244
Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
tung zunächst erst einmal in aller Bescheidenheit die fritische Frage gegenübergestellt, ob sich denn doch nicht vielleicht die Sache umgekehrt verhalte und der allerdings erhebliche Alkoholgenuß nicht etwa eine Folge der schlechten Lebensumstände sei, unter denen der größte Theil unserer Mitmenschen zu leben ge= zwungen ist. Damit hätten wir einen festen Ausgangspunkt für unsere Untersuchung geschaffen und können nunmehr mitten in die Thatsachen hineindringen.
Da taucht denn aber gleich wieder bei uns gewissenhaften Unternehmern dieser Forschungsreise eine Frage auf, die wir erledigen müssen; sie heißt: ist denn die Geschichte überhaupt so wichtig? Wird denn so viel getrunken und zeitigt das Trinken solche Folgen, daß der Sozialpolitiker sich ernsthaft mit der Sache beschäftigen muß? O ja, lautet darauf die Antwort, es werden jährlich von unserem Volke ganz ungeheuere Summen für alkoholische Getränke ausgegeben, gerade die allerarbeiterfeindlichste Sippe, die ostelbischen nothleidenden Edelsten und Besten" stiißen z. B., wenigstens zum Theil, geradezu ihre Existenz auf die 40 Millionen Mark Liebesgabe, die die ärmeren Schichten der Bevölkerung ihnen in die gräflichen und freiherrlichen, auf jeden Fall aber unergründlichen Taschen hineinzusteuern gezwungen werden. Also die Sache ist wirklich wichtig und für den praktischen Politifer nicht minder interessant, als fiir den Gelehrten und Volksfreund, der sich mit ihr in seinem stillen Studirzimmer befaßt.
Trinken und trinken ist ein Unterschied, sagt der Volksmund, der hier, wie so oft, eine echte Wahrheit ausspricht. Es ist ganz etwas Anderes, ob Jemand in einem feinen Salon ein Gläschen Champagnerwein langsam in seiner Kehle verperlen läßt, oder ob einer in dem Tabaksqualme einer muffigen Destille den schlechtesten Fusel viertelliterweise durch die Gurgel jagt; es ist ganz, etwas Anderes, ob einem nach leckerem Male der Spißkelch voll Benediktinerliqueur den Geschmack verbessern und die Verdauung er= leichtern soll, oder ob ein ausgemergelter Waldarbeiter seinem frierenden Körper beim feuchtkalten Herbstnebel ein wenig Wärme durch einen Schluck Branntwein zuzuführen sucht. Man kann die Möglichkeiten garnicht alle erschöpfen, die immer wieder auf's Neue darauf hinauslaufen: trinken und trinken ist ein Unterschied. Aber so verschiedenartig das Trinken im Einzelnen auch sein mag, jede seiner Formen kann zum Mißbrauch führen, d. h. zur Trunksucht ausarten. Trunksucht nennen wir den höchsten Grad der Unmäßigkeit im Trinken, und sie wird dadurch charakterisirt, daß dem betreffenden Trinker die Einverleibung beträchtlicher Mengen möglichst starker alkoholischer Getränke meist bis zur vollständigen Berauschung zu einem unabweisbaren Bedürfniß wird. Solche Leute nennt man schlechtweg Trinker. Nun dürfen wir es natürlich nicht bequemer Weise bei dieser einfachen Feststellung der Thatsache beruhen lassen, sondern als Freunde des immer weiter vorwärtstreibenden, quälenden aber doch schließlich auch einzig den unruhigen Geiſt beruhigenden Warum und Weil müssen wir viel mehr nach den Ursachen forschen, die den Umschlag des Alkoholgenusses in den Alkoholmißbrauch bewirken.
Gehen wir dabei nur recht hübsch methodisch vor und schauen erst einmal nach, warum denn überhaupt die Menschen Alkohol zu sich nehmen. Wir erinnern uns, daß wir es da mit einer sehr alten und sehr verbreiteten Sitte zu thun haben. So weit wir in der Geschichte zurückblicken, so weit begegnen wir dem Alkoholgenuß. Auch wir können, wie das bei solchen geschichtlichen Rückblicken in der Regel geschieht, mit dem ebenso wiirdig wie gelehrt ausschauenden Sage beginnen:„ Schon die alten Egypter usw." Die alten Egypter, diese Tausendsassas der Weltgeschichte, die uns fast alle Stulturerrungenschaften in irgend einer, wenn auch primitiven Form vorweg genommen haben, tranken eine Art von Bier; aus dem alten Testament wissen wir zur Genüge, wie hoch die Israeliten den Wein zu schäßen wußten; auch die Griechen und Römer haben dem Alkohol zugesprochen, und mit Recht durfte Lessing deshalb in einem kleinen Trinkliedchen behaupten:" Trinken sang Anakreon, trinken sang Horaz !" Die ganze antife Welt kannte
den Alkoholgenuß; aber die Alten tranken nur bei den Mahlzeiten und im„ Gelage", d. h. bei geselligen Zusammenkünften; unbekannt war ihnen dagegen die Verbindung des politischen Lebens mit dem Spirituofengenuß und das Trinken bei der Arbeit oder in Arbeitspausen. Wir modernen Menschen fühlen uns nun zwar völlig frei vor jedem übertriebenen Respekt vor dem Altgewordenen, wir glauben längst nicht mehr, daß irgend etwas deshalb besonders gut oder besonders verehrungswürdig sei, weil es schon lange geschieht und den Grünspan der Geschichte trägt, aber wir müssen uns doch sagen, daß eine Sitte, die sich von den Anfängen der uns bekannten Menschheitsgeschichte ab durch alle die vielen Jahr hunderte hindurch, troß der vielen grundstürzenden Veränderungen im Leben der Einzelnen, der Völker und der Menschheit, erhalten hat, sehr starke Wurzeln geschlagen haben muß. Völker sind gekommen und verschwunden, Staaten haben geblüht und sind verwelft, hunderte von Geschlechtern sind einander gefolgt: aber die Sitte des Alkoholgenusses ist geblieben.
