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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Köchers mit den vergifteten Pfeilen, und müßte er auch den brennenden Sand der Syrten durchschreiten." Dann öffnete Joseph sein Buch, und seine Seele flog gen Tibur  .

VIII.

Die Tage verflossen langsam und einförmig. Joseph besaß keinen militärischen Ehrgeiz. Wie Flaccus liebte auch er nicht die Schlacht elder, das wirre Geräusch der Trompeten und die entsetzlichen Kämpfe der Mütter." Er litt, ohne zu klagen, und erwartete die Stunde der Freilassung, ohne sich zu fragen, was dann kommen würde. Beunruhige dich nicht um den morgigen Tag," singt Horaz  , " genieße die gegenwärtige Stunde." Joseph be­mühte sich, sie zu genießen. Suche nicht zu er fahren, welches Ende die Götter dir bestimmen."

Vielleicht konnte er später ruhig und friedlich allein, ganz allein, mit seinem theuren Dichter leben. Und Joseph sah sich schon in irgend einer großen Bibliothek fizen, wo er, einer grauen Arbeitsbiene ähnlich, grübelnd über einem alten Folianten saß.

IX.

Ein Sonnenstrahl verklärte sein Leben; er bekam eine Bruftfellentzündung. Das brachte ihm sechs köstliche Wochen im Hospital ein; sie erinnerten ihn an die Tage der Ruhe, die seinem Unfall im Zirkus gefolgt waren. Oh! warum war er nicht häufiger frank?

Als er aufstehen konnte, bot ihm der Major einen Erholungsurlaub an. Joseph fragte sich nicht, wo er diesen Urlaub zubringen sollte; er sah nur Eins: er würde auf einen Monat von seinen Kame raden, den Adjutanten, den Centurionen befreit sein. So verließ er denn eines Morgens das Hospital mit leichtem Kopf und schwachen Beinen; einen Franc fünfzig Centimes, seinen Urlaubspaß und seinen Horaz in der Tasche.

Eine Woche lebte er von Wasser und trockenem Brot. Eines Abends, als er vor Hunger fast starb, verkaufte er für drei Francs seine Ordonnanzhose und hielt ein Gelage: er eine Wurst und ein Hörnchen. Am nächsten Tage wurde er verhaftet. Der Kriegs­rath zeigte sich sehr milde. Joseph wurde nicht nach Afrika   verschickt. Er wurde auch nicht füflirt. Mau verurtheilte ihn nur zu sechs Monaten Zelle.

Bevor man ihn einschloß, konfiszirte ihm der Korporal, der weder Tabak noch Pfeife bei ihm fand, seinen Horaz  . Obwohl er ihn auswendig wußte, betrübte ihn das doch; er hatte sich so eng an das kleine Eremplar angeschlossen, das er immer bei sich trug. Es erinnerte ihn an die schönen Abende in der Anstalt, an das ruhige Studierzimmer, an das leise Pfeifen des Gases, an das regelmäßige Athmen des Herrn Poteau und das leichte Flügel­rauschen der umgeblätterten Wörterbücher. Sein Horaz   beschwor seinen Traum herauf, den Kirchhof von Büchern, auf dem er sterben wollte, die Bibliothek, deren alte Bände so schön rochen, als wenn sie den Duft verwelfter Seelen ausströmten.

Sechs Monate später verließ er das Gefängniß nicht. Er vertauschte es nur und kehrte zur Kom­pagnie zurück. Und wieder begann sein altes Leben. Grausamkeit des Daseins!" murmelte Flaccus; ,, doch mit Geduld läßt sich das ertragen, was sich nicht ändern läßt."

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X.

Endlich wurde er vom Militär entlassen. Streich' einen so schönen Tag weiß au," singt Flaccus, und schone nicht den Falerner." ,, Nunc pecte libero pulsando tellus!"

Als der Käfig geöffnet wurde, entfloh der Vogel, wohin ihn gerade der Wind trieb. Wie sollte er leben? Das wußte er nicht; doch da er bis dahin gelebt hatte, so würde er wohl auch jetzt nicht sterben. Beunruhige dich nicht," wiederholte der Dichter; " schöpfe deinen alten Wein aus der sabinischen Amphore. Alles Uebrige überlaß den Göttern. Pflücke die Blume des Tages."

Er pflückte sie. Es war Frühling. Es war Frühling. Die Land­schaft leuchtete in neuem Glanze. Der Frost färbte die Wiesen nicht weiß; der Weinstock vermählte sich mit der Ulme, und unter den heiligen Eichen summten die Bienen.

