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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts beseitig­ten die deutschen   protestantischen Staaten fast überall die öffentliche Kirchenbuße, und mit ihr verschwand ein gewaltiges, die Geister knechtendes Zuchtmittel der Kirche.

Der Lanzellfisch.

Eine darwinistische Stizze. Von Curt Grottewit.

S

& würde wahrscheinlich Jeder ohne Weiteres eine bejahende Antwort geben, wenn man ihn fragte, ob er Säugethiere, Fische und Reptilien voneinander unterscheiden könne. Allein, wenn man einen Aal neben einer Wasserschlange, einen Walfisch neben einem Hai schwimmen sieht, so dürfte man nicht immer so leicht entscheiden, welcher Klasse jedes dieser einzelnen Thiere an­gehört. Der Naturforscher, der sich bis in's Gin­gehendste mit den Thieren beschäftigt, wird in diesen Fällen zwar feinen Zweifel kennen, jedoch auch für ihn ist es nicht immer ganz einfach, die Zugehörigkeit eines Thieres zu entscheiden. Die Natur läßt sich eben nicht so leicht in ein System bringen. Zwar bietet gerade der Darwinismus mehr als irgend eine friihere Lehre die Möglichkeit, die Thiere nach dem Grundsaße ihrer natürlichen Verwandtschaft aneinander zu reihen. Aber so einfach ist auch hier die Sache nicht. Denn jedenfalls ist die Entwickelung der Thiere von den niederen bis zu den höheren keine ununterbrochen aufsteigende Linie, es kommen viel­mehr hier und da Abzweigungen vor, Seitensprünge und Nebenlinien, welche die aufwärts steigende Ent­wickelung unterbrechen.

Freilich zeigen diese Abzweigungen und Seiten sprünge erst recht deutlich, wie unhaltbar frühere Vorstellungen waren, welche in dem Thierreich einen ganz bestimmten Schöpfungsplan, eine starre Sym­metrie annahmen. Wenn nun der Darwinismus das Thierreich als einen Stammbaum von Lebewesen auffaßt, so muß daraus von selbst hervorgehen, daß eine Menge Seitenlinien mit immer neuen Seiten­linien ein ziemlich verwickeltes Abstammungsgefüge ergeben. Und zwar kann irgend eine kleine Thier­gruppe den Stammbaum direkt fortsezen, während eine andere sich ungeheuer reich und mannigfaltig verzweigt. Nun sind aber eine Menge Zweige des Stammbaumes, ganze große Gruppen und Seiten­linien ausgestorben, und die überlebenden Thiere sind dann um so weniger in ihrer Verwandtschaft zu erkennen, je mehr Zwischenglieder fehlen. Natur­gemäß sind die meisten solcher Thiere ausgestorben, welche nahe am Anfang des Stammbaumes stehen; sie sind ja die ältesten. Unsere jezigen Thiere stammen meist aus der jüngsten Erdepoche, als sich der Stamm­baum schon sehr mannigfach verzweigt hatte. Aber gerade die Thiere, welche aus einem früheren Zeit­alter unseres Planeten noch übrig geblieben sind, erregen unser Interesse, sie gerade zeigen am besten den Entwickelungsgang, den das Thierreich durch gemacht hat. Sie ergänzen meist auch vortrefflich die Lücken, welche sich in der Verwandtschaft unserer heutigen Thierwelt vorfinden. Sie sind freilich auch Diejenigen, welche die alte Eintheilung der Lebe­wesen erschüttern, welche sich zum großen Aerger aller Schulmeister so wenig in ein System einordnen lassen und überhaupt das meiste Kopfzerbrechen machen.

Unter diesen Thieren haben in den letzten Jahr zehnten zwei Arten dem Naturforscher besondere Ver­legenheit und Schwierigkeit bereitet, zwei Thiere, die in ihrem Aussehen, in ihrem Körperbau, in ihrer Lebensweise so verschiedenartige Elemente und Eigen schaften aufweisen, daß sie fast als eine Art Fabel­wesen erscheinen mußten. Es sind dies das Schnabel­thier und der Lanzettfisch.

Das Schnabelthier weist in seltsamster Weise die Merkmale vom Säugethier, Vogel und Reptil auf. In seiner Größe, seinem langen, kurzbeinigen, pelz­bekleideten Leibe gleicht es am meisten dem Biber, während sein horniger, breitgedrückter, lang vor= gestreckter Schnabel und seine mit Schwimmhäuten versehenen Füße an die Ente erinnern. Man rechnet das Schnabelthier zwar definitiv zu den Sängern,

da es seine Jungen mit seiner Milch ernährt, allein wie außerordentlich weicht es darin von allen Säuge thieren ab, daß es Eier wie die Vögel oder die Reptilien legt. Auch in seinem inneren Körperbau Reptilien legt. Auch in seinem inneren Körperbau erinnert es in mancher Weise an jene beiden Thier flassen, während es andererseits durch den Besitz von Beutelknochen dem Känguruh und anderen niedrig entwickelten Sängethieren nahe gerückt wird.

