Nr. 18

Für unsere Mütter und Hausfrauen

Athen  , um die politische und wirtschaftliche Herrschaft. Beide Mächte standen an der Spize einer großen Zahl verbündeter und abhängiger Staaten, so daß sowohl die wirtschaftlichen wie die militärischen Machtmittel sich ungefähr die Wage hielten. Es war also ein Krieg der Mächtegruppen, und gerade diese Tatsache hat nicht wenig dazu beigetragen, ihn in die Länge zu ziehen und, wenn er zum Stillstand kommen wollte, neu anzufachen. Auf beiden Seiten endete der Krieg mit Erschöpfung; da aber der Gegensatz nicht ausgetragen war, triegerisch gar nicht ausgetragen werden konnte, so glomm er unter der Asche fort und feierte seine Auferstehung in immer neuen Kriegen.

Mit Recht datiert man den Rückgang der griechischen Kultur sowie der produktiven Volkskraft von diesem Zeitpunkt ab. In der Tat wurde während dieses Krieges eine Unmasse, für die da­malige Wirtschaftsstufe unersetzbarer Kulturgüter, der aufgehäufte Kulturfonds ungefähr eines Jahrhunderts zerstört und verschleu­dert. Die auf beiden Seiten geübte Ermattungsstrategie brachte das mit sich. Jetzt wurde der Boden vorbereitet für die mazedo­nische Invasion, jetzt beginnt der allgemeine Bevölkerungsrückgang, an die Stelle der bisher vorherrschenden freien Handwerker und Lohnarbeiter tritt der massenhafte Impert von Sflaben, ihr folgt die allgemeine Verwilderung des sozialen Lebens, des Geschmacks und der geschlechtlichen Sitten.

Es fehlte damals nicht an warnenden Stimmen. Der Dichter Euripides   gehörte zu ihnen. Der Mütter Bittgang ist ein ausgesprochenes politisches Tendenzdrama für den Frieden. Wie ein modernes Stück in antiker Verkleidung mutet das Werk an in der guten Übersetzung von Wilamowitz- Moellendorf. Angeregt wurde das Werk, wie der bekannte Berliner   Gelehrte in seinem Vorwort bemerkt, durch einen Bruch des Völkerrechts, den sich die fiegreichen Thebaner nach der Schlacht bei Delion im Spätherbst 424 den Athenern gegenüber zuschulden kommen ließen. Sie verweiger­ten dem athenischen Herold die Abholung der Leichen, beziehungs­weise sie erklärten, die Leichen so lange als Faustpfand behalten zu wollen, bis die Athener   das Heiligtum Delion, das sie noch be­setzt hielten, geräumt hätten. Diese Maßnahme ging nicht allein dem athenischen Ehrgefühl außerordentlich nahe; bei der großen Bedeutung, die der Ahnenkult und demgemäß die Bestattungs­feierlichkeiten im privaten wie im öffentlichen Leben damals spiel­ten, saben sich die Geschlagenen zugleich verhöhnt und dem Un­willen der Götter preisgegeben. Gerade deshalb galt ja die bedin­gungslose Herausgabe der Getöteten durch den Sieger an den Be fiegten als allgemein im griechischen Kulturkreis anerkanntes Völkerrecht.

Auch Euripides   teilte die allgemeine Entrüstung seiner Mit­bürger über das Vorgehen der Thebaner. Aber im Unterschied zu den Kriegshebern in Athen   und dem befreundeten Argos, die nur von Haß und Nache sprachen und die niederen Justinkte der Volks­genossen aufstachelten, wußte Euripides   nur zu gut, daß der über­mut der Sieger nicht ein besonderes nationales Laster der The­baner war, sondern auch seine lieben Athener sich oft genug eines ähnlichen und noch viel grausameren übermuts schuldig gemacht hatten. Davor wollte er sie warnen. Euripides   war Patriot, aber nicht in dem bornierten Sinn des Ruratheners. Als Mensch und Künstler war er über den Durchschnitt seiner Zeitgenossen hinaus­gewachsen. Insofern stellte er seine Kunst über die Parteien, als er überall, nicht nur beim Gegner, die Mängel und Fehler erkannte. Die Partei, der er angehörte, war ihm nicht Selbstzwed, sondern ein Mittel, um allgemein menschliche Interessen durchzusehen. Seine Kunst, und zumal Der Mütter Bittgang, will der Tagespolitik größere Gesichtspunkte geben als die des Augenblicks, er will das Gesichtsfeld seiner Athener   weiten, ihr Denken und Fühlen veredeln. In Der Mütter Bittgang gibt Euripides   gleichsam sein poli­tisches Glaubensbekenntnis. Sehr geschickt hat er einen Stoff aus der athenisch- thebanischen Sage gewählt, die ihm eine Menge An­spielungen auf die aktuellen Zeitprobleme gestattet. Es ist die Sage bom Zug der sieben Argiverhelden gegen Theben. Die Sieben sind vor den Toren der berannten Stadt gefallen. Die Thebaner find Sieger, das Heer von Argos ist geschlagen. Die Thebaner ver­weigern die Herausgabe der Leichen. Und nun machen sich die alten Mütter der Sieben auf, um von Theseus  , dem National­heros Athens  , ein Eingreifen zu erbitten. Man beachte, wie fein Euripides   es versteht, seinen Athenern eine Lehre zu geben und zugleich ihren Nationalstolz zu kiheln! Euripides   hat die Sage frei in seinem Sinne behandelt. Theseus   ist bei ihm das Muster eines Staatsmannes. Er greift ein, interveniert, würde man sagen, aber nicht aus irgendeinem selbstfüchtigen Grunde, auch nicht, um den Rachewunsch des Argiverkönigs zu erfüllen, sondern einzig, um dem Völkerrecht zum Siege zu verhelfen. Nicht allein Argos, ganz