Hier die Ursachen, die sich in physische und psychische scheiden lassen: Der Alkohol wirkt zunächst stark ein auf die sogenannten Zirkulationsorgane, d. H. auf diejenigen Organe unseres Körpers, die mit dem Blutkreislauf zu schaffen haben. Die nach dem Genuß von Alkohol eintretende Beschleunigung des Blutkreislaufes, die sich äußerlich in der Röthung des Gesichts und der Vermehrung des Pulsschlages zeigt, verursacht das Gefühl gesteigerter Erwärmung. Das Gefühl der Erwärmung, wie wir vorwegnehmend gleich hier bemerken wollen, denn der Vorgang ist durchaus subjektiver Art; die Physiologie lehrt uns, daß gerade durch den beschleunigten Blutumlauf objektiv eine Abkühlung eingeleitet wird. Aber wichtiger noch als die Möglichkeit, sich durch den Genuß von Alkohol das Gefühl gesteigerter Erwärmung zu verschaffen, ist seine Einwirkung auf unsere seelischen Zustände. Und damit verhält es sich folgendermaßen: Jedes Wesen strebt nach Lustempfindungen und sucht Unlust, Leid zu vermeiden oder zu bannen. Während nun der Mensch, zumal auf einer höheren Stufe der Kultur, seiner Sehnsucht nach Luftempfindungen durch die Wahrnehmungen, die der Außenwelt entstammen und durch Vermittelung der Sinnesorgane dem Bewußtsein übermittelt werden, Genüge thun kann, besigt er doch dazu auch bequemere Mittel. „ Er vermag," so sagt Alfred Grotjahn , ein erfolg= reicher Forscher auf dem Gebiete des Alkoholismus , , bei Anwendung narkotischer Stoffe allein durch direkte Reizung der Großhirnrinde mittelst einer chemischen Substanz sich Lustgefühle zu verschaffen, die unab= hängig von den aus der Außenwelt stammenden Wahrnehmungen und von der Beschaffenheit der Sinnesorgane sind." Mit anderen Worten: Durch wenige Schlucke eines alkoholischen Getränks vermag sich der Mensch eine Summe von Lustgefühlen zu verschaffen und fast augenblicklich seine Stimmung verschaffen und fast augenblicklich seine Stimmung zu verbessern. Hunger, Durst und Ermüdungsgefühl weichen dem Einfluß des Alkohols; geschäftliche Sorgen, das häusliche Elend treten im Geiste zurück; die Wände der ärmlichen Wohnung erscheinen nicht mehr so kahl und kalt, das ganze Leben nicht mehr so sinnlos und trostlos. Dieser„ euphorischen", d. h. glückfördernden Wirkung hat der Alfohol in erster Linie seine Verbreitung und Werthschätzung zu verdanken, und er wird so lange verbreitet und geschätzt sein und bleiben, so lange der größte Theil der Menschheit sich durch Augenblicke des Rausches für lange Zeiten grauenhaften Elends zu entschädigen gezwungen ist.
"
Das ist ja der Kehrreim in allen Trinkliedern, die immer wiederkehrende Mahnung, den Becher als Sorgenbrecher, als Freudenspender zu betrachten und zu verehren; das Goethe'sche ,, Ergo bibamus", oder wie es verdeutscht heißt: Drum laßt uns trinfen!" fehrt zu allen Zeiten wieder; der eine Dichter singt's einmal nach dieser Melodei, der andere nach jener, aber schließlich kommt es doch immer auf dasselbe hinaus, wie es ja denn auch bei Goethe zu lesen steht:
" Das heißt noch ein altes, ein tüchtiges Wort: Es passet zum Ersten und passet so fort, Und schallet ein Echo vom festlichen Ort,
Ein herrliches Ergo bibamus!"
