Anlerhattungsblatt des vorwärts Nr. 20. Dienstag, den 29 Januar. 1907 (Nachdruck verboten.) 20J IMadame d'Ora. Roman von Johannes V. Jensen. Gier drängte sich Mc Carthy zwischen die beiden Damen. Ja," sagte er schnell und sah Madame d'Ora durch die Brille an.Ja. Ist es nicht erstaunlich! Das Geheimnis der Welt, über das Tausende nachgegrübelt haben, in allen Einzelheiten klargelegt. Die Religion zentralisiert. Der Nebel vertrieben. Wir sind so froh, Sie hier zu sehen, meine gnädige Frau. Wir sind dankbar, Ihnen den größten aller Beweise in die Hände zu legen... Herr Edmund Hall, darf ich.. Und weg war Mc Carthy. Seine Frau steht da und sucht in ihrer Tasche, aus der sie ein kleines Buch in Celluloid  - einband hervorholt. Daraus entnimmt sie verschiedene welke Blumen lind ein kleines Stück weißen Musselins. Sehen Sie," sagt sie mit ihrem törichten Lächeln, das Madame d'Ora   jedoch plötzlich rührt,das sind Blumen aus dem Jenseits, die Eld mitgebracht hat. Und hier ist ein Stück von ihrem Gewand, das ich eines Abends abschneiden durfte. Es ist Geisterstoff. Eine andere Dame des Kreises bekam ebenfalls ein Stück, aber das verschwand wieder, ging in die vierte Dimension iiber, obwohl sie es in einem verschlossenen Nähkasten hatte; aber meins hält sich. Fühlen Sie nur, wie weich es ist! Ja, nun sollen Sie Eld ja bald selber begrüßen..." Madame d'Ora   zuckte zusammen und schmiegte sich unwillkürlich mit einem hülfeflehenden Blick an die Aermste, die dort mit ihren leeren Zügen, von Süßigkeit triefend, stand. Jetzt ging die Tür ununterbrochen, und das Labora- torium füllte sich nach und nach mit den Mitgliedern des Kreises, einem Dutzend Herren und Damen. Madame d'Ora   sah von dem einen zu dem andern und hörte einige Augenblicke nicht, worüber Frau Mc Carthy redete. Diese Versammlung machte an sich einen mystischen Ein- druck auf sie. Sie hatte ein dunkles Gefühl, als müsse sie sie alle kennen einen grauen alten Herrn mit einer lächerlich biederen Miene meinte sie in ihrer Kindheit in der Bretagne  gesehen zu haben; mehrere andere Köpfe, die auftauchten. waren ihr so sonderbar bekannt aus Orten in aller Welt, auf die sie sich nicht mehr zu besinnen vermochte. Einer außer- ordentlich dicken Dame, die keuchte und von der Wärme ganz rotfleckig im Gesicht war, war sie mehrmals in verschiedenen Ländern begegnet. Hatte sie sie auf dem Zuschauerplatz, unten im Publikum gesehen, diese Personen, die alle einen mehr oder weniger mißgestalteten Eindruck machten, und deren Erscheinen unmittelbar beleidigend wirkte? Plötzlich fällt es Madame d'Ora   ein, daß es ja gewöhnliche Menschen sind, Durchschnittstypen, und da empfindet sie ein großes Mitleid, vermischt mit der Angst, zerrissen zu werden und unter die Füße zu geraten alles freilich nur als dunkle Stimmung des Unbehagens, das durch ihren Rücken jagt und Anstalten macht, in der Kehle aufzusteigen. Das ist die Art, die anonyme Briefe schreibt, denkt sie bei sich. Sie faßt dieses Dutzend Alltagsmenschen in einem Blick zusammen, als gelte es ihr Leben, und sie sieht mit Erbarmen, wie krank und verarbeitet sie sind, wie etwas in ihrer Kopfform selber von geistiger Not, von mangelhafter Ernährung seit Generationen erzählt, wie ihren exaltierten Augen der lebende Blick fehlt. Sie fühlt sich tief beunruhigt. Vielleicht begreift sie, daß sie hier mit einer Jury des Unvermögens in Verbindung gebracht ist, mit dem Chor des ewigen und bösartigen Pöbels der Menschheit, den Unfruchtbaren und Unzufriedenen, die nach einer Seele geschrien haben und gierig zum Himmel hinaufgebettelt haben, so lange die Erde grün gewesen ist von den fünftausend, die am See Genezareth   saßen und hungerten bis zu dem Proletarier, dersingend" durch die Straßen zieht, vielleicht kennt und fürchtet sie den Blick dieser hungrigen Augen, die den Augen der Aethcrtrinker gleichen, denn sie hat sie ja Abend für Abend in dem gaffenden Theater gesehen, wenn das Publikum zusammengestaut im Dunkeln saß und an dem Feuer von Juwelen und Singkrast hing, das von ihr ausging. Madame d'Ora   wird in diesem Augenblick von Edmund Hall beobachtet, und. er sieht sie bebend dastehen mit