Nr. 275.- 1915.
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Zouutag, 28. Novemder.
Ein Kampf in öen Lüften. Der norwegische Schriftsteller J ohan B o j er, der an der ftcmzösischen Front in der Champagne war, gibt m seinen Briefen eine lebhafte Schilderung von einem Fliegerkampf> den zu beobachten er in Gesellschaft eines französischen Majors Gelegenheit hatte. .Schauen Sie dort," sagte der Major. Hoch am Himmel stich eine Anzahl llehier weißer Wolken» knäuel zu sehen. Andauernd werden es mehr. ES ist, als ob sie aus der Luft quellen, als ob sie aus dem blauen Himmel cxplo- dieren. Mon� steht in der Tat weit weg in der Uncndlichleit einen kleinen Strich Er schwebt auf und ab und hin und her, spielt mit der Gefahr, scheg nur, triff mich aber gut, hier bin ich... DcrJ>eutsche Arm ist mächtig, aber so weit veicht er nicht mit seinem Stacheldraht� und mit allen seinen Systemen. Hier rst die Unendlichkeit... Schießt nur... Nun kommt er näher, so daß seine Flügel goldig in der Sonne schimmern. Die explodierenden Granatkartätschen folgen ihm. In der Ferne hinter dem Wald, wo die Deutschen stehen, donnert eS in einer furchtbaren Raserei. „Schauen Sie dort hinten," sagt der Major wieder. Und hoch über dein Wald nähert sich ein dunkler Strich, ruhig wie ein segelnder Adler. .Das ist ein Deutscher." sagt der Major. Rings um uns haben es die Soldaten mit ihrer Arbeit sehr eilig; sie graben, exerizeren und versorgen die Pferde. Aber nun wird es still. Alle wenden den Kopf nach dem Himmel und starren empor. Aus den französtschen Batterien bricht ein Geknall und Ge- dann er los, und nun beginnen auch den deutschen Flieger die kleinen weißen Wolkenknäuel zu umgeben. Die beiden Menschenbögel haben sich gesichtet. Der leichte Falke über uns taumelt hin und her und tut anfänglich, als ob der andere ihn gar nichts angehe. Der Schwarze segelt indes ruhig näher heran. Nun dreht der Falte seinen Schnabel gegen ihn, und die beiden Raubvögel stürzen aufeinander los. Was wird nun geschehen? Hier unter dem sonnig warmen Himmel ist man wie ein anderes Wesen. Man will ein wenig kokettieren, sei es auch mit dem Feinde. Man beginnt damit, ein. ander zu zeigen, wer man ist. Was kann er und ivas kann ich? Schau... Und der Falke purzelt, als ob das Ganze nur ein Spiel für ihn sei und als ob er tnunken wäre vom Sonnenlicht und sommerlichen Himmel. Der Adler ahmt das Spiel in seiner Art nach. Ter eine verfolgt den andern, wie junge Habichte, die voller IXebermut sind, weil sie den unendlichen Raum beherrschen. Jetzt, aus gleicher Höhe, bleiben sie stehen, als ob sie ihre Kräfte messen wollten, und plötzlich swßen sie aufeinander los. „Krrrral!" rattert es in der Höhe; eS sind die Maschinengewehre.„Jetzt wird wohl bald einer fallen." Wer nein, die Beiden steigen höher und höher, einer übersteigt den andern Wieder knattern die Gewehre, nun flüchtet der ein«, der andere verfolgt. Noch höher. Da oben ist keine andere Deckung als der Abstand, keine andere Rettung als die Schnelligkeit. Nun verschwinden sie im Blauen, der klare Himmel verschling sie. Zwei Armeen stehen hier unten aus der Erde und schauen zu. Da irrt ein dunkler Punkt aus dem Himmelsraum nach unten, er steht einen Augenblick still wie ein surrendes Insekt, bekommt wieder ein wenig Herrschast über sich selbst, schwankt