ob er sich die richtige Ansicht und den rechten Begriff von den Gegenständen gemacht habe, mit denen er sich besonders beschäftigt, und falls dem nicht so, in welcher Weise der Menschengeist ferner hin arbeiten solle. Diese Untersuchung ist das Hauptwerk Kants  . Die ganze geistige Anlage des Menschen, alle Seelenvermögen desselben werden von ihm auf drei Grundkräfte oder Vermögen zurückgeführt. Den Versuch einer noch größeren Zurückführung erklärt er für unstatthaft. Diese drei Grundkräfte heißen: Er kennen, Fühlen und Begehren. Das erste Vermögen hat den beiden andern die Prinzipien, die leitenden Gesetze zu liefern, enthält aber zugleich auch dieselben für sich selbst. Sofern nun das menschliche Erkenntnißvermögen die Prinzipien und Geseze

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für sich selbst enthält, nennt es Kant die theoretische Vernunft"; sofern es die Prinzipien des Begehrens und Handelns enthält, heißt es" praktische Vernunft"; sofern es aber die Prinzipien des Gefühls der Lust und Unlust enthält, ist es Vermögen der Urtheilskraft"*). Auf diese Weise ergibt sich die Eintheilung der Untersuchung über den Menschengeist und dessen Leistung in der Kritik der theoretischen Vernunft"," Kritik der praktischen Vernunft  " und" Kritik der Urtheilskraft  ". Unter dieser Bezeich nung erschienen die drei Hauptwerke Kants  . ( Schluß folgt.)

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*) S. Schwegler.

Die unbewußte Büchtung und Vererbung menschlicher Charaktere und Physiognomien und die Erforschung der Geseke   der menschlichen Zuchtwahl mittels der Photogeneagraphie.

Von Dr. H. Oidtmann.

( Schluß.)

Zu den theils verschlechternden, theils bessernden Massenein­griffen des Menschen in seine eigene Zuchtwahl gehören in erster Linie: 1. die zunehmende Unfitte, Lebensprätendenten ungeboren zu tödten( Abortus in allen Arten); 2. die unnatürlich große Kindersterblichkeit( 30-45 pCt. im ersten Lebensjahre) infolge verkehrter Kinderpflege; 3. die ärztlichen Systeme( Blutent ziehungen, Impfung u. s. w.); 4. Seuchen; 5. Syphilis und Alkoholismus  ; 6. die wirklichen und die eingebildeten Erschwe­rungen einer Existenzbegründung, die Klassenunterschiede; 7. die interkonfessionellen Ehehindernisse; 8. die Ehehindernisse der Mili­tärpflichtigen und der Berufssoldaten im Frieden; 9. Kriege, das Schlachtfeld und die Strapazen der Feldzüge; 10. das Gefängniß wesen mit Absonderung der Geschlechter; 11. der Cölibatzwang des Klerus und der weiblichen Orden in der katholischen Kirche; 12. die Prostitution in allen Formen, die Kinderlosigkeit der Prostituirten; 13. das Zweifindersystem" und seine Unterarten; 14. das Fabrikwesen und die hygienische Verwahrlosung der Arbeiter; 15. die Centralisation der Menschen und der Industrieen mit Massentrennung der Geschlechter in großen Städten; 16. die Auswanderungen und das Seewesen.

Das eingehende Studium dieser sozialen Zuchtwahleingriffe muß es uns möglich machen, die kulturgeschichtliche Entwicklung eines Volkes im großen und ganzen für die nächsten Jahrhunderte vorherzusagen. Gleichwie die auseinandergehenden fünftigen Schicksale zweier großer Hühnerhöfe, von welchen der eine be­harrlich nur die guten, der andre nur die schlechten Spezies zur Züchtung auswählt, und von welchen der eine vorwiegend stets die schlechtesten, der andere nur die besten Spielarten zum Kast­riren und periodischen Abschlachten aushebt, sich mathematisch vorausberechnen läßt: gerade so und mit derselben Verläßlichkeit können wir aus dem Wechselspiel der vorhin aufgezählten Züch tungsmotoren, für Dynastien sowohl sowie für ganze Völker schaften, das Steigen oder Sinken der kommenden Geschlechter im voraus beurtheilen. Es lohnt sich daher der Mühe, die oben verzeichneten sozialen Eingriffe in die menschliche Zuchtwahl der Reihe nach etwas näher zu betrachten.