erhobenem Haupt wie ein Vollblutpferd, das im Bewußtsein seiner eigenen Krqfte und Nerven erschauert. Im selben Augenblick aber verändert sich ihr Ausdruck... Sie hat Herrn Evanstons harte Züge unten an der Tür entdeckt, sie wird sofort ruhig, sie rüstet sich hier ist einer, mit dem sie sich beißen will und instinktmäßig setzt sie eine sorglose Miene auf. Und obwohl sie jetzt Evanston  beobachtet, der die Anwesenden begrüßt und sich langsam nähert, ist sie vollkommen geistcsanwesend und hört wieder, was die kleine Frau Mc Carthy mit ihr schwatzt. ...Sie war so entzückend, mein kleines Mädchen, wir waren wie zwei Freundinnen. Ich weinte vier Jahre lang, nachdem sie von mir genommen wurde. Sie starb so ganz von selber, der Arzt konnte sie nicht retten. Denken Sie nur, sie kam an einem der ersten Abende, als wir Sitzung hatten, ich hatte ja im stillen nach ihr gerufen. Aber Samuel das ist mein Mann, Herr Mc Carthy will nicht, daß ich sie wieder rufe, ich weinte zu heftig und störte dadurch. Herr Mc Carthy ist bange, daß ich wieder schwermütig werden könnte und ungehorsam gegen Gott  . Sie wissen, ich war ja einige Jahre sonderbar und wohnte allein in einer Anstalt, ich wollte aus den Fenstern hinausspringen. Ich sah ja immer zwei schwarze Flecke... ich sah überall zwei schwarze Flecke. Ich bin wohl nie froh gewesen. Aber nun habe ich mein kleines Mädchen gesehen. Ach, sie war es, ich hielt sie ein wenig, ein paar Minuten. Später ist sie einen Abend gekommen, ohne daß ich sie rief, aber sie stand nur gerade da und sah mich an, die kleine Ethel, zwischen den Gardinen zu dem Boudoir, nur das liebe Gesicht war materialisiert, und ich wagte ja nicht zu rufen... Ethel, sie ist jetzt einund- zwanzig Jahre tot, in einem Monat ist sie einundzwanzig Jahre tot und von mir getrennt. Wir wohnten in Dakota damals, als ich sie verlor; es war so kalt. Wir pflegten den ganzen Tag miteinander zu sprechen Herr Mc Carthy hatte immer so viel zu tun O, sie war so klug! Wir saßen und strickten zusammen, Ethel auf ihrem kleinen Stuhl, dem sie eigentlich schon entwachsen war, sie wurde sieben Jahre..." Frau Mc Carthy senkte lautlos den Kopf und stand da, das ganz erloschene Gesicht der Erde zugewandt. Als sie ihre tränenlosen Augen wieder auf Madame d'Ora   richtete, zitterte es wie aus alter Gewohnheit in deren Kehle, aber sie lächelte noch inimer mit einer gewissen Frische und sah aus wie ei,» junges Mädchen, indem sie das hübsche Gebiß enthüllte. Ich hoffe immer noch, daß sie von selber eines Abends wiederkommen wird," flüsterte sie ungeheuer vertraulich. Glauben Sie das nicht auch?" Ja," sang Madame d'Ora   herzlich und rollte hülfloS mit ihren großen Augen. Und da sie keinen besseren Rat wußte, ergriff sie Frau Mc Carthys Hand und hielt sie fest. Frau Mc Carthy lächelte in krampfhafter Verschämtheit und ergoß verliebte Strahlen durch die Augen. Aber sie fühlten beide, daß sie sich einander anschließen würden, so wie Frauen es nun einmal fühlen können. Evanston   trat vor Madame d'Ora   hin, und ohne sich zu verbeugen, sah er sie an, lächelte auf eine Weise, die sie verstehen lassen sollte, daß er an die peinlichen Umstände dachte, unter denen sie sich zuletzt getrennt hatten. Er stand einen Augenblick in diesem Genuß da, und Madame d'Ora  sah ihn ruhig an, aber sie begrüßte ihn keineswegs. Willkommen nach Ihrer Reise, Madame," sagte er in einem leisen Ton, zu dem er nicht den geringsten Anlaß hatte, und sah ihr starr in die Augen, seinen Ausdruck ver- letzenden Humors bewahrend.Ihre Tournee ist wohl- gelungen, Sie sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit Erfolg von New Vork abwesend gewesen." «Insofern als Sie sich inzwischen dort aufgehalten haben," entgegnete sie flüchtig und ließ ihre Augen unter den schweren Lidern auf ihm ruhen. Sie maßen sich eine ganze Weile mit den Blicken. Es ärgerte sie gewaltig, daß er dort stand und diese unverschämt siegreiche Miene auffetzte. Frau Mc Carthy, die in der Einfalt ihres Herzens nichts von den kriegerischen Vorbereitungen ahnte, die sich neben ihr entwickelten, hörte, daß Evanston   schwieg und war entzückt, mit ihm schwatzen zu können,