Nur die Fliegen waren geschäftig. Sie tummelten sichlustig hin und her zwischen den Spuckklecksen am Fußbodenund dem Käsebutterbrot auf dem Schenktisch, und schienensich überhaupt hier in der schweren, fetten, biergeschwängertenLuft der Stube wie in einem Himmelreich zu befinden.Unter den zufälligen Gästen des Abends gewahrte maneine Zeitlang einen kleinen, buckeligen Mann, mit einemschwarzen Taftlappen vor dem einen Auge. Es war ein Uhr-machergehülfe, Kasper Kapper, der bei einer alten Witwe inder Prinzeßstraße oben in der Mansarde sechs Treppen hochzur Miete wohnte, zusammen mit einem Donipfaff, einemHänfling, zwei Kanarienvögeln und zwei weißen Mäusenmit roten Augen. Der kleine Krüppel hatte das Malheurgehabt, sich sterblich in Oline zu verlieben, und nun saß erjeden Abend da und sah mit Verzweiflung im Herzen, wiesie ihre Zärtlichkeit an den verächtlichen„Freund" ver-gcudete, der sich offenbar gar nichts daraus machte, währender gern sein Leben oder doch wenigstens alles, was er besaß(und das war seiner Ansicht nach gar nicht so ganz wenig)hingegeben hätte, um in den Besitz ihrer Gunst zu gelangen.Aber Oline war gänzlich unempfindlich für seine Annäherungen, obwohl er sie mit recht beträchtlichen Geldbeträgenbegleitete. Diese steckte sie ohne weiteres in ihre Wachstuch-tasche unter der Schürze, schenkte ihm aber trotzdem kaumein Lächeln,— ja, einmal, als er ihr versuchsweise eineganze Krone zugesteckt hatte, und sich dafür berechtigt glaubte,sie mindestens ein wenig in den Teil ihrer Person zu kneifen,der ihm am anziehendsten erschien, wurde sie wütend, schlugihn auf die Finger und fing an, so zu schreien, daß MadameJakobsen erwachte und Olines Freund vom Stuhl in dieHöhe kam, worauf Kasper es für ratsam hielt, ganz still undeilig zu verschwinden.Eine Zeitlang hielt er sich nun ganz fern von dem„Kleinen Schifferhaus" und suchte andere Wirtschaften mitweiblicher Bedienung auf. aber überall mit demselben Miß-erfolg. In seinem brennenden Bedürfnis nach Zärtlichkeitkonnte er nie die Hoffnung aufgeben, daß seine demütige An-bietung in Verbindung mit klingenden Beträgen ihn doch eineinziges Mal zum Siege führen müsse. Er wußte ja freilich,daß seine Haltung nicht tadellos war, und wenn er es auchselbst nicht riechen konnte, so hatten ihm wohlmeinende Käme-raden doch zu verschiedenen Malen erzählt, daß er wie derleibhaftige Teufel nach Pflaster und alter Augensalbe stänke.Aber wenn er sich selbst im Spiegel betrachtete— was er oftund sehr gründlich tat— schien es ihm doch, als sei er einganz hübscher junger Mann mit einem gewissen vornehmenAnstrich. Er hatte auch einmal eine Frauensperson ihrerFreundin einige Worte über sein schönes Haar zuflüsternhören, das er freilich auch mit ganz besonderer Sorgsaltpflegte und wie eine Künstlermähne bis auf die Schulternherabwachsen ließ. Er hatte außerdem einmal in einemRoman gelesen, daß Männer seiner Art eine große An-ziehungskraft auf gewisse Frauen, sogar auf die allerfeinsten,ausüben konnten, indem sie ihren Barmherzigkeitsinstinktwachriefen, was— wie in dem Roman gestanden hatte— derKeim zu der Liebe der Frauen sei.Deswegen versuchte der junge Mann nicht ausschließlichin schmutzigen Kellerwirtschaften sein Glück. Trotz allerDemütigungen und Enttäuschungen witterte seine Hoffnungauch auf höher gelegenen Jagdgebieten, ja, schwang sich mitdem Adlermut einer romantischen Phantasie bis zu den höchstenZinnen hinauf.Er hatte eins Reihe von Jahren bei einem der größerenFabrikanten in der Stadt gearbeitet, bei dem er sich auf Grundseiner Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit allmählich zu einer Ver-trauensstellung aufgeschwungen hatte. So gehörte es dennauch zu seinen Pflichten, wöchentlich einmal die Runde durchdie Stadt zu machen und die Uhren bei den festen Kundendes Geschäfts aufzuziehen.Bei dieser Gelegenheit gewann er Zutritt zu vielen vor-'nehmen Häusern in der Breitenstraße wie in der Amalien-straße und hatte Gelegenheit, Bekanntschaften zu machen, diefeine Eitelkeit anregten, nicht nur unter den Dienstmädchen,die ihm die Tür öffneten und ihn wieder hinausließen, undmit denen er sich gern unterhielt, sondern auch unter den Herr-schaften selber, die zuweilen ein Wort mit ihm wechselten.Auf einein dieser Rundgänge in diesem Herbst hatte ernun folgendes Erlebnis:Eines Vormittags, als er bei Frau Gylling, der Witwedes reichen Kohlenhändlers Gylling, klingelte, wurde ihm nichtKon der gewöhnlichen mürrischen alten.Haushälterin, sondernvon einem jungen, ländlich frischen Mädchen mit breitenSchultern und weißem Seidenband in dem blauschwarzenHaar geöffnet. Sie begriff nicht sogleich, zu welchem Zwecher kam, weshalb sich eine kleine Unterhaltung zwischen ihnenentspann.Das junge Mädchen sah ihn so freundlich und teilnahms-voll an. Sie blieb während seiner Arbeit bei ihm stehen undfragte, ob sie nicht helfen solle. Und als er ging, begleitetesie ihn ganz hinaus und sagte, ehe sie die Tür schloß, ganzehrerbietig„Danke" und„Adieu".