Joseph hatte kein Geld. Wozu auch? Mit dem Gelde wachsen unsere Sorgen, unsere unersättlichen Wünsche. Er begehrte nicht nach den Schätzen Arabiens, sondern wußte sich mit Wenigem zu be= gnügen. Von so Wenigem, daß der Aermiste eines Tages bettelnd die Hand ausstrecken mußte. Er that es harmlos, ohne Scham. Ein Polizist sah es und nahm ihn mit. Der Artikel 174 ist un­erbittlich; Joseph wurde zu vier Monaten Gefängniß verurtheilt. Diesmal fühlte er sich hinter Schloß und Niegel nicht unglücklich; man hatte ihm seinen Horaz gelassen.

Als man ihm die Freiheit wiedergab, bummelte er durch die Straßen. Die Luft war milde. Riesen hafte Platanen bildeten über seinem Haupte Dächer von Blättern; es war gleichsam eine grüne Kathe­drale, in der die Vögel den Gott lobten und priesen, der ihren Kleinen die Nahrung giebt. Joseph streckte sich auf einer Bank aus. So stahl auch Flaccus, der einen Kelch alten Weines nie verschmähte, gern dem Tag einige Stunden, wenn er dichtend unter einem grünen Baume lag.

Doch auf Grund des§ 274 arretirte ihn ein Polizist, nachdem er ihn Morpheus Armen entrissen hatte. Und das Gericht verurtheilte ihn von Neuem zu sechs Monaten Gefängniß wegen Landstreicherei; außerdem sollte dieser gefährliche Geselle" zehn Jahre von der hohen Polizei" überwacht werden. Doch Joseph dachte: Ich bin doch weder ein Tiger Mauritaniens, noch ein Löwe Getulas.

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XI.

Da die Einwohner der Städte ihn fortscheuchten, so ging er aufs Land. Er hatte Hunger. Man sagte ihm: Arbeite." sagte ihm: Arbeite." Er wollte es gern. Er war ja nicht faul. In der allgemeinen Prüfung hatte er sogar drei Preise bekommen. Er hörte jetzt noch die glückliche Prophezeiung des Großmeisters der Universität: 3hr, die Triumphatoren des Gymna­Universität: Ihr, die Triumphatoren des Gymna­siums, Ihr werdet die Sieger des Lebens sein. Die siums, Ihr werdet die Sieger des Lebens sein. Die Welt gehört Euch, denn Ihr seid der Gedanke..." Ja, die Welt sollte ihm gehören; er wollte arbeiten, er wollte siegen. Er wollte lateinischen Unterricht geben, der ihm gestatten würde, seinen Horaz in Ruhe und Frieden zu übersetzen. Und Joseph trat in die Pachthöfe ein und bot den friedlichen Land­leuten seine Dienste an.

,, Virgil wird Euch die Kunst lehren, die die Ernte reichlich macht," sagte er. Er wird Euch sagen, unter welchem Gestirn man die Erde beackern und wie man die Heerden behandeln muß. Wenn Ihr zum Beispiel Euren Ziegen viel Milch ent­nehmen wollt, so schmücket Eure Ställe mit Lotos­blumen und Gräsern und brennet wohlriechendes Cedernholz ab...

Die Bauern brachen in lautes Gelächter aus. ,, Wollt Ihr Bienen züchten," fuhr Joseph fort, so wählet vier prächtige Stiere und ebenso viele Kälber, die ihr Haupt noch nicht unter das Joch gebeugt haben. Und wie Aristeus, der Sohn der Cyrene, opfert sie den Manen des Orpheus  . Wenn die neunte Morgenröthe   sich erhebt, werdet Ihr in den Eingeweiden die Bienen summen hören."

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Was!" riefen die Baueru, tausend Thaler verlieren, um Bienen zu haben?"

" Das ist ein einfältiger Geselle," sagten die Frauen.

Sie gaben Joseph ein wenig Suppe, dann legte er sich bei den Kälbern und den prächtigen Stieren schlafen...

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XII.

Indessen hielt die Polizei ein scharfes Auge auf den Verbrecher". So wurde er zwölf Mal wegen Landstreicherei und fünfundzwanzig Mal wegen Bettelei verurtheilt. Eines Tages führte man ihn vor einen Untersuchungsrichter, der sich gerade hinter dem Ohre krazte und dabei etwas auf ein Stück Papier   frigelte. Warten Sie," sagte er zu Joseph in eisigem

Tone.

