Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.

Nach dem Gang der wirthschaftlichen Kämpfe und der wirthschaftlichen Befreiung muß man sich auch den Entwickelungsgang der Künste schwer und langsam vorstellen. Es hat riesenhafte Wanderungen, entscheidende Völkerkatastrophen gegeben: aber der gewonnene geistige Besiz wurde niemals völlig ver­weht. Eine reine Katastrophentheorie könnte auf die künstlerische Entfaltung nicht angewandt werden. Auch hier ist ein emsiges Fluthen wahrzunehmen. Während Eins aus dem Anderen schon organisch erwächst, tauchen Rückbildungen, scheinbare Willkiir­lichkeiten auf. Die starre vermeintliche Abgeschlossen­heit, wie man sie sich häufig bei alten Kunstdenkmalen einbildete, hat es nach den neueren Forschungen in Wahrheit nicht gegeben. Selbst in der egyptischen Kultur weiß man heutzutage verschiedene Epochen und verschiedenartige Beeinflussungen auseinander­zuhalten.

Ein merkwürdiges Zeugniß von den Wande­rungen in der Kunst geben wiederum die Pfahl­bauten in den Alpen. Kaum war der Mensch aus dem Gröbsten, und schon für die Schußbauten selbst, eine so primitive Nugarbeit sie darstellen, meldete sich das Kunstbedürfniß. Man fand schon tiinstlerische Maße, eine Art von linearer Ornamentit( lineare Verzierung). Anton Springer  , der Kunsthistorifer, bemerkt, daß diese Pfahlbau- Ornamentik wohl auf gemeinsame indogermanische Ursprungsform hinweist.

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Das Bewußtsein der Abhängigkeit von der Natur, die Nothwendigkeit, neue Wirthschaftsbedingungen auf zusuchen, haben zu allen Perioden in den ersten sprachkünstlerischen und mythischen Bildungen ihren finnbildlichen Ausdruck gewonnen. Uns ist zumeist die sinnbildliche Bedeutung der Wörter verloren ge­gangen. Wir gebrauchen das Wort, wie eine längst geprägte Münze, nach deren Bild man nicht mehr hinsieht. Uns ist die ursprünglich künstlerische That nicht mehr bewußt. Und welche übermächtige kiinst lerische Kraft mußte angewandt werden, um die Sprache zu bauen. Ein sinnbildlicher Begriff mußte, wenn ihn Einer fand, so überzeugend sein, daß er in einer Geschlechts- oder Volfsgemeinschaft sofort mit Lebhaftigkeit erfaßt werden konnte. Dem Einen erschien die ruhig wandelnde" Sonne wie der " Schwan des Himmels". Dem Anderen der Bliz wie eine gefliigelte Schlange. Der Indier nannte die Schlange ahi; aus demselben Wortstamm bildete ein spekulativer Kopf den symbolischen Begriff ahans, die Sünde. Die Umflammernde, die Würgende, wurde zum Sinubild aus der moralischen Welt: die Siinde eine Würgerin. Im Altindischen, im Sanskrit, bedeutet mara das Zermalmte, die Dede, das Wiiste, und mare wurde das symbolische Wort für das ungeheure Meer. Dem Hellenen, den günstige Seeverhältnisse, ein vielgegliedertes Land, zur Schifffahrt leiteten, war das Meer nicht die furchtbare Wasserwüsie; ihm wurde es zum wirth schaftlich freundlichen Symbol; er nannte es Pontos, ihm wurde es eine verbindende Brücke. Diese tiinst lerische Kraft der Sprache hat frühe Volksgenossen­schaften unter ähnlich gearteten Daseinsbedingungen zusammengehalten. Jacob Grimm  , der große Forscher, preist diese bildende Gewalt. Ohne solches Band," schreibt er, wiirden die Völker sich versprengen. Der Gedankenreichthum bei jedem Volfe ist es haupt sächlich, was seine Weltherrschaft festigt."

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Das ist viel gesagt im Zeitalter der Kanonen. Selbst die Mythenschöpfungen kommen in's Schwanken, wenn große öknonomische Bewegungen die Völkerphantasie erfassen. In der germanischen Epoche der seßhaften freibäuerlichen Geschlechter war Thor  , der Donnerer, zuhöchst eingewerthet, der Herr des Wetters. Als die Lande zu enge wurden, das Gähren und Brausen auhub, die germanische Wanderzeit Mitteleuropa   bewegte, da ging Odin  vor, der Sturmgott, der Herr des gewaltigen Wehens.

Auch heute kann die Volfsphantasie sich aus täg licher Beschäftigung, aus täglicher Naturbeobachtung heraus fünstlerische Simmbilder erschaffen, und sie thut's, wo ursprüngliche Volksliedformen leben. Ein Beispiel für viele! Der rumänische Tschopan, der Berghirte, flagt um die verlaufenen Schafe. Er steigt auf, um sie zu suchen. Weiße Steine sieht er ragen; er hält sie für seine Thiere; und als er hinzukommit,

sieht er, wie er geäfft ist. Das ist ein symbolisches Idyll und schmiegt sich eng an das farge Leben des Tschopans an. Tschopans an. Wer je die rumänischen Alpen be­gangen hat, der ist frappirt über die Sinnfälligkeit eines kleinen Volksliedes neueren Datums.

