Hlnterhaltungsblatt des HorwärtsNr. 160.Dienstag, den 6. August.1907(Nachdmck verboten.)LS)Vie Mutter.Roman von Maxim Gorki. Deutsch von Adolf Heß.Neben Frau Wlassow saß eine kleine Alte mit runzeligemGesicht, aber jungen Augen. Sie drehte den dünnen Halsherum, horchte auf die Unterhaltung und starrte alle An-wesenden sonderbar eifrig an.„Wen haben Sie denn hier?" fragte Frau Wlassow leise.„Meinen Sohn, einen Studenten," erwiderte die Altelaut und schnell.„Und wen Sie?"„Auch einen Sohn. Einen Arbeiter."„Wie heißen Sie?"„Wlassow."„Den Namen habe ich nicht gehört. Sitzt er schon lange?"„Die siebente Woche..."„Und meiner den neunten Monat!" sagte die Alte, undaus ihrer Stimme hörte Frau Wlassow ein sonderbares,stolzähnliches Gefühl.„Ja, ja," ließ sich der kahlköpfige Alte vernehmen.„DieGeduld reißt... Alle sind ärgerlich, alle schreien, und allessteigt im Preise. Die Menschen werden entsprechendbilliger.,. Versöhnende Stiminen hört man gar nichtmehr."„Sehr richtig!" sagte der Militär.„Eine Zuchtlosigkeitohnegleichen! Da muß einmal eine energische Stimme da-Zwischen fahren!"Die Unterhaltung wurde allgemein und lebhaft. Jederbeeilte sich, seine Ansicht vom Leben zu äußern, aber allesprachen halblaut, und aus allem fühlte die Mutter etwasFremdes. Bei ihr zu Hause sprach man verständlicher, ein-facher und lauter.Ein dicker Aufseher mit viereckigem, rötlichem Bart riefihren Namen, betrachtete sie von Kopf bis zu Fuß undhumpelte mit den Worten:„Komm mit!" ihr vorauf.Sie ging hinterher und hätte den Aufseher am liebstenin den Rücken gestoßen, damit er schneller ging. In demkleinen Besuchszimmer stand Pawel und streckte ihr seineHand entgegen... Die Mutter ergriff sie, blinzelte, fandkeine Worte und wiederholte nur:„Guten Tag... Guten Tag..."„Na, beruhige Dich, Mutter!" sagte Pawel, ihr die Handdrückend.„O, es macht nichts... nichts..„So, seine Mutter!" sagte der Aufseher mit einemSeufzer.„Uebrigens... treten Sie etwas auseinander...so daß ein Abstand bleibt»»."Und er gähnte laut.Pawel fragte sie nach ihrem Befinden, und wie es zuHause stände. Sie hatte andere Fragen erwartet, suchte diesein seinen Augen und fand sie nicht. Er war wie immerruhig, nur sein Gesicht war blaß, und die Augen warenscheinbar noch größer geworden.„Sascha läßt grüßen!" sagte sie.Pawels Lider zitterten und senkten sich. Sein Gesichtwurde milder und lächelte verklärt.„Sie werden Dich doch bald frei lassen?" sagte sie Plötz-lich beleidigt und erregt.„Warum haben sie Dich eingesperrt?Die Flugblätter sind ja wieder erschienen..Pawels Augen leuchteten.„Wirklich?" fragte er schnell.„Ueber solche Dinge dürfen Sie nicht reden!" erklärteder Aufseher träge.„Nur über Familienangelegenheiten..."«Ist das denn keine Familienangelegenheit?" erwidertedie Mutter.„Das weiß ich nicht. Ich sage nur: Es ist verboten. VonWäsche und Essen und Trinken dürfen Sie reden. Aber überweiter nichts!" blieb der Aufseher bei seiner Weisung; ersprach aber aleichaültia.„Nun schön," sagte Pawel,„sprich von zu Hause,Mutter. Was machst Du denn?"Sie verspürte eine Art jugendlichen Trotzes in sich und er-ividerte:„Ich bringe jetzt alles in die Fabrik,, Dann stocktesie und fuhr lächelnd fort:„Kohlsuppe, Buchweizengrütze, alles Essen von Marja. r,und andere Kost..."Pawel verstand. Sein Gesicht zitterte vor verhaltenem!Lachen, er strich das Haar zurück und meinte in freundlichemTon, wie sie ihn noch nie von ihm gehört:„Du liebe Mutter... das ist schön! Da hast Du eineschöne Arbeit... Hast keine Langeweile nicht wahr, hastkeine Sehnsucht?"