Und während der Landstreicher zitternd mitten im Zimmer stehen blieb, vertiefte er sich wieder in seine Arbeit. Bald wurde er von heftiger Erregung ergriffen und sprach mit lauter Stimme Das, was er schrieb, vor sich hin:

Was willst Du, theures Schiff? Willst Du aufs Neue Den Wellen trotzen und dem Sturmgebraus? Schon einmal warst Du, ach! dem Schiffbruch nahe, Und dennoch willst den Hafen Du verlassen? Des Mast's beraubt, willst Du die Woge theilen? Sieh Deinen armen abgeschlag'nen Kiel...

Er war so vertieft, daß er nicht einmal bemerkte, daß Joseph ein Buch aufgeschlagen, das auf dem Tische lag, und gierig darin blätterte.

,, D," murmelte der Vagabund plötzlich empört.

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Was denn?" fragte der Richter, das Haupt erhebend.

" Wollen Sie es glauben, daß Baïter die Echt­heit dieser Strophe bestreitet?" rief Joseph. Was bleibt uns denn vom Horaz, wenn man alle seine Verse streicht, unter dem Vorwande, sie wären falsch? Wie ein Humanist sehr geistreich sagt, haben sie Horaz   aus Horaz   verjagt. Horatium ex Horatio expulerunt..."

" Nicht wahr, mein Herr?" versetzte der Beamte, sich vergessend. Ihre Philologie ist falsch, erlogen. Ich behalte Alles bei, ich gebe eine Ueberseßung in freien Versen, in der ich den ganzen Tert behalte. Hören Sie nur diese Stelle."

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Mit diesen Worten las er einige Verse. " Sehr gut!" meinte Joseph. Ihre Ueber­sezung ist sehr getreu, mein Herr. Sie begnügen sich nicht, den genauen Sinn des Sazes wieder­zugeben, sondern behalten auch die Bewegung, den Rhythmus des Gedankens bei."

" Nicht wahr?" sagte der Richter entzückt.

Dann bemerkte er, daß Joseph noch immer stand und sagte: Aber setzen Sie sich doch, bitte, mein werther Herr. Ich werde Ihnen noch einige Stellen aus meiner Uebersetzung vorlesen..."

Plöglich drang durch die halbgeöffnete Thür der Dreispiz eines Gendarmen.

,, Darf ich einen anderen Jufulpaten einführen?" ,, Lassen Sie uns in Frieden!" brüllte der Richter und der Dreispitz verschwand, während Joseph es sich in einem Fauteuil bequem machte.

Wie fassen Sie diese Stelle auf, mein werther Herr?" fragte der Richter und neigte sich über sein Buch.

Joseph zog ein schmieriges Heft aus der Tasche. " Ich habe so übersetzt..."

,, Teufel!" sagte der Andere mit plötzlich strenger Miene. Sie übersetzen auch?"

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" O, Herr Nichter! in Prosa, nur in Prosa... Sermo pedestris..."

Der Richter wurde wieder freundlich.

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XIII.

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Herr Jaquolot so hieß der Nichter ver­hörte Joseph und ließ sich seine Lebensgeschichte von ihm erzählen. Daher bemerkte er auch bald, daß der gefährliche Verbrecher", der bereits vierzig Mal vorbestraft war, die weiße Seele eines neu­geborenen Kindes besaß.

Dieser Beamte war nicht nur gerecht, er war auch gut, und da er Verbindungen besaß, so ver­schaffte er Joseph eine Stelle als Schulmeister.

Das war der Himmel. Herr Jaquolot schenkte seinem Schüßling einen Ueberzieher und Joseph durch­lebte aufs Neue die gesegneten Tage der Anstalt. Er ging oft in die Stadtbibliothek, die sehr reich an alten Büchern war, und hatte die Freude, hier einen Blandinius zu entdecken. Dieser Blandinins ist das älteste Manuskript des Horaz, das man mit frommer Ehrfurcht in der Abtei des heiligen Peter auf dem Berge Blandin in Holland   aufbewahrte. Unglücklicherweise zerstörte ein Brand während der Religionsfriege die Abtei, und mit den Mönchen kamen auch die Bücher in den Flammen um. Die philologische Welt beweint noch heute diesen unersez­lichen Verlust. Joseph zeigte seinen Fund dem Richter Jaquolot und machte ihn auf den unschäß­baren Werth desselben aufmerksam. Obwohl der gute Richter Horaz   übersetzte, verstand er doch nur sehr wenig Latein und beging häufig kleine Fehler, die der Schulmeister diskret ausmerzte.

Sie sahen sich nun gegenseitig ihre Arbeiten durch. Da Joseph seinem Gönner mitgetheilt hatte, er würde ihm seine Uebersetzung widmen, so fragte sich der gute Nichter, ob er seine nicht eigentlich