wie trunken, als ob er in Furcht sei, soweit von der Erde entfernt zu sein. Wie em Blinder tastet er um sich nach einer Stütze. ES ist, als ob er um Hilfe rufe. Ach. ich habe so oft einen verwundeten Vogel in der Luft ge» sehen, aber dies ist ein angeschossener Menschenvogel. Nun fällt er. taumelt hilftos dahinten, hinter dem blauen WaldeSrand nieder. „Das ist der Unsere," sagt der Major. Und der goldene Bogel kommt schnurrend heran und surrt in wilder Flucht über die fron. zösische Linie herab...._ kleines Zeuilieton. Der über»Deutjchtümelel�. Die in Genua erscheinende Zeitung„Eecolo SEE* hatte einen Bericht ouS Spezio, nach welchem das dort für die Aufstellung einer Richard-Wagner -Gedenktafel gesammelte Geld dem Roten Kreuz überwiesen worden sei, mit der Anmerkung versehen:„In Italien
soll jetzt und für ein Weilchen noch von Deutschtümeleien nicht mehr die Rede sein." Diese Bemerkung macht Giovanni Zibordi im.Avant»* zum Ausgangspunkt eines von Hohn und Spott erfüllten Angriffes aus die törichten Eiferer, die ihren Haß auch gegen die höchsten Kultur» güter ihrer Gegner richten:„Die Kunst Richard Wagners eine ver- ächtliche Deutl'chmichelei!" schreibt er.„Merken denn diese Leute nicht, daß sie die italienische Kultur entehren? Da wird man bald einmal die Dichtungen Goethes oder Heines oder die Philosophie Kants Deutschmicheleien nennen. Schon hat man den Kreuzzeug gegen die von den deutschen Philologen mit pein- licher Genauigkeit besorgten Ausgaben der griechischen und latei- nijchen Klassiker eröffnet; als ob die Genauigkeit eines Textes auch zu den politischen Meinungen gehörte. Und man gibt sichren Anschein, als ziehe man ungenaue, aber eigene Texte den verabscheuten Leipziger Bänden vor; ohne sich darüber klar zu werden, daß der einzige wahre, vernünftige und nicht kindische Weg zur Be- ireiung von dem fremden Zeug der ist, selbst ebenso Gutes und Besseres zu schaffen; und ohne zu begreifen, welche Armut und Beschränktheit von Geist und Gemüt sich in diesem Vermischen von Kunst und Wissenschaft mit den schwankenden politischen Leidenschaften offenbart... Ich weiß, daß man mich wegen dieses Proteste« im Namen der Würde unserer Kultur als einen Deutschen - freund hinstellen wird, aber ich kümmere mich wenig darum, im Gegen- teil, ich fühle mich geebrt dadurch. Die Leute, welche immer wieder die angebliche Deutschfreundlichkeit der italienischen Sozialisten her- vorheben, können nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die gleich- zeitig Italien und die Menschheit vor Augen haben; sie halten eS tür selostverständlich, daß jeder Italiener an irgendeine andere Nation oder an eine bestimmte Gruppe einer anderen Nation ge- fesselt ist. In ihren Augen muß man also, wenn man zufällig nicht fanatischer Franzosenireund ist, unbedingt Österreich » oder deutschfreundlich sein— kurz: Diener von irgendwem, denn für solche Leute ist die Livree ein leibliches Bedürfnis. Die inter - vemionistische Mode, die jetzt bei uns herrscht, verlangt, daß man in den Teller spucke, auS welchem man lange Zeit aus Servilismus oder Pose gegessen hat. Die deutsche Kunst, die deutsche Kultur, die deutsche Disziplin, alles, was früher so vielen für da§ Heitel- hafte Italien ein blindlings nachzuahmendes Vorbild dünkte, wird nunmehr in einem Bündel auf den