Nr. 7.- 1916. Unterhaltungsblatt des vorwärts Sonntag, 9. lannat. Der Mittelpunkt öes Weltalls. Gibt es eine Zeutralsonne? Unendlich und unfaßbar groß ist die Zahl der Fixsterne, deren Licht in klaren Nächten die Tiefen deS Weltalls durcheilt und in unser irdisches Auge fällt. Aber ungleich größer noch ist die Schar lder Himmelskörper, deren Vorhandensein wir mit bloßem Auge gar nicht wahrzunehmen vermögen und uns erst durch das Fernrohr -offenbar wird. Alle diese winzigen Lichtpünktchen sind Sonnen wie unsere Sonne, sind zum Teil um das Vielsache größer als der feurige Ball, besten Wärme und belebender Kraft das Menschen- geschlechl sein Dasein verdankt. Ob alle diese Sonnen dunkle Be- gleiter haben, wie unsere Sonne, ob von ihnen erleuchtete Planeten um sie kreisen wir leisten es nicht. Aber obwohl wir die Frage aus eigener Anschauung wohl niemals werden ergründen können, können wir doch überzeugt sein, daß sich in dieser Hinficht die Welt- vrdnung in unzähligen Formen wiederholt! wissen wir doch auS dem Studium der veränderlichen und der Doppelsterne, daß es auch dunkle Sonnen gibt, deren Existenz wir nur rechnerisch nachzuweisen vermögen. Schon Kant hat sich in seiner.Allgemeinen Theorie des Himmels" eingebend mit dem Problem befaßt, ob eS unter den un« zähligen Sonnensystemen des Kosmos so etwas wie eine Zusammen- gehörigkeit gebe. Noch seiner Anschauung müßte eS eine Zentral- sonne von unfaßbar gigantischem Ausmaß geben, die sämtliche Sterne des Wellalls zusammenhält. Ihm war der Riesenkreis der Milchstraße   die Weltbahn, innerhalb deren alle Sterne ihre Bahn um die Zentralsonne ziehen, als die er Sirius ansah. Die neuere Forschung hat zwar KantS   geniale Hypothese von der Milchstraße als dem Fundament deS sichtbaren Universums bestätiat, ober auch den Nachweis geliefert, daß SiriuS unmöglich der Mittelpunkt des Universums sein kann. Denn das Studium der Bewegung der Fixsterne hat ergeben, daß diese keineswegs die Gesetz- Mäßigkeit aufweist, die Kant vora, gesetzt hat, ohne von der Mechanik der Fixsternwelt genügendÄennluis zu haben. Wir wisten ja heute, daß Sirius trotz semrNi großen Glänze keineswegs eine der größten Sonnen ist; deschtub kann seine Attraktion auch keinen überwiegenden Einfluß ous�ie Bewegung aller übrigen Sterne auS- üben. Das Problem der Zentralsonne hat viele Jahrzehnte hin- durch die Astronomen beschäftigt. So sollte Fomalhaut, ein Stern erster Größe inx Tilde der südlichen Fische der Mittelpunkt des Universums fein; von anderer Seite wurde ein Punkt im Sternbild des Perseu� als das Zentrum des Weltall« angesehen; Mädler kam nach eingehenden Untersuchungen der Eigenbewegungen der Sterne zu dem Schluß, daß sich sämtliche Fixsterne um Älkvone in den Ple- jaden als Mittelpunkt des Kosmos bewegen. Aber auch er wagte nicht zu. behaupten, daß dieser Fixstern durch seine Mäste alle anderen Sonnen beherrsche. In den letzten Jahrzehnten ist die Frage nach dem Vorhanden- sein einer Zentralsonne mehr und mehr m den Hintergrund getreten. 5Oenn je mehr sich unsere Kenntnisse über die Bewegungen der Fix- sterne erweiterten, um so geringer war das Bedürfnis, die Existenz eine« Zentralkörpers vorauszusetzen. Scheinen doch alle Fixstern- tbahnen, soweit man bis jetzt durch Beobachtungen bat ermitteln können, vollkommen gradlinig zu verlaufen. Wenn aber die Fixstern- bahnen keine Kurve bilden, so können sie sich auch nicht um ein GravnationSzentrum bewegen. Jnsolgedesten waren die Astronomen bis vor nicht allzu langer Zeit vorwiegend geneigt, der von Kapleyn aufgestellten Theorie beizutreten, derzufolge die Bewegung der Sterne im großen und ganzen zwei /Triften zeige, die einander entgegengesetzt verlaufen. Denn daß -diese beiden gegen einander gerichteten Stcrnströme vorhanden sind, läßt sich beule nicht mehr bezweifeln. Man hatte aber anfangs nicht -berücksichtigt, daß die beiden großen Stcrntriften