Wenn so das Schnabelthier merkwürdige Ueber­gangsformen zu den verschiedensten Klassen des großen Wirbelthierkreises aufweist, so ist der Lanzettfisch oder Amphiorus( amphioxus lanceolatus) dadurch so interessant, daß er nicht nur ein Mittelding zwischen Fisch und Reptil bildet, sondern daß er außerdem eine Verbindung herstellt zwischen dem Wirbelthier­eine Verbindung herstellt zwischen dem Wirbelthier­freis und der großen Menge von Thieren, die kein Knochengerüst, keine Wirbelsäule besitzen.

Der Lanzettfisch ist denn wegen der Seltsamkeit seiner äußeren und inneren Strukturverhältnisse zu­nächst zu den Schnecken, und zwar zu den gehäuse­losen Schnecken, gerechnet worden, ganz abgesehen davon natürlich, daß man ihn in früherer Zeit wahr scheinlich als Wurm bezeichnet haben würde. Bis auf Linné machte man es sich mit den Thieren, die keine Wirbelsäule befizen, insofern leicht, als man alle unter die Würmer zählte und als solche nicht weiter beachtete. Der hervorragende Berliner   Natur­forscher Pallas, der überhaupt zuerst einen Lanzett fisch beschreibt, den er aus dem Meere von der Küste von Cornwallis   erhalten hatte, hielt ihn, wie schon bemerkt, für eine Schnecke. Erst in der Mitte der Erst in der Mitte der dreißiger Jahre, als überhaupt das strengwissen schaftliche Studium der Zoologie begann, drang man in die Natur des merkwürdigen Thieres besser ein.

Was an dem kleinen, fünf bis sieben Centimeter langen, nach vorn und hinten pfeilartig zugespizten Fischchen besonders auffiel, das war die Verbindung von Eigenschaften, die den Wirbelthieren zukommen, mit solchen, die den Würmern und anderen niederen Thieren eigen sind. Der Lanzettfisch besitzt Kiemen wie die übrigen Fische, und wie sie die Amphibien, Frösche, Salamander und dergleichen entweder wenig­stens in der Jugendzeit oder auch für die ganze Lebensdauer besigen. Er hat auch ein einigermaßen entwickeltes Blutgefäßsystem, allein ihm fehlt das Herz, und an dessen Stelle pulsiren die großen Blut­adern. Das Blut selbst ist kalt, wie das aller Fische, aber es entbehrt der rothen Farbe, die sonst dem Blute der Fische eigen ist. Und während diese im allgemeinen mit Schuppen bedeckt sind, ist die Haut des Lanzettfisches kahl, einfach und glatt wie bei einem Wurm. Dagegen zeigen sich kleine Anfäße von Flossen in der Gestalt einer schmalen, haut­artigen Falte, die sich vom Rücken aus um die Spize des hinteren Körperendes zieht. Diese Eigenschaft ist es, die den Lanzettfisch in Verwandtschaft mit den Fischen bringt, während der Besitz von Kiemen ihn auch zu den Amphibien weisen könnte.

Wenn der Lanzettfisch keine Wirbelsäule besitzt, jenes so bedeutungsvolle Organ, das die Rücken­marksnerven in ausgezeichneter Weise schüßt und dem Körper einen so vortrefflichen Halt gewährt, wenn er ferner feinen Schädel hat, so ist er damit eigent lich von der großen Gruppe der Wirbelthiere durch einen weiten Schritt getrennt. Er steht auf einer selbstständigen Stufe der Entwickelung, auf einem Stadium, in dem der Körperbau, Gefäße, Nerven noch nicht die Differenzirung erfahren haben wie bei den Wirbelthieren, in dem zu dieser Differenzirung jedoch die ersten Ansäße vorhanden sind.

Der Lanzettfisch scheint fast in allen Meeren vorzukommen, auch in der Nord- und Ostsee   ist er nicht selten. Er lebt jedoch vorzugsweise an solche Stellen des Ozeans, deren Land ihm Gelegenheit giebt, sich schnell zu verkriechen. Oft liegt er Stunden lang auf dem sandigen Grunde, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Das kleine Fischchen ist in der glücklichen Lage, keine langen Exkursionen anstellen zu müssen, um Beute einzufangen. Es braucht nur den Mund aufzusperren und die Nahrung mit dem Meerwasser einzuschlürfen. Es lebt von allerhand mikroskopisch kleinen Thieren, wohl meistens von Infusorien, von denen ja jeder Wassertropfen eine große Menge enthält. Zur Verdauung dieser leichten

Nahrung ist auch kein Magen nöthig, und so besteht denn das ganze Verdauungssystem in einem einzigen Kanal, der am Anfang als Speiseröhre und am Ende am Darm fungirt. Doch ist der ganze Kanal mit einer Art Wimpern ausgekleidet, die durch ihre Bewegung einen fortwährenden Strudel hervorbringen. Auch an der Mundöffnung des Thieres befinden sich eine Menge borstenartiger Wimpern, mit denen es das Eindringen und den Lauf der Nahrung hemmen oder befördern kann.