„Seitdem die Schriften wieder erschienen sind, durch-sucht man mich auch," erklärte sie nicht ohne Stolz.„Reden Sie schon wieder davon." sagte der Ausscheretwas gekränkt.„Ich sage, das soll nicht sein. Die Leutewerden eingesperrt, damit sie nichts erfahren. Man muß doch!einsehen, was man nicht darf. Du aber sprichst immer solcheSachen."„Also laß das, Mutter!" sagte Pawel.„Matwej Jwano-witsch ist ein braver Mensch, den soll man nicht erzürnen. Wirstehen gut miteinander... Er ist heute zufällig hier, ge-wohnlich paßt der Gehülfe des Direktors auf. MatwejJwanowitsch hat Angst, daß Du etwas zu viel sagst!"«Der Besuch ist zu Ende!" erklärte der Aufseher miteinem Blick auf die Uhr.„Nun, ich danke Dir, Mutter!" sagte Pawel.„Dank'Dir, Teuerste. Mach Dir keine Sorge. Ich komme baldfrei..."Er umarmte sie kräftig, küßte sie. Sie wurde dadurchverwirrt und glücklich und brach in Tränen aus.„Nun, trennt Euch!" sagte der Aufseher und brummt?/während er die Mutter hinausbegleitete:„Weine nicht. Alte... er kommt frei! Alle kommenfrei... Ist kein Platz mehr..."Zu Hause sagte sie zum Kleinrussen:„Ich hab's ihm fein zugesteckt.». Er hat es gut ver-standen!" Und seufzte traurig.„Ja, er hat es verstanden! Sonst wäre er iMt so liebgewesen. Das war er niemals!"„Da haben wir's!" lachte der Kleinrusse.„Der einewünscht dieses, der andere jenes, eine Mutter aber willimmer Liebe..Später erzählte sie von den anderen Besuchern:„Was das doch für Menschen sind, Andrej! Wie siesich an alles gewöhnt haben! Da hat man ihnen ihre Kindergenommen, sie ins Gefängnis geworfen, sie aber— berührtdas gar nicht, sie kommen hin, sitzen da, warten und unter-halten sich... Wenn gebildete Leute es so leicht nehmen...wie sollen es dann die gewöhnlichen machen?..."„Das ist ganz klar!" sagte der Kleinrusse mit einemspöttischen Lächeln.„Gegen die feinen Leute sind die Gesetzeimmerhin freundlicher als gegen uns... sie brauchen sie jaweit mehr als wir. Und wenn schon ein Gesetz sie einmal vorden Kopf stößt und sie ein böses Gesicht machen, ist es dennochnicht so schlimm. Ist ja ihr eigenes Machwerk— damit läßtsich schon auskommen... Sie werden durch die Gesetzewenigstens etwas geschützt, wir dagegen— werden nur ge-Kunden, damit wir nicht ausschlagen..."XX.Eines Abends saß die Mutter am Tisch und strickteStrümpfe, der Kleinrusse aber las aus einem Buche über denrömischen Sklavenaufstand vor. Plötzlich klopste jemandkräftig, und als der Kleinrusse öffnete, trat Wjessowtschikowmit einem Bündel unter dem Arm ein; seine Mütze war inden Nacken geschoben und die Beine bis an die Knie mit Dreckbespritzt.„Ich sehe gerade bei Euch Licht. Da wollte ich einmalguten Abend sagen. Komme direkt aus dem Gefängnis!"sagte er in sonderbarem Ton, ergriff Frau Wlassows Hand,schüttelte sie kräftig und fügte hinzu:„Pawel läßt grüßen...". ,.„Dann setzte er sich unschlüssig und ließ ferne Blicke smstepund argwöhnisch durch das Zimmer schweifen.Er gefiel der Mutter nicht; in seinem eckigen, kuvz-geschorenen Kopf und in seinen kleinen Augen lag etwas,was sie stets erschreckte. Aber jetzt freute sie sich über ihn undsagte lebhast;