Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 147.

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Die Mutter.

Donnerstag, den 1. August.

( Nachdrud verboten.)

CONVOC­

Roman von Marim Gorti. Deutsch von Adolf Heß. Der Kleinrusse schritt hin und her und sprach zu ihr: Mütterlein, so zärtlich müßtet Ihr einmal mit Wiessowschtschikow sein! Sein Vater sitt im Gefängnis ist ein efelhafter Alter. Nikolai sieht ihn aus dem Fenster und schimpft auf ihn. Das ist nicht hübsch! Er ist so gut, der Nikolai, liebt Hunde, Mäuse und jegliches Getier, aber Menschen kann er nicht ausstehen! So weit kann man jemanden verderben!"

,, Seine Mutter ist spurlos verschwunden, sein Vater ein Dieb und Trunkenbold..." meinte die Mutter nachdenklich. Als Andrej ging, um sich schlafen zu legen, schlug die Mutter unmerklich das Kreuz über ihn, und als er sich hin­gelegt hatte und eine halbe Stunde verflossen war, fragte fie leise:

Schlaft Ihr, Andrej?" ,, Nein. Warum?"

D, nichts. Gute Nacht!"

,, Danke schön, Mütterlein. Danke!" erwiderte er leise und freundlich.

XVII.

Als die Alte am nächsten Tage mit ihrer Last am Fabriktor anlangte, geboten die Wächter ihr grob Halt, ließen fie die Töpfe auf die Erde stellen und untersuchten sie ganz

genau.

,, Da wird mir ja das Essen kalt!" sagte sie ruhig, während man ihr Kleid roh betastete.

Schweig still!" sagte der Wächter mürrisch. Der andere aber stieß sie leicht gegen die Schulter und meinte überzeugt:

ch sage- fie werfen die Blätter über den Zaun!" Als erster kam der alte Sfisow zu ihr, blickte sich nach allen Seiten um und fragte halblaut:

,, Hast's gehört, Mutter?" Was?"

" Von den Papieren! Die sind wieder da... Wie Salz aufs Brot überall hingestreut. Verhaftungen und Haus­suchungen nüßen also gar nichts! Masin, meinen Neffen, hat man ins Gefängnis gebracht... hat das vielleicht geholfen! Deinen Sohn haben sie ja auch hingebracht... Na und jetzt sieht man deutlich, daß der es auch nicht gewesen ist!" Seinen Bart streichelnd schloß Sfisow:

Es handelt sich nicht um die Menschen, sondern um die Gedanken, und Gedanken sind keine Flöhe, die man weg­fangen kann."

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Er nahm seinen Bart in der Hand zusammen, warf ihr einen Blick zu und sagte im Fortgehen:

Warum kommst Du nicht zu mir? Muß doch langweilig sein, so allein

"

Sie dankte, rief ihre Speisen aus und beobachtete scharf das ungewöhnliche Leben in der Fabrik. Alle Arbeiter freuten sich über etwas, traten in Gruppen zusammen und liefen von einer Werkstatt zur anderen. Ueberall hörte man erregte Stimmen, sah zufriedene, fröhliche Gesichter, etwas Kühnes, Mutiges wehte durch die rußige Luft. Bald hier, bald dort ertönten Beifallsrufe, spöttische Stimmen, bisweilen Drohungen. Die Jugend war besonders lebhaft, die bejahrten Arbeiter lächelten vorsichtiger. Die Vorgesetzten schritten ge­schäftig umher, Polizisten liefen auf und ab, und wenn die Arbeiter sie bemerkten, gingen sie langsamer auseinander, oder blieben stehen, brachen die Unterhaltung ab und blickten schweigend in die wütenden, erregten Gesichter.

Die Arbeiter schienen alle sauber gewaschen. Jetzt tauchte Sie hohe Gestalt des älteren Gussew   auf, sein Bruder watschelte wie eine Ente neben ihm her und lachte laut.

An der Mutter gingen langsam Meister Wawilow   aus Ser Tischlerwerkstatt und der Listenführer Issai vorüber. Der Kleine, hinfällige Mensch, der den Kopf in den Nacken ge­worfen und den Hals auf die linke Seite geneigt hatte, blickte in das unbewegliche, feiste Gesicht des Meisters und meinte, schnell sein Bärtchen schüttelnd:

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Sie lachen, Iwan Iwanowitsch.