Misthaufen geworfen. So will e» die Unsitte, und die Handorgler der Politik und des Journalis- mus, welche die Musik spielen, die der Galerie gefällt, schimpfen auf Deutschland los; sie verurteilen es wegen seines„Imperialismus", während sie gerade dabei sind, in unserem Lande den lächerlichen Nationalismus von Zwergen, die sich als Riesen aufspielen möchten, aufzurichten.... Wenn im August 1Sl4— wie nicht wenige der heutigen Deutschenfresser offen wollten oder im geheimen hofften— Italien im Gefolge der Zentralmächte marschiert wäre, hätten die genannten Handorgler gleichmütig ihr Gedudel gegen die gewalt- tätige Kultur und die aufgeblasene künstlerische Hegemonie Frank- reichs gerichtet. Ltultur und Kunst müssen, um aufrichtig und originell zu sein, in ihren Ursprüngen national sein, international aber, um zu wachsen und in ihrer Entwickelung Gemeingut zu werden I*_ Eros im Schützengraben. Zu den verschiedenen, bisher gemeldeten archäologischen Funden. zu denen die Aushebung von Schützengräben Anlaß gegeben hat, hat sich kürzlich eine neue Entdeckung gesellt, die anscheinend den bedeutendsten unter allen bisherigen Schützengrabenfunden dar- stellt. Vor einiger Zeit war auf der Insel L e m n o S. die bekanntlich der Dardanellenunternehmung der Verbündeten als Stützpunkt dient, eine Gruppe sranzösischer Soldaten bei einer Uebung>m Ausheben von Schützengräben begriffen, als sie in einem Meter Tiefe aus einen leuchtend weißen Block stießen. Er wurde vorsichtig aufgedeckt und stellte sich als der Torso einer schönen Eros- Statue in etwa zwei Drittel Lebensgröße heraus. Es ist be- merkenswert, daß der kleine Ort Palaeopolis, in dessen Nähe der Fund erfolgte, wahricheinlicherweise an Stelle des alten Hephaestia liegt. Dem ausgegrabenen Erostorso mangelt der Kopf, auch waren an Händen und Beinen die äußeren Teile ab- geschlagen� die ergänzenden Reste des Bildwerkes zu finden, gelang trotz sogleich angestellter weiterer Ausgrabungen nicht. Das Bild- werk wregt mehrere hundert Pfund und wird wahrscheinlich einem griechischen Museum überwiesen werden. Eine Inschrift soll an die besondere Art und Gelegenheit dieses Fundes erinnern. Beiläufig wird gemeldet, daß dieselben Ausgrabungen auf LemnoS den Beweis erbracht hätten, daß die alte Stadt Hephaestia nicht, wie bisher in
der Regel angenommen wurde, durch die Türken, sondern durch ein Erdbeben zerstört worden ist.__ Seltsamer Schlachtentoö. Wiederholt war zu lesen, daß Soldaten durch das Platzen schwerer Geschosse ums Leben kamen, ohne selbst eine Verletzung durch Granatsplitter erlitten zu haben. Der Luftdruck, wie man sagte, habe sie getötet, und man dachte dabei hauptsächlich an Zer- reißung innerer Organe, die solch rasches Ende herbeiführte, daß die Toten noch in den Stellungen verharrten, in denen sie von der Granate überrascht wurden. Neuere Beobachtungen aber zeigten, daß der Lusldruck, der im Mittel dem Gewichte einer Quecksilbersäule von 760 Millimeter Höhe, mit anderen Worten dem Druck von 1 Kilogramm auf den Quadrat« zentimeter Fläche entspricht, durch solche Explosionen ganz gewaltig. beispielsweise um 400 Millimeter, sinkt. Dadurch beginnt das Blut zu schäumen, ähnlich wie wenn Arbeiter, die unter hohem Atmo- iphärendruck in Tauckkammern arbeiten, unvermittelt wieder mit der natürlichen Luft