Wenn dem Lanzettfisch so ohne Anstrengung die Nahrung zufällt, deren er bedarf, so ist es kein Wunder, daß seine Sinnesorgane nur sehr schlecht ausgebildet sind. In seiner Färbung dem Wasser und dem Sande ähnlich, bedarf er nicht, wie der Hase, der seinen Feind schon von ferne wittert, eines feinen Gehörs, ja, er bedarf desselben über­haupt nicht. Und wie ihm die Ohren fehlen, so fennt er wohl auch keinen Geruch und keinen Ge­schmack, obschon man einen Ansatz zu einem gemein­schaftlichen Organ für beide Funktionen entdeckt haben will. Wie dem auch sei, jedenfalls besitzt er ein Auge, aber auch dieses ist nicht gerade ein Ideal von Sehorgan, es ist im Gegentheil sehr wenig ent­wickelt und kann nur mit dem Mikroskop wahr­genommen werden. Unter diesem erscheint es als ein dunkler Pigmentförper, der sich vorn am Ende des Nervenstranges befindet. Was es mit diesem Auge sieht, ist wohl nicht eben bedeutend, und es ist wahrscheinlich, daß das Sehorgan vielleicht einmal früher den Vorfahren des Lanzettfischchens gute Dienste geleistet haben mag, daß es aber durch Nichtgebrauch außerordentlich verkümmert ist. Der­gleichen Beispiele giebt es ja genug viele Fische, die aus dem beleuchteten Oberflächenwasser des Ozeans in die dunklen Tiefen des Meeresschooßes gewandert sind, haben die Sehkraft verloren, und ihr Auge ist entweder ganz reduzirt oder überhaupt verschwunden. Und ebenso steht es auch mit den Thieren, die in den großen Höhlen Kentuckys oder Strains ein ewiges, durch keinen Lichtstrahl erhelltes Nachtleben führen.

Das Lanzettfischchen gräbt sich sehr oft voll­ständig im Sande ein, so daß nur die Mundspite Wird es berührt allein aus der Erde hervorguckt.

und aufgescheucht, so führt es schnelle, zuckende Be­wegungen aus und schwimmt eventuell in bogen­artigen Linien wie ein Wasserwurm hinweg, bis es sich schließlich wieder auf den Sand fallen läßt und hier regungslos auf der Seite liegen bleibt.

So interessant nun auch der Lanzettfisch in seinen Lebensgewohnheiten sein mag, so ist er doch in erster Linie darum ein so bedeutsamer Gegenstand der Forschung geworden, weil er in seinem Körperbau eine vortreffliche Vermittelungsbrücke von den höheren zu den niederen Thieren darstellt. Seine Eristenz ist deshalb auch eine wichtige Stüße des Darwinis­mus und zugleich ein werthvolles Dokument für die früheste Entwickelungsgeschichte des Menschen. Wenn man schon in der noch ungeborenen Frucht von Säugethieren Kiemenspalten entdeckt hat, so liegt der Schluß nahe, daß diese Thiere, und mit ihnen der Mensch, aus Wasserthieren hervorgegangen sind. Dieſe Wasserthiere aber mögen einmal auf jener Ent­wickelungsstufe gestanden haben, auf welcher wir den Lanzettfisch jetzt finden, auf einer Stufe, wo sie halb Amphibie und halb Fisch waren und zu­gleich noch die Merkmale von Schneckenthieren und Würmern an sich hatten, die einst ihre Ahnen ge­wesen sein mögen. Ohne den Lanzettfisch würde unsere Kenntniß von der Entwickelungsgeschichte der höheren Thiere und des Menschen eine große, flaf­fende Lücke haben, eine weit größere Lücke als die ist, welche jetzt noch zwischen den menschenähnlichen Affen und dem Menschen besteht. Denn diese ist in der That so gering, daß niemals ein mit Ver­stand begabtes Thier im Zweifel gewesen wäre, den Menschen als einen Affen zu bezeichnen. Der Mensch ist aber in Bezug auf seine Stellung in der Natur immer sehr blind und hochmüthig gewesen, und deshalb ist es gut, wenn man ihm solche Zwischenformen, wie den Lanzettfisch, das Schnabel­thier oder den Dubois'schen Menschenaffen, vor Augen stellen kann.