1907

Spaß, obwohl es sich um des Reiches Wohlergehen handelt, I wie der Herr Direktor gesagt haben. Da heißt es nicht ge­fackelt, wan Iwanowitsch.. Wir müssen feste zu­greifen.

Wawilow   hatte die Hände auf den Rücken gelegt, und seine Finger waren fest zusammengepreßt.

,, Drud', was Du willst an unwahrheit," sagte er laut, ,, was mich aber anlangt, so untersteh Dich nicht Wassili Gussew trat zur Mutter und sagte: Ich werde wieder bei Dir essen; es schmeckt so gut!" Dann dämpfte er die Stimme, plinkerte mit den Augen und setzte leise hinzu:

Siehst Du? Es hat gewirkt! Ach, Mutter, meine Ver­ehrteste. ganz großartig!"

Die Mutter nickte ihm freundlich zu. Ihr gefiel, daß dieser Bursche, der als erster Raufbold in der Vorstadt bekannt war, sie so anredete, und ihr gefiel auch die allgemeine Er­regung, die in der Fabrik herrschte; sie dachte bei sich:

,, Wenn ich nicht wäre

Ganz in der Nähe blieben drei Handlanger stehen; einer fagte halblaut wie bedauernd:

" Ich hab' es nirgends gefunden

"

Aber man müßte wenigstens zuhören... ich kann nicht lesen, aber ich sehe doch, daß da etwas eingeschlagen hat!..." bemerkte ein anderer.

Der dritte blickte um sich und meinte: ,, Kommt in die Kesselschmiede...

vorlesen!"

ich werde es Euch

,, Es wirkt!" flüsterte Gussew   augenblinzelnd. Frau Wlassow   fam fröhlich nach Hause. Jetzt hatte sie selbst gesehen, wie die Schriften die Leute erregten.

"

Da bedauern die Menschen, daß sie nicht lesen können!" sagte sie zu Andrej. Ich hab' in meiner Jugend lesen können, hab' es aber verlernt

Solltet es wieder lernen!" schlug der Kleinrusse ihr vor. " In meinen Jahren? Ich werd' mich doch nicht lächer­lich machen."

Aber Andrej nahm ein Buch vom Wandbrett, deutete mit der Messerspitze auf einen Buchstaben auf dem Einband und fragte:

,, Was ist das?"

Ein R!" erwiderte sie lachend.

Und das?"

Ein A..."

Ihr war ungemütlich und traurig zumute, sie schämte sich. Ihr schien, daß Andrej heimlich über sie lachte, und sie vermied feinen Blick. Aber seine Stimme flang milde und ruhig, sie blickte verstohlen in sein Gesicht das war ganz ernst.

Andrej, wollt Ihr mich wirklich unterrichten?" fragte sie unwillkürlich lächelnd.

,, Warum nicht!" erwiderte er. Versucht es doch! Wenn Ihr früher gelesen habt, wird es leicht wieder gehen. Und ivenn nicht, so macht das auch nichts; wenn aber, ist es um so besser!"

,, Sonst sagt man: Davon, daß Du ein Heiligenbild an­blickst, wirst Du nicht fromm!" meinte die Mutter.

" Ach!" erwiderte der Kleinrusse kopfschüttelnd. Sprüch wörter gibt es eine ganze Menge. Viel Wissen macht Kopf­schmerzen" ist auch so eins. Sprüchwörter sind ein Futter für den leeren Magen. Andererseits: Ein voller Bauch studiert nicht gern".. Aber was ist das für ein Buch­stabe?"

Ein L!" sagte die Mutter.

Stimmt!... Nun und der?"

Sie strengte ihre Augen an, bewegte die Brauen und erinnerte sich krampfhaft an die vergessenen Buchstaben und fah und hörte nichts mehr. Aber ihre Augen ermüdeten bald. Anfangs weinten sie vor Mattigkeit, dann tropften häufig Kummertränen auf die Blätter.

"

,, Da lerne ich nun lesen!" sagte sie schluchzend. Ist Zeit zum Sterben, und ich fange noch an lesen zu lernen Müßt nicht weinen!" sagte der Kleinrusse freundlich und leise. hr habt nicht anders leben können... wißt aber sehr wohl, daß Ihr ein klägliches Leben geführt habt! Tausende Ihnen macht das könnten besser leben als hr... dabei leben sie wie das