Bevor wir zu diesen Einzelbetrachtungen übergehen, wollen wir ein paar hervorragende Beispiele von der fortzeugenden Macht einer gut geleiteten Zuchtwahl aus den englischen Renn und Züchtungskalendern der Neuzeit vorführen:

Wie züchtet man Vollblut? Wir lernen von den Eng ländern einen erprobten Züchtungsgrundsay: daß Ahnenprobe, d. h. Vererbungsprobe allein ohne Leistungsprobe und daß Leistungsprobe allein ohne Ahnenprobe nicht ausreichen, die nächsten Generationen eines Pferdestammes oder einer Pferde familie durch Fortpflanzung förperlich und geistig zu veredeln. Unter Ahnenprobe versteht aber der Pferdezüchter nicht etwa den Nachweis einer konstanten, nichtssagenden Namens- oder Wappen vererbung, sondern den Nachweis einer konstanten, befestigten Vererbung individueller Tüchtigkeit. In den Ahnenverzeichnissen der englischen Vollblutpferde finden wir eine Menge überraschender Beispiele von dem nachhaltigen Vererbungseinflusse, welchen schon ein einziges tüchtiges Zuchtpferd auf die ganze Zucht und Nach

zucht aller seiner Enkelfohlen und Urenkelfohlen durch Zuchtwahl ausübt.

Ein hervorragender englischer Vollbluthengst, Namens Touch­stone, 1831 aus einem orientalischen Pferdestamme gezüchtet, hatte anfangs der dreißiger Jahre einerseits die Ahnenprobe bestanden, indem er väterlicher und mütterlicherseits von vorzüglichen Voll­blut- Stammeltern abstammte und die ganze Reihe seiner Ahnen auf bestimmte geistige( Temperaments-) und körperliche Leistungen gezüchtet worden war, andrerseits hatte dieses Pferd seine ver­erbte individuelle Leistungsfähigkeit auch durch 16 gewonnene Wettrennen nachgewiesen.- Touchstone hat dafür auch einzig als Sprosse vieler vorzüglicher Ahnen seinerseits wieder eine Nachkommenschaft geliefert, welche in Enkeln und Urenkeln nur hochedele Pferdecharaktere repräsentirt. Ueber 32 pt. seiner Nachkommen stehen in den namentlichen Rennlisten der Vollblut­Hengste von 1860 bis 1866 verzeichnet und zwar 13 Söhne und 17 Enkel und 8 Enkel von Töchtern Touchstones. Jeder dieser 38 männlichen Nachkommen hat für seinen Theil wieder die Ahnenprobe, die Vererbungsprobe, dadurch bestanden, daß jedes dieser Pferde mindestens 10 oder mehr Vollblutfohlen als seine Söhne oder Töchter in je einem einzigen Jahrgange zeugte. Schon im Jahre 1864 hatte Touchstone außer den vielen männ lichen Nachkommen auch 116 Vollbluttöchter und 470 Enkelinnen in gerader Abstammung als Vollblutmutterstuten zu Nachkommen; und es wird sogar angenommen, daß damals schon ein Viertel aller englischen Vollblutmutterstuten ihr edles Blut nur dem ge­meinschaftlichen Stammvater Touchstone als Folge der Vererbung verdankten. In 20 Jahren wird ein junges Vollblutpferd ohne vererbtes Touchstoneblut eine zufällige Ausnahme sein. An­genommen nun, dieser eine Touchstone wäre, bevor er ein Fohlen zu zeugen Gelegenheit gehabt, als Offizierspferd in einer Schlacht gefallen, welch unberechenbarer wirthschaftlicher Schaden wäre aus dem unbeklagten, vielleicht gar unbeachteten Verluste dieses einen Thieres dem ganzen Lande erwachsen! Und wie viele tausend Touchstones gehen als eben so viele unerseßliche Stammväter in einem einzigen Feldzuge zu Grunde!

Touchstone, dieser berühmteste Stammvater des edelsten Pferde­stammes, war, wie eine auffallende große Anzahl bester Vollblut­hengste, ein Erstlingsfüllen und aus langlebiger Familie; seine Mutter Bonter, aus dem Stamme Matchem, starb 19 Jahr alt, bald nachdem sie gefohlt hatte; sein Vater Camél( aus den Stämmen Eclipse und Herod) wurde 22 Jahre alt getödtet.

Touchstone, dessen Blut die neue Vollblutzucht beherrscht, läßt uns den unabsehbaren Einfluß ahnen, den ein einzelnes edles Thier nach den Zuchtwahlgesehen aller Lebewesen auf eine end­lose Reihe von Generationen ausübt.

Die Vollblutzucht in England hat als zweite mächtige Er­scheinung die Thatsache erwiesen, daß die vererbten Eigenschaften des Vollbluts nicht so sehr körperlicher, am Aeußern des Pferdes erkennbarer, als vielmehr geistiger Natur sind. Was sich vom edlen Pferde oft sogar unter scheinbarer Vernachlässigung der äußerlichen Körperformen auf die direkten Nachkommen durch die Gesetze der Blutsverwandtschaft forterbt, das ist jene geistige