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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Tage, die er hier verlebte!... lleber den Schlaf­saal mit den weißgetünchten Wänden glitten weiße Nonnenhauben und huschten zwischen den weißen Vorhängen hindurch. Eine Schwester hatte ihn lieb gewonnen, sie gab ihm Aniszucker und lehrte ihn Gebete. Und jeden Abend betete er vor dem Ein­schlafen dankbar vor Maria, der Mutter aller Gnaden.

Von seinen Eltern erfuhr er nichts weiter. Der Zirkus hatte sich aufgelöst und die Truppe hatte sich in alle Winde zerstreut. Gine alte, fromme Dame, die im Rufe der Wohlthätigkeit stand, nahm Gui­seppe auf.

Es war eine häßliche, launenhafte Person mit bösem Herzen. Wenn sie den armen Kleinen adoptirt hatte, so that sie das nicht etwa, weil sein Schicksal sie gerührt hatte. Es war nicht etwa ein spät er­wachtes Gefühl der Mutterliebe, denn eine Kaze genügte ihr. Nachdem sie ihre Magd entlassen hatte, fand sie es für billiger, sich von einem Sklaven bedienen zu lassen.

Seitdem hieß Guiseppe Joseph. Sein Herz wartete nur, sich an ein anderes zärtlich anzuschließen, wie ein Gefangener nach einem Sonnenstrahle lechzt. Doch die Alte hielt ihn mißirauisch von sich fern. Dieses unbekannte, im Laster, vielleicht sogar im Verbrechen geborene Kind verkörperte in ihrer kurzen, bigotten Phantasie alle Zigeuner der Räubergeschichten; für sie waren das alles Leute ohne Glauben, ohne Fener, ohne Obdach, die auf den Händen gehen und die Zukunft prophezeien. Sie bildete sich ein, sie hätte die Seele einer kleinen Bestie zu zähmen, und spielte sich auf den ewigen Henker hinaus.

Joseph erinnerte sich nie ohne Entseßen an dieses dreieckige, knochige Gesicht mit den gefuiffenen Lippen und den kalten schielenden Blicken hinter der be­schlagenen Brille. Eifrig und ängstlich fegte das Kind die Stuben aus, servirte bei Tisch, wusch das Geschirr ab und putte das Kupfer. Wenn das Haus rein und glänzend sauber war, gestattete ihm das Fräulein als Belohnung, ihr das Garn zum Ab­wickeln zu halten. Das war eine sehr schwierige Operation. Er mußte die Hände, eine nach der anderen, mit einer leichten, rhythmischen Bewegung des Gelenks senten und jedes Mal nur einen Faden ablassen. Die Alte wickelte das Garn mit automa­tischer Bewegung auf einen Knäuel, und die Kaze, die auf einem Stuhle zusammengefauert lag, folgte mit aufmerksamen, ernsten Blicken den einzelnen Bewegungen und nickte, eine Pfote hoch hebend, dazu taktmäßig mit dem Kopfe.

IV.

Lesen lernte Joseph aus dem Gebetbuch seiner Herrin, ganz allein. Der Apotheker aus der Grand Rue war darüber starr und erklärte, der Junge würde es noch einmal weit bringen; ja, da er Einfluß im Gemeinderath hatte, so wirfte er ihm auf dem Gymnasium sogar eine Freistelle aus. Die Alte ließ ihn, ohne Einwände zu erheben, ziehen, denn eine solche Frühreife beunruhigte sie.

Das Gimnasium bot Joseph die Ruhe eines Hafens. Er liebte schon in den ersten Stunden die vier Mauern, die ihn vor den Menschen retteten. Je höher und düsterer sie waren, desto geborgener fühlte er sich. Er arbeitete. Zuerst arbeitete er, um sich für die" Gnade" des Gemeinderaths dankbar zu erweisen; als er dann sicher war, seinen Plaz im Refeftorium nicht mehr zu verlieren, arbeitete er, um zu arbeiten, zum Vergnügen, ohne Ehrgeiz.

In der Sekunda erhielt Joseph einen Preis bei der lateinischen Prüfung. Gin Vorsteher der Institution am Saint- Geneviève  , der in der Provinz auf begabte Schüler Jagd machte, bot ihm eine " Freistelle" an. Er sollte als Eternschüler den Kursus im Gymnasium Heinrich IV.   mitnehmen und sich auf die Normalschule vorbereiten. Als Reklame­schüler" sollte er seine Pension in Kränzen und Prämien bezahlen. Mit freudigem Herzen nahm er den Vorschlag an.

Seit seinem Unglück im Zirkus war er klein und Häßlich geblieben. Als er Abends das Gymnasium betrat, brachen seine Kameraden, als sie ihn mit dem kleinen Taschentuch, in das er seine Sieben­sachen geknüpft, erblickten, in lautes Lachen aus.