in Berührung kommen. Die Blulgase werden also frei und bilden kleine Bläschen, die sich unter dem Druck der elastischen Adern dem vom Herzen ausgehenden entgcgenstcmmen und so den Blutkreislauf zum Stillstand bringen. Der gebildetste Neger von Nordamerika . Der schwarze Gelehrte Dr. Booker Washington, desien Tod auZ Tuskegee in den Vereinigten Staaten gemeldet wird, wurde mit Recht der erste Mann seiner Rasse genannt. Booker Washington, ein Vollblutneger, entwickelte von Jugend an so auffallende Fähigkeit, daß er bald zum geistigen Führer seiner Rasicgenossen wurde. In der Sklaverei in Hales Ford(im Staate Virginia ) um 18öS geboren, entstammte Talieferro Booker Washington durch seine Vorfahren den Negerdistrikten Zentralafrikas . Nach dem Bürgerkrieg 1862—64 wurde Washington frei und wanderte mit seiner Mutter nach Molden in Ostvirginien auS, woselbst er mit großem Eifer die Schulen besuchte. Er war eine Zeitlang in den Minen von Char- leston beschäftigt, entschloß sich dann aber, sein Leben der geistigen Heranbildung seiner schwarzen Brüder zu widmen. Er wurde Hörer an der landwirtschaftlichen Schule in Hampton. Nach bestandenem Examen war er als Lehrer tätig. Er gründete in Tuskegee eine landwirtschaftliche Schule, die sich zu der bedeutendsten Lehranstalt für Neger in Amerika entwickelte und, nachdem sie mit 30 Schülern begonnen worden war, schließlich 1527 Schüler und 133 Lehrkräfte — sämtlich Schwarze— zählte. Das Fortbestehen dieser Anstalt wurde durch eine 3 Millionen-Spende des Milliardärs Carnegie gesichert. Dr. Booker Washington hinterließ mehrere für den Ge- brauch der Neger geschriebene pädagogische Werke.
Notize«. — Vorträge. Prof. v. Bissing spricht am Montag, den Lg. Noveniber, abends 8 Uhr, im Festsaal des Abgeordnetenhauses über das Thenra„Belgien und Deutschland".— Ter Geheime Post- vat im Reichspostamt Grosse wird in der Urania am Montag, de» 29. November, abends 8 Uhr, einen Vortrag unter Vorführung zahlreicher Lichtbilder über„Die deutsche Feldpost i ni Weltkriege" halten, um dem deutschen Publikum in Wort und Bild die Organisation des brieflichen Verkehrs zwischen Feld und Heimat zu veranschaulichen.— Im Institut für Meereskunde spricht Dienstag, den 30. Zkovember, Prof. Schicrnann über:„Das Verhältnis der russischen Herrscher zu Deutsch - land im 19. und 2 0. Jahrhundert", Freitag, den 3. Dezember, Prof. Spieß über:»Die Engländer als I n s e l v o l k". — Ein Speisesaal voller Spatzen. Man schreibt uns auS der Schweiz : In Zürich machte ich im Bahnhofrestaurant dritter Klaffe Rast, setzte mich an einen Seitentisch und bestellte eine Tasse Kaffee. Bald bemerkte ich, daß unterm Tisch etwa»„krabbelte". was iw für eine Maus hielt. Ich sah zur Erde und bemerkte, daß ganze Scharen von Spatzen unter den Tischen herumhopsten. Wenn man einem der Braunröckchen einen Brotkrumen hinwarf, kamen gleich sechs und balgten sich darum.— Die diensttuende Saal- tochter, wie man hierzulande die Kellnerinnen nennt, erzählte mir, die Tierchen seien Sommer und Winter da und so zahm, daß sie einige„Stammgäste" hätten, denen sie auf den Tisch fliegen. Durch eine geöffnete Glasscheibe in der Decke fliegen sie manchmal ins Freie der Bahnhofshalle, flattern aber immer wieder auf den Fuß- boden, unter Tische und Stühle, um ein Krümchen zu ergattern.
