgegengesetzte Züge, wie Trotz und Unterwürfigkeit, Schüch­ternheit und Keckheit zugleich. Schwerer nervöse Kinder kranken oft an der Beibehaltung von Kinderfehlern, Stottern, Bettnässen und dergleichen, oder sie leiden, ohne daß sich eine organische Ur­sache finden läßt, an Kopfschmerzen, Erbrechen, Krämpfen usw.

All diese Äußerungen der Nervosität haben nun dies gemein­sam: sie erschweren die Erziehung ganz beträchtlich. Nervöse Kin­der dürfen keineswegs wie ganz gesunde beurteilt und behandelt werden. Merken Eltern oder Erzieher an einem Kind Anzeichen großer Nervosität, so ist es ihre erste Pflicht, mit Geduld und Ver­ständnis sich von den Gedankengängen und Empfindungen des ner­vösen Kindes ein richtiges Bild zu machen. Ihre Beobachtungen werden sie darauf bringen, daß das nervöse Kind stets bestrebt ist, sich zum Mittelpunkt seiner Umgebung zu machen, stets darauf ausgeht, die andern zu beherrschen. So kann es vorkommen, daß ein nervöses Kind durch seinen Troß und seine Launenhaftigkeit zum Quälgeist der ganzen Familie wird, oder es versucht mit Hilfe seiner Kränklichkeit die anderen zu kommandieren. Aus dem­selben Grunde werden nervöse Kinder häufig ihre Schulkameraden zu tyrannisieren suchen, Tiere quälen oder kleinere Kinder miß­Handeln.

Die Triebfeder der obengenannten nervösen äußerungen ist also, wie die Beobachtung des Laien und wie zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und Vergleiche lehren, ein mehr oder weniger krank­haft entwickelter Wille zur Macht. Wie sich dieser Wille äußern kann, mögen einige Beispiele zeigen: Der dreijährige, sehr lebhafte und aufgeregte Franzl versteht es, die ganze Familie zu quälen, indem er alle fünf Minuten frägt: Was soll ich nun spielen?" Er tut aber nie das, was man ihm vorschlägt. Auf ähn­liche Weise hält ein gleichaltriges Mädchen die andern zum Narren. Sie führte einmal beim Kaffeetisch folgendes Selbst­gespräch: Wenn sie( die Mutter) sagt, willst du Tee, sag ich Kaffee, wenn sie sagt, willst du Kaffee, so sag ich Tee." Ein siebenjähriges Mädchen bekommt Angstanfälle, wenn man sie im Dunkeln allein läßt. Sie zwingt dadurch die Gltern, auf sie Rücksicht zu nehmen, um ihretwillen zu Hause zu bleiben. Dabei ist wohl zu beachten, daß derartige Angstanfälle nervöser Kinder feineswegs Verstel­lung, bloß gemacht" sind. Es sind wirkliche Angstanfälle, unter denen das Kind wirklich leidet.

Was ist aber, so müssen wir fragen, wenn wir Wesen und Ent­stehung der Nervosität begreifen wollen, die Ursache dieses Willens zur Macht? Ist es etwa die angeborene Nichtsnuzigkeit der Men­schennatur oder eine unerklärliche erbliche Veranlagung? Es ist weder dies noch das. Ursache des nervösen Machtstrebens ist viel­mehr ein sehr natürliches, organisch begründetes Gefühl, das sich in allen Kindern findet. Das Gefühl der Unsicherheit und Schwäche, oder wie Dr. Alfred Adler   es formuliert hat, das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Dieses Gefühl entsteht durch Messen, Vergleichen mit der Umgebung und ist naturgemäß beim ganz kleinen Kind am stärksten ausgeprägt. Ich bin schwach und ungeschickt, die anderen müssen mich halten, daß ich nicht falle, müssen mich reinigen und füttern. Ich bin klein, die andern sind groß. Ich kann mich nicht verständlich machen, die Großen können es," so etwa muß das kleine Kind zwar noch nicht denken, wohl aber empfinden. Je älter es wird, je mehr man von ihm verlangt, zum Beispiel daß es sich durch Reinlichkeit und Gßgewöhnung dem Leben der Erwachsenen anpaßt, desto mehr wird ihm die Empftn­dung der eigenen Minderwertigkeit im Vergleich zu den Großen" bewußt, desto stärker wird aber auch sein Wunsch nach einem Ge­