-
Nun wollen wir uns aber garnicht durch die volltönende Leier in unserer ernsten Untersuchung stören lassen; Trinflieder weiß ja ohnehin ein Jeder genug auswendig; wenn's gerade feine von Goethe oder Mirza Schaffy sind, so sind es welche von irgend einem anderen Sänger, und wer auch noch so unbewandert auf diesem Gebiete sein sollte, der murmelt doch wohl manchmal vor sich hin:„ Wer niemals einen Rausch gehabt, das ist kein braver Mann" ein Saz, über dessen Werth wir uns jetzt nicht streiten wollen. Vorhin sagten wir schon: die euphorischen Eigenschaften des Alkohols, oder mit anderen Worten, die Thatsache, daß ein paar Schlucke alkoholischer Getränke dem Menschen die Welt rosiger erscheinen lassen können, erkläre zum großen Theil die weite Verbreitung des Trinkens. Aber sie erklärt sie nicht allein. Es kommen auch noch andere Umstände hinzu, die wir jetzt betrachten müssen. Der Alfohol ist nämlich nicht allein ein Genußmittel, sondern er ist auch ein Nährmittel und spielt als solches keine geringe Rolle in vielen Haushaltungen. Es ist bekannt, das jedes Lebe wesen, wenn es nicht zu Grunde gehen soll, beständig die durch den Stoffwechsel ausgeschiedenen Stoffe durch Nahrungsaufnahme wieder ersetzen muß. Die in der Nahrung aufgenommenen Stoffe dienen zum Aufbau der abgenutzten und zu Grunde gehenden Gewebzellen, und andermal zur Herbeischaffung neuer Spannkraft als Ersatz für die verausgabte lebendige Energie des Körpers. Diese lettere Sorte von Nährmitteln man nennt sie die respiratorischen müssen unter allen Umständen ausreichen, um die in unserem Klima so sehr schwankende Wärmeabgabe des Körpers und außerdem die Ausgabe der Muskelkraft zu decken, widrigenfalls der Körper zu Schaden kommt. Nun können wir zwar die nöthigen Stoffe unserem Leibe durch den Genuß von Brot, Kartoffeln, Zucker usw.( die Kohlehydrate genannt) zuführen, wir können auch Fett, Schmalz, Butter und Del hinzufügen nur eine ganz fleine, aber wie man begreifen wird, nicht unwichtige Voraussetzung muß der Proletarier dabei machen: er muß diese schönen Dinge erst haben! Es ist dieselbe Geschichte, wie mit den leckeren Kochrezepten, die in den Kochbüchern stehen und nach denen auch die Frau des Arbeiters ganz famos würde kochen können, wenn sich das Alles so schön von selbst verstiinde, wie es da aufgeschrieben ist: Nimm vier Pfund schönes Rindfleisch, koche daraus eine starke Brühe, die mit drei Eiern abgerührt wird usw. usw." Woher nehmen und nicht stehlen, seufzt die geplagte Hausfrau, die mit zehn Mark oder noch weniger sechs, acht hungrige Mäuler eine ganze Woche lang stopfen soll. Weil sie die guten Sachen nicht kaufen kann, deshalb greift die Arbeiterfrau zu Ersagniittelu; und weil mancher Proletarier seinem ausgemergelten und abstrapezirten Körper nicht genug respiratorische Nähr mittel in den oben erwähnten Formen zuzuwenden vermag, deshalb greift er instinktiv zum Alkohol, zum Schnaps, der nämlich auch ein respiratorisches Nähr mittel ist.
-
-
-
"
Es giebt ein Sprichwort, das heißt:„ Eine gute, gebratene Gans ist eine gute Gabe Gottes"; das stimmt schon, nur muß das dumme Thier sich auch auf unseren Tisch verfügen, sonst ist es eben 31 dumm". Nun braucht es schließlich ja nicht gerade immer ein knusperiger Gänsebraten zu sein, man hat auch noch andere schöne Dinge: aber bei allen ist Eines vornehmlich zu beachten, daß es nämlich nicht nur darauf ankommt, überhaupt dem Körper Nahrung zuzuführen, sondern daß auch das Wie dabei eine große Rolle spielt. Das Essen soll gleich zeitig einen Genuß darstellen. Der Magen soll nicht nur nothdürftig mit der nothwendigen Menge, Pams" vollgefüllt werden, sondern Zunge und Gaumen, Nase und Auge sollen sich an den Speisen erfreuen das ist das Richtige. Aber damit sieht es nun leider in einem Armenhaushalt verzweifelt schlecht aus. Denn wo Schmalhans Küchenmeister ist, da kann auch die beste Hausfrau ihre Kunst nicht zeigen. Ein guter Braten, ein saftiges Gemüse, weißes Brot thäte schon gut; aber was ist es meistens, was den Tisch des Proletariers ziert"? Startoffeln, Tifften, Potacken oder wie man sonst dieses knollige
-