Die Schicksalsmaus. Eine Erzählung von Tieren und Menschen. 16J Von Harald Tandrup. „Sind sie nicht süß?" fragte sie immer wieder. „Entzückend," bestätigte Meister Grau. Aber er dachte mit Schrecken daran, wieviel Arbeit diese Zwölfe verursachen würden. Sie mußten Nahrung haben und bedurften doch auch einer gewissen Erziehung, ehe man sie in die Welt hin- ausschicken konnte. „Bringst Du etwas Eßbares mit?" forschte die Madame. „Kein Krümchen," antwortete er,„ich bin selbst halb ver- hungert. Ich habe die Küche kreuz und quer durchsucht, ohne etwas zu finden." „Dann mußt Du noch einmal fort," sagte sie streng.„Du weißt, ich muß in dieser Zeit etwas zu effen haben. Wie soll ich sonst Milch für diese zwölf armen Würmer herschaffen?" „Das begreife ich vollkommen," erwiderte er.„Wenn ich nur wüßte—" Er kratzte sich bedenklich im Nacken, denn er hatte tat- sächlich keine Ahnung, wohin er sich wenden solle. „Natürlich mußt Du Rat wissen," sagte sie—„bist Du denn nicht der Mann? Der Hausvater hat die Pflicht, für Nahrung zu sorgen, das weiß ich; Du versprachst mir seiner- zeit ein Leben in Herrlichkeit und Freuden.— Wenn man von so achtbaren Vorfahren stammt wie ich, von einer Familie, die seit vielen Generationen ihren Wohnsitz in dem Keller eines Viktualieuhändlers aufgeschlagen hat, ist man auch be- rechtigt, etwas vom Leben zu erwarten. Ich hätte eine vor- nehme, angesehene Maus haben können, die in einem Vorder- Haus dicht unter der Speisekammer wohnte, aber ich folgte meinem Herzen, Meister Grau. Und was hoch ich mm davon?" „Du sprichst, wie Du es verstehst," antwortete er.„Bei den vornehmen Leuten gibt es wohl etwas zu essen, doch weiß man nie. ob nicht Gift in die Speisen gekommen ist. Sie führen einen beständigen Krieg mit uns armen Mäusen, be- kämpfen uns mit Fallen, hetzen die Katze auf uns. Hier in unserer Armut haben wir Frieden, tummeln uns, wie wir wollen—" „Wie kannst Du von Frieden hier im Haufe reden," pfiff sie,„namentlich jetzt, wo wir alle in steter Angst umherlaufen, seitdem eine Katze da ist?" „Das ist nur ein Uebergang," sagte er.„Langzahn wird pns von ihr befreien."
„Ach Du mit Deinem Langzahn! Hast Du schon je ge- hört, daß sich eine Katze von einer Ratte einschüchtern ließ?" „Langzahn ist ein kluger Kopf," erwiderte Meister Grau. „Er wird sich schon etwas ausdenken." „Wir werden gewiß bald sehen, daß eine armselige Ratte eine Katze zum Haus hinausjagt," spottete sie. Meister Grau war beleidigt. Er antwortete nichts, son- dern überlegte, wo er Nahrung suchen solle. Und da die Tiere gegenseitig ihre Gedanken verstehen, fragte ihn Madame Grau, ob er schon in den öden Gängen gewesen sei. „Nein," antwortete er kurz. „Dann könnte man doch dort einen Versuch machen k* „Nein," sagte er abermals kurz und bestimmt. „Und warum nicht?" fragte sie.„Ist es nicht Deine Pflicht. Nahrung zu suchen?" „In den öden Gängen— nein," entgegnete Meister Grau.„Keine Maus kann von einer andern Maus verlangen, sie solle sich da hinein wagen." „Und Du willst ein Mann sein?" fragte die Madame. „Ich bin ein Mann," brummte Meister Grau,„aber Wunderraten kann ich nicht vollbringen. Du weißt, daß sich nie eine Maus in die öden Gänge gewagt hat." „Nie?" höhnte sie.