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Er sagte sich: weder um zu arbeiten, noch um Schäze zu sammeln, noch auch endlich um deiner selbst willen magst du leben, dessen lohnt es sich nicht, die Stunden der Seelenqual, welche dir die Jämmerlichkeit der Welt und der Menschen bereitet, zu ertragen. Gelingt es dir nicht, endlich Befriedigung zu gewinnen durch Bereicherung der menschlichen Erkenntnis, Erweiterung des menschlichen Wissenskreises, dann wirst du wohltun, desselbigen Weges aus dem Leben zu gehen, den dein Vater gewählt hat. Aber auf diese eine Probe kommt es noch daran darfst du das zweite Drittel deines Ererbten noch wagen, und das lezte Drittel blos deshalb nicht auch, weil du es brauchen würdest, dich unabhängig zu erhalten für den Fall, daß die Weltverzweiflung bei diesem lezten Versuche der Ueberzeugung weicht, du wärest imstande, dir eine wenn auch nicht grade beglückende, doch eine dir und des Aufwandes deiner Geisteskräfte würdige Stellung zu schaffen.
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So hatte er denn seine Weltfahrt fortgesezt, aber nach völlig veränderter Metode. Er begann systematisch Welt und Menschen zu studiren; die politischen und sozialen Verhältnisse und Zustände, die geistigen und gemütlichen Eigenschaften der Men schen in den verschiedenen Ländern, die Entwicklung derselben, der Reichtum des Gedankenschazes, sozusagen das intellektuelle Kapital, mit dem die Menschenwelt ihre geistige Arbeit leistet, all' das zog er in den Bereich seiner Betrachtungen und Untersuchungen, und je mehr er sich dahinein vertiefte, je mehr sich dabei sein eigener Geistes horizont erweiterte und er das Feld dessen, was zu seinen Studien notwendig gehörte, ins Unermeß liche wachsen sah, desto mehr fühlte er sich davon angezogen und desto mehr verlor er das Gefühl der Weltverzweiflung und Menschenverachtung.
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Die Welt, wie groß und erhaben enthüllte sie sich jezt seinen Blicken, wie unendlich mannichfaltig und fast künstlerisch geglie dert in ihrem Aufbau und ihren Beziehungen, ihrer Erhaltung und ihrer Bewegung! Die Menschen, wie imposant erweisen sie sich in ihrer Gesammtheit, die seit Jahrzehntausenden einen ununterbrochenen, über alles Begreifen ebenso leidvollen als erhabenen Heldenkampf um ihre Existenz geführt haben, mit der Uebergewalt der Naturkräfte, mit allem was da webt und lebt rings um sie her, und am härtesten zu ringen hatten mit den aus solchem Kämpfen immer wieder in geiler Ueppigkeit emporwuchernden schlechten, selbstmörderischen Eigenschaften und dem schreckbaren Mangel an Verständnis der Natur bei ihnen selbst und um sie her.
Wie die Menschheit um ihre Erhaltung gerungen und wie aus aufreibender Not sowohl wie aus entnervenden Glücksverhältnissen immer wieder große Geister emporgetaucht sind, welche die Fahne des Kulturfortschritts den Völkern glorreich vorangetragen haben; wie diese Bannerträger Schäze des Wissens aufgehäuft haben, so überraschend reich an Umfang wie Gehalt, so in ihren untersten Schichten Jahrtausende alt wie in ihrem Ganzen immerdar zeugungskräftig und jugendfrisch, das fesselte Heinrich Köstlin mehr und immer mehr, und es beglückte ihn allgemach und stählte ihn gegen die tausend Fatalitäten und Jämmerlichkeiten des gewöhnlichen Lebens.
Noch war nicht ein Jahr vergangen, so dachte er nicht mehr daran, der Spur seines Vaters zu folgen.
Er fühlte sich vielmehr verpflichtet, im Leben auszuharren, und er gab sich der kühnen Hoffnung hin, einer jener Banner träger dereinst zu werden, auf welche die Menschheit nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat stolz zu sein.
Dabei gewann er auch die Ruhe, mit fühler Ueberlegung und sorglicher Abwägung der Umstände an seine materielle Existenz zu denken und für sie zu arbeiten. Er wandte sich von den Vereinigten Staaten und später von Mexiko aus an eine Reihe europäischer Journale, Zeitungen sowohl als Wochenund Monatsschriften deutscher, französischer und englischer Sprache und sandte ihnen verschiednerlei Arbeiten ein über Land und Leute, politische Ereignisse und wirtschaftliche Zustände, desgleichen über Gegenstände aus dem Gebiete der Naturwissenschaften und der Kulturgeschichte, die anfangs zwar aufgenommen,
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aber garnicht oder doch nur sehr mäßig honorirt, bald jedoch begehrt und leidlich gut bezahlt wurden.