(Fortsetzung folgt.)(Nachdruck verboten.)I�nchvig ßoltzmann.Nicht häufig ist der Name eines Forschers auf dem Gebieteder exakten Wissenschaften in weiten Kreisen bekannt. Ob dieResultate seiner Arbeiten einen ganz unmittelbaren und auf denersten Blick deutlich erkennbaren Einfluß auf unser gesamtes Lebenausüben, hängt oft nur von resn zufälligen Umständen ab. Alsvor zehn Jahren Röntgen die von ihm als X-Strahlen bezeichneteStrahlengattung entdeckte, war es die zufällige Eigenschaft dieserStrahlen, eine chemische Wirkung auf die photographische Platteauszuüben, welche ihr zu so ungemeiner Bekanntschaft verhalf;die Entdeckung selbst schloß sich gleichsam organisch einer Reihe vonwissenschaftlichen Arbeiten und Entdeckungen auf dem Gebiete derElektrizität an, deren einzelne Phasen zum Teil bedeutender sindals die Entdeckung der X-Strahlen. Aber wegen der äußeren Er-kennbarkeit gerade dieser Entdeckung mußte ihr Urheber natur-gemäß bekannter werden als eine Reihe anderer Forscher aufdemselben Gebiet. So ist auch Ludwig Boltzmann, derWiener Physiker, welcher am 7. September seinem Leben selbstein Ziel gesetzt hat, im großen Publikum wohl nur wenig bekannt,obwohl er in der Wissenschaft zu den glänzendsten und bedeutend-sten zählte und sein Wirken und seine Leistungen weit überDeutschlands Grenzen hinaus reichten.Boltzmann wurde schon in jungen Jahren akademischer Lehrer.Bereits als Dreiundzwanzigjähriger. im Jahre 1867, ließ er sichals Privatdozent in Wien nieder und wurde zwei Jahre daraufzum Professor der mathematischen Physik in Graz berufen.Später bekleidete er Professuren in Wien, dann von neuem inGraz, München, nochmals in Wien, Leipzig und seit 1802 wieder-um in Wien, wo er bis zuletzt unter Ablehnung eines an ihnergangenen Rufes nach Berlin blieb.Bon seinen Arbeiten, die sich auf viele Gebiete der Physik er-strecken, erwähnen wir besonders seine„Vorlesungen über Max-wells Theorie der Elektrizität und des Lichtes". Die Annahmevon Kräften, welche durch den leeren Raum hindurch in die Fernewirken, also eine Wirkung an Stellen ausüben, an denen dieKörper, von denen sie ausgehen, sich selbst nicht befinden, hatetwas sehr Unbefriedigendes an sich. Zur Erklärung der Bewc-gungen der Himmelskörper war die Voraussetzung solcher Kräftemit der Theorie der allgemeinen Schwere in die Physik eingeführtworden, und die Erfolge dieser Betrachtungsweise waren so groß— wir brauchen nur an die Berechnung eines noch unbekanntenPlaneten, des Neptun, zu erinnern, der erst nach seiner Berech-nung wirklich aufgefunden wurde—, daß man die Schwierigkeitder Grundvorstellung allmählich darüber vergaß. Man griff dannauch auf anderen Gebieten, auf dem der Elektrizität und desMagnetismus, zu solchen Fernkräften, die nach einem ganz ähn-lichen Gesetz wirken sollten, wie man es in der allgemeinen Gravi-tation(Massenanziehung) der Himmelskörper mit so großem Er-folge eingeführt hatte. Aber der geniale Engländer F a r a d a ystudierte die elektrischen Erscheinungen von dem Gesichtspunkt aus.daß eine unmittelbare Wirkung von einem Teilchen nur auf einbenachbartes Teilchen ausgeübt werde und kam dabei zu ganzneuen Anschauungen und überraschenden Entdeckungen.Seinen Spuren folgte sein Landsmann Maxwell, der aufdas Vorhandensein elektrischer Schwingungen hinwies, periodischerAenderungen des elektromagnetischen Zustandes, die sich von einemPunkte aus wellenförmig ausbreiten. Die Durcharbeitung dieserIdeen führte Maxwell zu der Ueberzeugung, daß diese elektro-magnetischen Wellen genau dieselben Gesetze befolgen, überhauptvon genau derselben Art sind wie die Lichtwellen, und daß auch dieletzteren in einer periodischen, wellenförmig sich ausbreitendenAenderung des elektromagnetischen Zustandes bestehen, derenTräger der den Raum überall erfüllende Aether sei. Maxwellwurde so der Begründer der elektromagnetischen Lichttheorie, welchedurch die bald erfolgende experimentelle Darstellung elektromagne-tischer Wellen eine glänzende Betätigung fand. Der einzige Unter-schied zwischen den elektromagnetischen Wellen, die auf unser Augekeine Wirkung ausüben und den Lichtwellen, welche in unseremAuge Lichtempsindungen hervorrufen, besteht darin, daß die Längeder elfteren viel erheblicher ist als die der letzteren.An der Durcharbeitung dieser neuen Theorie, die sich baldnach ihrem ersten Austreten allgemeinen Eingang verschaffte, hatBpltzmann jn hervorragender Weise mitgearbeitet.