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Jugend- Vorwärts

Nr. 11

Beilage zum Borwärts 26. November 1930

5 Jahre Landesjugendamt Berlin  .

Arbeit an der Jugend einer Millionenstadt.

Um Hunderttausende von Kleinkindern, Hunderttausende von Schulkindern und Hunderttausende von Schulentlassenen, um fast eine Million Jugendliche sich sorgen zu dürfen, ist wohl nicht gerade eine der leichtesten, aber sicher eine der schönsten Aufgaben der Berliner   Stadtverwaltung", sagt die Genoffin Klara Weyl   in ihrem Geleitwort zu dem in diesen Tagen erschienenen Wert Fünf Jahre Landesjugendamt Berlin  ". Bon der Vielseitigkeit dieser Arbeit an der Jugend einer Millionenstadt macht sich der Außenstehende teinen flaren Begriff. Und doch ist es notwendig, sich mit dem hier Geleisteten näher vertraut zu machen, denn es gehört zu dem positiven Gut der Republit, es ist Arbeit für die foglal am schlechtesten gestellten Schichten der Bevölkerung und besonders in den Arbeitskreis der sozialistischen   Jugendbewegung gehört es, sich ein anschauliches Bild dieser städtischen Jugendpflege und Jugend­fürsorge zu machen. Das oben genannte Werk bietet eine gute Unterlage dazu.

Man sieht es dem ehemaligen Ephraimschen Palais in der Post­straße nicht an, welchem Zweck es heute dient. Wenn man aber von der Betrachtung der Fassade, die eine der schönsten architektonischen Sehenswürdigkeiten Berlins   darstellt, zu einer Besichtigung des Innern übergeht, wird man überall auf Jugendliche, auf Fürsorge­pflegerinnen und Beamte des Amtes stoßen. Hier ist der zentrale Mittelpunkt aller Maßnahmen auf dem Gebiet der Jugendhilfe und Jugendwohlfahrt, von hier gehen häufig die Impulse für die Arbelt der Bezirke aus. Um welchen gewaltigen Apparat es sich hier handelt, zeigt die Tatsache, daß allein die Fürsorgeerziehungsbehörde 51 Beamte und 9 Angestellte beschäftigt, in den der zentralen Ver­waltung unterstellten Anstalten find 259 Beamte, 539 Angestellte und 391 Arbeiter tätig.

Die Fürsorgeerziehung: hier beschäftigt man fich mit einem Gebiet, das während der letzten Jahre in der Oeffentlichkeit eine große Rolle gespielt hat. Antlagen über die Zustände in den einzelnen Anstalten wurden erhoben, oft veranlaßt durch Rebellionen Der Zöglinge, das ganze System der Fürsorgeerziehung wurde von allen Seiten beleuchtet und tritisiert. Selten war es möglich, sich ein flares Bild der wirklichen Vorgänge zu machen, denn mit den offiziellen Dementis war der Deffentlichkeit nicht gedient. In der Abhandlung eines verantwortlichen Mitarbeiters wird hier auf die ganzen Beschwerden im Zusammenhang eingegangen. Man findet die von sozialistischer Seite wiederholt geäußerte Auffassung bestätigt, daß ein nicht unerheblicher Teil der Konflikte daraus erwächst, daß die öffentliche Fürsorge noch viel zu sehr mit dem Mafel der straf weisen Einsperrung verbunden ist diese Grundlage der ganzen Fürsorgetätigteit tönnte nur durch eine gründliche Reform der gefeß­geberischen Basis geändert werden, und daß zum zwetten neben ben Schädigungen der Jugend durch die heutige soziale Lage die negative Einstellung zum Staat und seinen Organen eine große Rolle spielt.