„Wie sollten sie denn dann ent- standen sein?" „Es heißt, es gehe darin eine tote Maus um," erklärte Meister Grau und senkte die Stimme zu einem geheimnisvollen Pfeifen.—„Eine Maus ohne Kopf!" „Was macht das?" „Was das inacht? Möchtest Du vielleicht einem Gespenst begegnen?" „Eine Maus ohne Kopf kann doch nicht beißen," sagte sie.„Aber Du bist eben ein Tolpatsch, ein armseliger Tropf, für den selbst eine Mausefalle zu gut ist. Du bist so dumm, so feig und ekelhaft, daß Dich wahrscheinlich sogar die Katze ausspucken würde, wenn sie Dich erwischt hatte." Meister Grau hörte diese boshaften Worte in immer größerer Erregung an. Sein Schwanz begann sich zu ringeln- er atmete schwer und zischte: „Nun Hab ichs satt, ich gehe— gehe in die öden Gänge. Leben Sie wohl, Madame Grau, lebt wohl, Ihr lieben Kleinen— Euer Vater geht!" „Das ist Dein Glück," sagte die Madame. Und Meister Grau begab sich rücklings zur Wohnung hinaus. „Lebt wohl, meine Lieben," murmelte er mit einer Stimme, die vor Gemütsbewegung bebte.
„Leb wohl. Grau," erwiderte sie gleichmütig und machte sich ettvas an den Jungen zu schaffen. Grau verschwand ganz langsam. Diesmal war er es, der darauf wartete, daß die Madame vielleicht doch in sich gehen und ihn zurückrufen werde. Aber sie schien die ernste Sache mit überlegener Seelenruhe aufzunehmen. Der arme Meister Grau fürchtete sich; sein Herz zitterte. Er war keineswegs ein Held, sondern ein guter, friedlicher Mäusebürger, der gern seine Runde bei den Kehrichteimern machte, zu denen er Zugang hatte; aber das Abenteuerliche liebte er nicht. Es lautete ja ganz hübsch, wenn andere von Gefahren und anstrengenden Wanderungen in fremde Gegenden er» zählten und ihre Kämpfe mit geheimnisvollen Gespenstern schilderten, aber selbst dergleichen zu erleben— das war etwas ganz anderes. Und jetzt sollte Meister Grau gar in die öden Gänge, in das unbekannte Land des Schreckens hinein, wo ihn vielleicht der Tod erwartete? „Nein," sagte er laut vor sich hin und schlug mit dem Schwanz den Boden,„lieber soll mich die Katze fressen, als daß ich das tue. Aber— auderseits ist es doch eine Schande." Nachdem er alle Für und Wider erwogen hatte, entschloß er sich schweren Herzens, Wetter zu schleicheu. Ab und zu muß ein Mann seine Ueberlegenheit zeigen, wenn seine Frau dauernd an ihn glauben soll. Durchs Mundwerk allein gelingt ihm das nicht; dazu bedarf es der Tat. Aber in die öden Gänge—. ES rieselte ihm kalt über den Rücken bis zur Schwanzspitze hinab, wenn er nur an die Maus ohne Kopf dachte, die der Sage nach dort umgeben sollte. Er hatte sich nie dorthin gewagt, kannte auch keine Maus, die das je getan hätte. Hier war der Eingang, von ihm selbst mit Papierfetzen verstopft, als er einst seine Wohnung bezogen hatte. Schnuppernd blieb er stehen. Schon der Geruch kam ihm verdächtig vor; sein Herz klopfte, es wurde ihm richtig übel. Er war lange nicht mehr so schlecht zur Ausführung einer Heldentat aufgelegt gewesen, wie gerade heute.— Ein niederträchtiges Pech!— Es hatte Tage gegeben, an dcncu er seiner Meinung nach den Kampf mit der ganzen Welt aus. genommen hätte; aber heute war es ihm wahrhaft flau zumute. Vielleicht war das eine Folge des leeren Magens— ja. sicher! Aber wie denn auch sein mochte, jetzt hieß es ans Werk gehen.(Forts, folgt.)