Allmälich hatte er seine Beziehungen derart erweitert, daß ihm diese Abfälle von seinem Studirtische genug einbrachten, um ihm die Notwendigkeit zu ersparen, von seinem schon recht empfindlich zusammengeschmolzenen Kapitale zu zehren.
In einer Reihe von sechs Jahren dieses Studirens und Produzirens war er endlich rund um die Erde herumgekommen. Von Mexiko war er nach den zentralamerikanischen Republiken gegangen, von da nach den südamerikanischen Staaten auf der Westküste dieses Kontinents bis hinunter nach Patagonien; dann die Ostküste hinauf über Buenos- Ayres nach der brasilianischen Hauptstadt Rio de Janeiro ; darauf von Pernambuko hinüber nach Senegambien an der Ostküste Afrikas ; alsdann weiter hinab nach dem Kaplande; von da nach Australien , und über Neu Guinea und Borneo nach Japan . Von Japan wieder nach China zurück und über Annam und Siam nach Ostindien. Endlich von Ostindien nach Arabien , Egypten. Tripolitanien und Algier , um von hier aus nach Europa durch Spanien , Italien und die Schweiz nach Deutschland zurückzukehren.
In den lezten Jahren war die Reise mehr eine Fahrt zur Sammlung von Studienmaterial gewesen, als zum Studiren selbst, dazu gewährte sie unmöglich die nötige Muße. Umsomehr empfand Heinrich Köstlin am Ende das Bedürfnis der Ruhe und Sammlung, der wissenschaftlichen, tief eindringenden Belehrung über und durch alles das Gesammelte, und den Drang nach Verwertung desselben.
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Dazu sollte ihm die Heimat Muße gewähren, Heimat, welche ihm vor Jahren so verleidet war, verleidet durch Tatsachen und Menschen, die ihm jezt nur des Lächelns und allerhöchstens stillschweigender Nichtachtung wert erschienen, die Heimat, welche ihre magnetische Gewalt an ihm desto mehr bewährte, je mehr er, troz aller Stürme der Welt, die ihn tausendfältig umwogten, zum Frieden mit sich selbst gekom
men war.
Mit seinen Schwestern war er in beständigem Briefverkchr geblieben, und dieser hatte beide ihm so teuer erhalten, als sie ihm nur je gewesen. Magda war unverheiratet geblieben; die um elf Jahre jüngere Katharina hatte sich schon sieben Jahre ihren bevor er nach dem Vaterlande zurückkehrte, verheiratet bescheidenen Bedürfnissen und Wünschen angemessen, wie beide Schwestern ihm übereinstimmend wiederholt geschrieben hatten.
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Auch sie drangen seit langem in ihn, er möge zurückkehren; und nur zu gern erfüllte er jezt ihren Wunsch.
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Freilich fand er sogleich, als er heimgekehrt war, daß er sich nicht so leicht zurechtfinden und zur Ruhe wohltuender Geistestätigkeit gelangen werde. Der Verkehr mit seinen Schwestern und der aus einem sechsjährigen Buben und einem vierjährigen Mädchen bestehenden Familie der jüngeren heimelte ihn so recht herzig an, aber schon mit dem Gatten Katharinens fand er wenig geistige Berührungspunkte. Derselbe war ein tüchtiger und ehrenwerter Beamter des höheren Steuerfachs, ziemlich gebildet und nicht ohne Freisinn; dennoch war sein geistiger Horizont recht eng und sein Streben ging nicht über das Durchschnittsmaß des Gewöhnlichen, das sich auf leidliches materielles Wohlergehen und häusliche Ruhe beschränkt, hinaus.
Mit anderen, ganz fremden Menschen hatte Heinrich Köstlin eigentlich garnicht in Berührung kommen wollen. Indes zeigte sich das bald als nicht durchführbar. Bei seinen Schwestern traf er mit Bekannten aus alter Zeit zusammen, denen er, der Weltumsegler, sehr interessant geworden war. Und auch die neueren Bekannten seiner Schwestern fanden ihn außerordentlich interessant und luden ihn zu Besuchen ein.
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All diese Leute ließen jedoch ihrerseits den in seiner Heimat zum Fremdling gewordenen völlig gleichgiltig, mit einer einzigen Ausnahme, mit Ausnahme eines jungen schönen Weibes, das er als Kind bereits gekannt hatte. Diese Frau war die Kindheitsfreundin seiner Schwester Katharina gewesen; sie hatte mit vierzehn Jahren Holmstädt verlassen, um in einem Pensionat der Landeshauptstadt ihre Bildung und gesellschaftliche Tournüre