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Man erfährt hier auch, welcher gewaltige Apparat in einer Großstadt wie Berlin   aufgeboten werden muß, um der ge­fährdeten Jugend von frühester Kindheit an bel zustehen. Und doch ist es noch viel zu wenig, wenn eine Stadt wie Berlin   beispielswelle über 450 Heime von denen 330 der freien Wohlfahrt angehören- verfügt zur Unterbringung der Kinder, die infolge Erwerbstätigtelt der Mütter ohne Aufsicht sind. Auf diefem Gebiet wird kräftig aufgebaut. Man hat u. a. das Programm aufgestellt, daß in allen neugebauten Siedlungen und Wohnblocks

ein Kindertagesheim mit vorgesehen wird, bei jedem Schulhaus neubau und dem Bau von Gemeindehäusern soll die Errichtung einer Krippe, eines Kindergartens oder Horts berücksichtigt werden. In Verbindung mit der Schilderung wird hier auch die Frage auf­geworfen, die ja den Sozialisten besonders intereffiert, ob die Klein finder nach der alten Auffassung von der Mutter, in der Familie aufgezogen werden sollen, oder ob der Staat die Voraussetzungen schaffen soll, um die Erziehung der Kinder bereits vom zweiten oder britten Lebensjahre an zu beeinfluffen. Die Entwicklung geht zweifellos in der Richtung einer stärkeren Einflußnahme des Staates, da die wachsende Berufstätigkeit der Frauen und eine Reihe anderer sozialer Prozesse die Grundlage des Familienlebens immer mehr unterhöhlen. Einer praktischen Beantwortung der aufgeworfenen Frage beugt vorläufig noch der Mangel an Mitteln und Heimen vor, aber es handelt sich hler um eines der wichtigsten Zukunftsprobleme.

Bon besonderer Wichtigkeit für die Arbeiterbewegung ist die vom Landesjugendamt organisierte Fürsorge für das erwerbs. tätige Kind. Wir erfahren hier, daß trok Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise immer noch Kinder für gewerbliche Zwecke benutzt werden. Die Jugendämter haben zwar das Recht, in jedem einzelnen Fall Einspruch zu erheben. Aber welche Schwierigkeiten hier auf­tauchen, das zeigen folgende Ausführungen: ,, Weder die Gewerbe­polizei noch die Jugendämter haben es leicht, die Strenge des Gefeßes walten zu lassen. In 90 bis 95 Prozent aller Fälle handelt es sich um tatsächliche wirtschaftliche Not der Familien, die auf die Unter­stübung ihrer Kinder angewiesen sind, und man kann durchaus nicht immer von Ausnutzung reden. Das verdiente Geld wird meist dazu verwandt, Lebensmittel, Schuhwerk und Wäsche zu beschaffen, und gar nicht selten halfen die Kinder ihren Eltern und Geschwistern in rührender Weise." Es ist zu begrüßen, daß die Jugendämter in solchen Fällen sich bemühen, den Eltern Wohlfahrtsunterstützung zu verschaffen und andere Maßnahmen einzuleiten, aber wenn man weiß, wie wenig in der Bragis dann herausfommt, fommt man au dem Schluß, daß in der kapitalistischen   Wirtschaft Kinderarbelt immer wieder eine Rolle spielt und wie viele Fälle kommen den Behörden oder dem Jugendamt überhaupt nicht zur Kenntnist

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Besonders zugenommen hat in den letzten Jahren die Be­schäftigung von Kindern bei Filmaufnahmen Sier sind von seiten der Eltern selten Widerstände oder einschränkende Maßnahmen festzustellen, da die Tätigkeit fich gewöhnlich ganz gut lohnt. Es ist nun vorgeschrieben, daß Kinder, die bei Filmaufnahmen Berwendung finden, fld nidyt länger als vier Stunden auf dem Filmgelände aufhalten dürfen und daß sie sich während der Zeit außerhalb der Aufnahmen in einem besonderen Kinderzimmer unter Aufsicht einer vom Landesjugendamt gestellten Kindergärtnerin auf­halten müffen.

Die meisten der angeführten Maßnahmen fallen unter den Begriff der vorbeugenden Fürsorge. Man hat sich in ben letzten Jahren zu der Ueberzeugung durchgerungen, daß alles, was auf diesem Gebiet geschieht, besonders wichtig und wertvoll ist und mit allen Kräften gefördert werden muß, um zugleich auch den anderen Teil der Fürsorgetätigkeit, von dem heute fast ausschließlich in der Deffentlichtelt gesprochen wird, die heilende Fürsorge, zu entlasten. Denn nur zu häufig zeigt es sich, daß die Heilung von Schäden, die im Kindesalter erworben werden, ob es sich um törpera liche Krankheit oder seelische und fittliche Verwahrlojung handelt, auf die größten Widerstände stößt. Es ist leichter, die Entwicklung,

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