Auch die Bilderschrift, die aus dem Bedürfniß nach Mittheilung hervorgegangen ist, war zuvörderst fünstlerisches Symbol. In der altegyptischen Bilder­schrift ist der Durst gezeichnet als Kalb, das zum Wasser eilt. Die Leitung, die Führung wird durch einen Arm mit einer Peitsche dargestellt. Bezeich­nend genug für das absolutistische Pharaonenreich. nend genug für das absolutistische Pharaonenreich.

Für abgeschlossene fulturgeschichtliche Perioden läßt sich, natürlich nur in ganz großen, elementaren Zügen, die Wechselwirkung zwischen Wirthschafts­Geistes- Bewegung und Kunst reiner nachweisen, als für moderne Epochen, denen man selber nahesteht und die mit ihrer Ueberfülle von Erscheinungen ver­wirren. In einem fliichtigen Gang durch die Jahr hunderte kann es sich nur um markante Beispiele, hunderte kann es sich nur um markante Beispiele, um Anregung, nicht um erschöpfende Nachricht Han­deln. Gewiß ist, daß der zu höherer Einschäßung der Kunst als eines nothwendigen Theiles mensch licher Thätigkeit gelangt, der sie im Verlauf der gesammten Kultur- Entwickelung betrachtet, als der romantische Schönschmecker, der sie in freien Liften schweben sieht, nur von den Götterlaunen des Genies abhängig.

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Was alte vorhellenische Kultur uns hinterlassen hat, das spricht am Augenscheinlichsten durch Monu­mentalbauten zu uns. Wo einzelne Künste ver­stummt sind, wo die Musik verrauscht, der Klang stummt sind, wo die Musik verrauscht, der Klang erstorben, die Tanzrhythmen verschwunden sind, reden die Steine. Wir wissen von den altegyptischen Riesen­monumenten und wir wissen zugleich, daß der Nil der Lebensnerv des Landes war. Frühzeitig war man zu Dammarbeiten gezwungen; frühzeitig mußte Massenarbeit zur Bewältigung solcher Aufgaben heran­gezogen werden. Im Uebrigen ließ man den rettenden Strom gewähren. Er brauchte die Ueppigkeit. In flaren, trockenen Lüften hob sich das Menschenwerk deutlich von der Bodenfläche ab. Der architektonische Sinn wurde an den Nuzarbeiten geschult. Die ab­geschrägten Danmaufwürfe gaben einfache Modelle, wonach man Stein und Thon formen konnte. So wonach man Stein und Thon formen konnte. So führten die nackten Daseinsbedingungen zunächst zur besonderen Kunstiibung. Wenn also geübte Massen, die nicht einen großen Theil des Jahres der Ader­kultur zu widmen brauchen, in den Dienst der Pharaonenmacht gestellt sind, wenn religiöse und weltliche Machtvorstellungen zugleich zusammenwirken, so kann man sich erklären, wie das Pyramidenland das ,, Denkmal- Land der Erde" wurde. Das beschränkte Erdensein über das Grab hinaus zu erweitern, ist eine gemeinſame, menschlich- egoistische Vorstellung gewesen. Mumifizirt wollte man sich in Egypten erhalten. So wurden die Wunderbauten zu Zeugen der erhaltenden Pietät und der Ruhmesstellung der Könige.

Ganz anders stellt sich die Hauptentwickelung in einem anderen Wunderland", in Indien  , dar. Hier war die landschaftliche Umgebung größer, formen­reicher, ja formenphantastischer, so weit es sich um tropische Vegetation handelt. Im Norden macht die gewaltige Himalayawelt den Abschluß. In diesen Weiten fonnte sich anfänglich das Leben freier ent­falten, des Daseins Mühe war nicht zu groß. Alles half dazu, der indischen Phantasiethätigkeit Nahrung zuzuführen. Das brachte für die bildende Kunst bizarre, ausschweifende Gestalten, zugleich aber schuf es für die Poesie einen Märchenvorrath ohnegleichen. Bis zum indischen Drama hinauf reicht dieser Märchen­reiz mit seiner Anmuth und mit seinem Grauen. reiz mit seiner Anmuth und mit seinem Grauen. In die religiös- mystischen Vorstellungen dringt er ein, und selbst die spefulativ- religiöse buddhistische Lehre weist in der Versuchung Buddha's durch schöne Dirnen und im Kampf Buddha's gegen Mara's teuflisches Heer Stellen von so grandioser Phantastik auf, daß man an die Schilderungen in Dante's göttlicher Komödie denkt. Indische Märchen haben auch die Wanderung durch die Welt angetreten. Die Geschichte Joseph's und Potiphar's findet sich in der indischen Erzählungsliteratur, nur spielt sie zivischen zwei Brüdern, von denen der Aeltere ver­