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Griechenland   ist nach seiner Meinung betroffen von der Verlegung des Völkerrechts, auf deren Basis allein eine Kulturgemeinschaft möglich ist. Zuerst durch gütliche Verhandlungen, dann mit dem Schwerte   tritt Theseus   für dieses Recht ein. Die Gedankengänge des Euripides berühren sich hier auffallend nahe mit den Gedanken der bürgerlichen und halbsozialistischen Friedensfreunde von heute, die ein internationales Schiedsgericht wünschen unter der mili­tärischen Garantie aller Großmächte.

Wie Euripides   über die treibenden Beweggründe der Krieges denkt, läßt er durch Theseus   in der Anrede an den Argiverkönig flipp und klar aussprechen. Er wirft ihm vor, leichtfertig und ohne den Segen der Götter den Krieg vom Zaune gerissen zu haben- Euripides  ' Mitbürger konnten diesen Vorwurf auch auf sich be­ziehen. Dann aber fährt Theseus   fort:

Die jungen Herren haben dich verführt;

Ihr Ehrgeiz braucht den Krieg, und nach dem Recht und nach der Not der Bürger fragt er wenig. Der eine sucht den Glanz der hohen Stellung,

der andre Macht für seine Lüste, jener

das Geld: und was das Volk darunter leidet, das fragen alle nicht.

Drei Klassen, fährt Theseus   fort, gäbe es im Staat. Faule Drohnen, nennt er die Reichen, die fordern immer mehr für sich". Gefährlich, meint er, werde durch den Neid das arme, niedere Volf,

wenn es von schnöden Schmeichlern aufgehetzt, begehrlich die Besitzenden befehdet.

Der Mittelstand allein", rust er aus, erhält den Staat." Als Mittelstandspolitiker entpuppt sich unser Euripides auch sonst. Seine religiösen und moralischen Anschauungen muten oft ganz modern- kleinbürgerlich an. So besonders sein boshafter Seiten­hieb auf die irreligiösen Aufklärer, die mit der göttlichen Vor­sehung nicht zufrieden sind.

Doch die Vernunft will's besser machen können als Gott; die Hoffart fikt in unsrem Herzen, wir wären flüger als die Himmelsherrn.

Wenn uns sozialistischen Proletariern von heute solche Anschau­ungen reaktionär im höchsten Grade erscheinen, so dürfen wir die Schuld nicht dem griechischen Dichter des fünften Jahrhunderts vor Christus zuschreiben. Er lebte in einer Zeit, wo die ersten großen Kapitalien in Industrie und Handel sich bildeten, wo die Gefahr her­aufzog, daß das kleine selbständige Handwerk, auf dessen Tüchtig­keit die Kultur Athens   beruhte, durch den Manufakturbetrieb mit unfreien Arbeitskräften, also mit Sklaven; beiseite geschoben und proletarisiert werde. Der Fabrikbetrieb mit Sklaven aber bedeu­tete feinen fulturellen Fortschritt, wie der mit freien" Proleta= riern, sondern tatsächlich den Anfang vom Ende. Wenn der moderne Kapitalismus   trotz seiner Auspowerung der Masse die Entwicklung vorwärts trieb, so geschah das in erster Linie dank der sittlichen und geistigen Qualitäten des freien Proletariats, nicht zum we= nigsten durch den Stachel seines Klaffenkampfes. Anders im Alter­tum. Die Sklavenarbeit konnte sich weder rühren noch wehren; fie führte deshalb weder zur Erfindung von Maschinen noch zum organisierten Maffenkampf. Die Sflavenarbeit wirkte einzig als Lohndrücker und verwandelte die kleinen Bauern und Handwerks­meister nicht in Lohnarbeiter, sondern in arbeitsloses Gesindel, das sich auf Staatskosten ernähren ließ und den ehrgeizigen Cli­quen unter den Besitzenden eine ebenso willige wie billige Gefolg­schaft lieferte. Demgegenüber gab es natürlich keinen anderen Standpunkt als das Lob des Alten, des fleinbürgerlichen Zeitalters. Daß Euripides   sonst durchaus tein Rückschrittler war, beweist seine freie und vornehme Auffassung von der Stellung und Beden­tung der Frau. Man beachte, mit welch ausgesuchter Hochachtung Theseus   seiner Mutter begegnet, und mit welchem Selbstbewußt­sein sie ihm auch in politischen Dingen ihren Rat erteilt. Die­jenigen, die das hergebrachte Geschwäß von der untergeord­neten Stellung der Frau in Athen   kritiklos nachbeten, mögen sich folgende Stelle aus Der Mütter Bittgang zu Herzen nehmen:

Aithra: Darf ich dir etwas sagen, lieber Sohn,

was Ehre dir und deinem Volke bringt? Theseus  : Sprich, liebe Mutter, mir ist wohl bewußt, der beste Rat kommt oft aus Frauenmund. Aithra: Ich weiß doch nicht. Was ich im Herzen trage, ist wohl für mich unschicklich auszusprechen. Theseus  : Vielmehr, es würde dein nicht würdig sein, dem Sohn den guten Rat vorzuenthalten.