V

" 1

Was bringst Du uns denn da mit?" fragte ein großer, blonder Mensch mit elegant frisirten ein großer, blonder Mensch mit elegant frisirten Haaren. Ist das was zum Essen?"

Man stieß Joseph mit seinem Päckchen in den Studirsaal, und da das Lachen immer noch nicht aufhörte, so drohte Herr Poteau, ein dicker, angen­scheinlich zum Schlagfluß neigender Lehrer, er werde drei Schüler vor die Thür segen.

Ein Horaz   lag auf dem Pulte. Um feine Zeit zu verlieren, fing Joseph an, den Kopf in die Hände gestützt, daraus zu lesen:

"

Ein armer Besizer eines färglichen Feldes, fürchtete mein Vater doch nicht, mich nach Rom   zu bringen, um mich dort auf die Liste der Söhne von Rittern und Senatoren seßen zu lassen..."

Sein Nachbar, der große Blonde, der Sohn eines Börsenjobbers, der erst kürzlich zum Ritter der Ehrenlegion   ernannt worden, nahm das Päckchen an sich und fand es äußerst spaßig, den Inhalt herumzureichen. Von Plaz zu Plaz langte man sich die Lumpen des Neulings mit den Fingerspitzen, mit Grimassen des Ekels zu. Der Lehrer rief:

Sagen Sie mal, Sie da hinten, wie heißen Sie?" Joseph las weiter:" Ich konnte weder auf einen glorreichen Vater hinweisen, noch konnte ich mich rühmen, daß ich meine Güter auf einem apulischen Pferde besichtigte..."

,, Sagen Sie mal, Sie da hinten, können Sie nicht antworten, wenn man Sie ruft?"

Joseph hörte immer noch nicht. Jetzt stürzte der Lehrer auf den Neuling zu, während die Stufen des Katheders unter seinem Körpergewicht knirschten. Da erhob Joseph zu dem dicken Mann ein so ver= dußtes Gesicht, daß ein wahrer Lachsturm die Klasse erschütterte.

eines Schülers, der so viel von Horaz   auswendig wußte, als eine ganz persönliche beurtheilt.

"

Der Minister erhebt sich und spricht: Theure Schüler, Ihr seid die Elite der republikanischen Jugend, die Hoffnung Frankreichs  , die Ernte der Zukunft, die Morgenröthe der künftigen Zeiten. Ihr, die Triumphatoren des Gymnasiums, werdet die Sieger des Lebens sein. Die goldenen Kränze, die sogleich Eure Köpfe schmücken werden, sind keine leeren Symbole. Ihr seid, gestattet mir diesen kühnen Ausdruck, die Könige der Demokratie. Die Welt gehört Euch, denn Ihr seid der Gedanke, Ihr seid das Recht, Ihr seid die Kraft. Und ich neige meine grauen Haare vor Euren Lockenköpfen; ich grüße in Euch den Geist des Vaterlandes."

Frauen weinten. Und stolzen Herzens dachte Joseph an die nächsten Siege. Wenn er die Normal­schule verließ, wollte er sein ganzes Leben dem Horaz  widmen. Zuerst wollte er eine gelehrte Ausgabe veranstalten und beweisen, daß die Kritik die den auf das Schmählichste verstümmelt hat. Dann sollte seine These fommen:" Was Flaccus dem Pindar  verdankt." Schließlich wollte er die gesammten Werke des Horaz übersezen, langsam, gewissenhaft, wie Barthélemy Saint- Hilaire   Aristoteles  , wie Jorett, der berühmte englische   Hellenist in Orford, den Plato  übersetzt hat. Dann würde man Josephs Namen mit dem des Horaz   zusammen nennen.

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Da konnte er ruhig sterben.

Inzwischen verlas ein Inspektor das Palmarium: Rhetorit. Lateinischer Aufsatz. Ehrenpreis.( Pause.) Den von dem Präsidenten der Republik gestifteten Preis erhält der Schüler..."

Der Juspektor unterbrach sich und reichte mit feierlicher Miene das Palmarium dem Minister, als ,, Sie machen sich den Spaß, diese Lumpen hier wären seine Lippen nicht erhaben genug, um der ver­kreisen zu lassen?"

Mein Herr," stammelte das Kind, ohne zu begreifen.

" O, Sie widersprechen noch? Zur Strafe werden Sie Sonntag nicht ausgehen."