heirathet ist. Das Märchen vom verpfändeten Pfund Fleisch, das der Gläubiger herausschneiden dürfe, aber ohne Blut zu vergießen, also das Shylock­märchen Shakespeare's  , ist in Altindien zu Hause und Gellert's Fabel vom Milchtopf kennt die indische Lehrpoesie als Märchen vom Reistopf. Der Reis­topf geht in Scherben, während der Träger sinnt und sinnt, was er mit dem Erlös aus dem Reis machen wolle. Voltsepen, wie das anmuthreiche Gedicht von Nal und Damajanti, ein Hohelied auf Frauentrene, erinnern an gemeinsame indogermanische Vorstellungen; die germanische Sage von der viel­geprüften Gudrun und die Heiligenlegende von der verstoßenen und treu befundenen Genovefa sind gleichen Wesensursprungs.

In der Folge gerieth das Inderthum in Völker­noth. Kämpfe begehrlicher Eroberer, Völkerkriege entstanden, die harte Ständegliederung begann sich auszubilden; neben Kriegern, Prieſtern und freien Herren lebten die Shudra, die zum Dienen bestimmte Kaste. All diese Nöthe mußten bei so hoch ent­wickelter Phantasie die Empfindlichkeit für Leiden verschärfen. Phantasiereiche Naturen vergrößern Leid und Lust, das ist eine uralte Erfahrung, und so hat der wirthschaftlich- moralische Druck und die Kenntniß von dem Druck zur pessimistischen, welt­flüchtigen Spekulation geführt, zu Entsagungstheorien, die in der jüdisch- christlichen Welt wieder erscheinen. Auch das Mitleid mit den Beladenen und Ge ächteten wird in religiös- tiinstlerischer Darstellung frei, und wenn Ananda, ein Jünger Buddha's, zum farbigen Tschandalamädchen, dem Paria- Kind, das am Brunnen Wasser schöpft, spricht, so wird man an die Bibelstelle von der Samariterin erinnert. Ein Brahmine kehrt sich zur Unheiligen! Es iſt, als wären die Kastenunterschiede ideell geleugnet.

Es wirde zu weit führen, auf das vorderasiatische Völfergewirr und die Wandlungen der Kunst dort einzugehen. Dort hat auch die moderne Forschung noch ein großes Arbeitsfeld vor sich, und auf mancherlei Beziehungen, denen das alte Hellas das Mittleramt zwischen dem Orient und Europa   dankt, dürfte noch breiteres Licht fallen. Erwiesen ist, daß das alte Griechenthum nicht unwesentliche semitische Kulturziige in sich aufgenommen hat. Manch' religiös- künstlerisches Eigenthum kann viel leicht noch auf Zeiten zurückgreifen, als die Tremung der arisch- semitischen Völkergruppen noch nicht voll­zogen war. Als Weltmacht gewissermaßen sind die semitischen Phönizier aufgetreten. Sie waren Handels­herren und Koloniengründer; bei ihnen entwickelte sich eine Art von Hochfinanz und Großbourgeoisie. Künstlerisch mochten sie sich nicht so sehr verinner lichen, aber sie sind mit ihrem Drang und Streben nach außen hin, also im Gang ihrer ökonomischen Entwickelung, werthvolle Vermittler fünstlerischer Ge stalten geworden. Sie haben auf Hellenen wie auf Etrusker in Altitalien eingewirkt. Sie haben ihre abgekürzte Bilderschrift, das Alphabet uns Allen übertragen; und mancher Mann im religiös- künft lerischen Stult der Griechen, wie der des Sonnens jünglings Adonis  , eines hellenischen Siegfried, hat geradezu einen Gleichklang mit der semitischen Be zeichnung sich bewahrt.( Adonis  , phöniko- semitisch Adonai  .)

Die hellenische Kunstkultur, die Antike," bildet erst ein weites Fundament europäischer Kunst­entwickelung überhaupt. Nur darf man auch hier nicht vergessen, wie mancherlei wirthschaftliche Umwäl zungen vorausgegangen sein mußten, bis das griechisch Es ist Klassische Schönheitsideal geschaffen wurde. ein altes Vorurtheil, das vielfach von flassicistischen Gymnasiallehrern genährt wird, daß den alten Griechen unter ewig lachendem blauen Himmel das Leben leicht eingegangen wäre. Schon Boeckh in seiner grundlegenden Staatsgeschichte der alten Griechen spricht es aus: Die Hellenen waren weit unglüc Ein Beweis ist licher, als die Meisten glauben." ihre Sagenbildung an sich. Kult und Mythe sind ja der verdichtete Niederschlag von Volkserlebnissen und von Voltsanschauung. Wie viel von arisch- semitischem Gemeinbesitz aus Vorzeiten, wie viel durch phönizisch­semitische Vermittelung anfänglich zu den Griechen gedrungen war, das ist in Dunkel gehillt. Vor­