Von diesem Tage an war Joseph der Sünden bock der Schule. Wenn die Verfolgung zu heftig wurde, bestrafte Herr Poteau das" Opfer". Da der Lehrer Nachts bummelte, so pflegte er während der Unterrichtsstunden der Ruhe. Von Zeit zu Zeit wachte er auf, um Joseph zu bestrafen. Auf diese Weise war der Aermiste in jeder Woche im Sonn­abend- Aufsatz der Erste und durfte dafür Sonntags nicht ausgehen.

Doch er litt darunter nicht. Was hätte er draußen thun sollen, ohne Familie, ohne Geld? Nur wegen des Herrn Direktors war er ob dieser wöchentlichen Bestrafungen unglücklich. Was sollte Der davon denken? Er dachte sich, daß das Betragen Josephs vorzüglich und die Ungerechtigkeit des Herrn Poleau sehr politisch war; wenn der junge Mensch jeden Sonntag in der Pension blieb, hatte er mehr Zeit, sich auf die Prüfung vorzubereiten.

Der Herr Direktor hatte nicht so unrecht, der Jahresschluß war dank Joseph ein Triumph für die Jahresschluß war dank Joseph ein Triumph für die Anstalt. Er erhielt den ersten Preis in der latei­nischen Rede, den sogenannten Ehrenpreis, und den zweiten Preis in der griechischen Uebersetzung.

V.

Joseph sieht das Amphitheater der Sorbonne wieder, die Bücherstöße mit rothem und goldenem Schnitt, und dahinter die Minister und Generäle.

Die Gardemusik spielt die Marseillaise  "; Alle erheben sich und feierliche schwarze, gelbe, purpurne, mit Hermelin verbrämte Gewänder überfluthen den Halbkreis. Josephs wegen drängt sich diese Menschen­menge in den Tribünen. Um ihn zu sehen, neigen sich die mit Blumen geschmückten Hüte der Damen.

Und er erinnert sich des lateinischen Auf­sazes, der ihm diesen Ruhm einträgt, ein Brief des Crbilius an Horaz  , um ihn zur Ehrfurcht vor den Alten zurückzurufen. Diese Epistel des alten Päda­gogen enthielt eine solche Fülle von Satiren und Epoden, daß man glauben konnte, Flaccus hätte an sich selbst geschrieben und der Name Orbilius  wäre nur unterschoben. Daher wurde die Arbeit

sammelten Menge den Namen des ersten Rhetorifers Frankreichs   zu nennen. Und der Großmeister der Universität erhob sich, setzte sein Pincenez auf und verlas Josephs Namen.

Zitternd, scharlachroth, das gutmüthige Gesicht von Begeisterung übergossen, trat er vor. Die Ministerhand drückte auf Josephs Stirn den gelben Lorbeerkranz, dann bestätigte ein Walzer- Ritornell seinen Ruhm.

Ach! der prophetische Apotheker aus der Grand Rue hatte sich nicht getäuscht; der Junge würde es weit bringen!

VI.

Im nächsten Jahre wurde Joseph von der Normal­schule zurückgewiesen

Er hatte letzten Monat über zu viel gearbeitet. Ueberangestrengt fam er ins Eramen und blieb bei der mündlichen Prüfung stecken. Als er in die An­stalt zurückgekehrt war, flüchtete er sich in den leeren Schlafsaal, warf sich auf ein Bett, vergrub das Gesicht in den Kissen und weinte. Das waren mehr Thränen der Eitelfeit als des Schmerzes. Er fürchtete das Leben nicht, denn er kannte es nicht; sein Durch­fall war eine Demüthigung, aber keine Katastrophe.

Der Direktor ließ ihn am Abend rufen und sagte zu ihm in väterlichem Tone:" Mein liebes Kind, das Haus hat sich seit zwei Jahren schwere Opfer auferlegt, um Ihnen die Vollendung Ihrer Studien zu gestatten. Wir können Ihre Freistelle nicht ewig offen halten; das letzte Jahr war garnicht gut; wir müssen sparen. Uebrigens," fügte er mit leiſent Cynismus hinzu, sind Sie auch aus dem Alter der Reklameprüfungen heraus, und können die Kosten für Ihren Unterhalt nicht mehr in Kränzen und Diplomen bezahlen."

Joseph sah ihn starr an, er begriff nicht und fragte schließlich mit erstickter Stimme:" Ja, was soll denn aber aus mir werden?"

Der Direktor lächelte gütig und sagte, ihm auf die Schulter klopfend:", um Sie ist mir nicht bange, mein Freund; mit Ihren Mitteln werden Sie schon Ihren Weg machen; davon bin ich über­zeugt. Der Anfang wird vielleicht schwierig sein; das Leben ist allerdings nicht immer mit Rosen be­streut, doch wenn man intelligent und arbeitsam ist, so kommt man schließlich doch vorwärts. Sie haben tausend Mittel und Wege, von Ihrer Intelligenz