wohl nur deshalb gradlinig erscheinen, weil die Bahnen so unendlich groß sind, daß man in der verhältnismäßig erst sehr kurzen Zeit ihrer Verfolgung eine Krümmung noch nicht hat erkennen können. An diese Voraus- setzung hat der engliswe Astronom Walkey angeknüpft, der vor kurzem über da« Problem der Zeutralsonne eine sehr inter- essante Untersuchung veröffentlicht hat. Dadurch ist diese Frage von neuem in den Mittelpunkt der wistenschast- lichen EröNerung gerückt worden. Walkeh gibt sich zwar selbst keiner Täuschung darüber hin, daß er das Problem noch lange nicht endgültig gelöst hat; es ist dem Astronomen jedoch gelungen, sehr wahrscheinliche Anhaltspunkte dafür beizubringen, daß K a n o- ch u s, der Stern Alpha im Schiff Argo, einem ausgedehnten Sternen- bilde der südlichen Hemisphäre östlich und südlich vom Bilde de« Großen Hunde«, die Zentrolsonne darstellt, die daS gesamte Uni- Nersum regiert. KanopuS ist nach Siriu» der hellste Fixstern des Firmaments und eine Sonne von geradezu unfaßbar großen Dimen- sionen. Uebersteigt die Leuchtkraft des KanopuS nach den Unter- suchungen von Comstock   die unserer Sonne doch 54 VSOmal, während die Leuchtkraft des Sirius   nur 33mal größer als die der Sonne ist. Dabei ist Sirius   einer der nächsten Fixsterne, während Kanopus min- desten« 500 Lichtjahre von unserem Sonnensystem trennen. Wollten wir die Entfernung des Kanopus von uns im Vergleich zur Distanz Sonne-Erde auf ein Blatt Papier   aufzeichnen und wählten wir als Einheit den Abstand der beiden letzlen Körper selbst, den wir einen Millimeter groß machen, und welcher Millimeter mithin 20 Millionen Meilen bedeutet, so müßten wir uns nach einem Vogen Papier  umsehen, der etwa 30 000 Kilometer, also% des Erdäquators lang ist. KanopuS muß also angesichts seiner außerordentlichen Hellig- keit bei dieser ungeheuren Entfernung eine Sonne von schier un- faßlichen Abmesiungen sein. Ein solcher Himmelskörper läßt sich also sehr wohl als Mittelpunkt des Weltalls denken. Es handelt sich aber auch darum, in welcher Gegend de» Universums von der Erde aus der Mittelpunkt ungefähr zu suchen ist. Walkey ist nun auf Grund der Untersuchungen über die Verteilung der sogenannten Heliumsterne zu dem Ergebnis gelangt, daß die Lage des Kanopus sehr wohl den Mittelpunkt des Milchstraßenkreises bezeichnen kann. Verschiedene andere Untersuchungen über die Enlsernung des Kanopus haben die Annahme Walkeys ziemlich genau bestätigt. Soll dieser Fixstern aber die Rolle eines Änziehungszenlrums spielen, so muß er zunächst im Verhältnis zu den übrigen Sternen unbeweglich sein, wie es ja auch unsere Sonne in bezug auf unser Planetensystem ist. Weiterhin aber muß die Masse dieses Fixsterns so groß sein, daß sie den Einfluß ihrer Schwerkraft auf die unend- lichen Entfernungen hin auszuüben vermag, mit denen hier ge- rechnet werden muß. In bezug auf die erste Bedingung hat nun Walkey darauf hingewiesen, daß die Geschwindigkeit des Kanopus in der Richtung der Sichtlinie gleich Null ist. Der zweite Komponent der Bewegungen, der senkrecht zur Sichtlinie steht, ist aber sicherlich auch unbedeutend, Jedenfalls kann man Kanopus in seiner Stellung zum Milch- straßensystem als so gut wie stcllstehend ansehen. Da die sichtbare Leuchtkraft des Kanopus sowohl wie seine Entfernung bekannt ist, so läßt sich daraus auch das Größenverhältnis des Fixsterns zu unserer Sonne berechnen, vielmehr annähernd schätzen. Walkey nimmt danach an, daß seine Masse etwa 1 350 000 mal größer als die der Sonne ist, und er hebt weiterhin den bemerkenswerten Umstand hervor, daß die Eigenbewegung der Sonne inmitten der Fixsterne genau so groß ist, wie sie sein müßte, wenn sich die Sonne unter Voraussetzung der eben angeführten Masscnverhältnisse um den Kanopus als Zentralkörper bewegt. Diese Uebereinstimmung mag zufällig sein, immerhin ist sie geeignet, die Zuverlässigkeit der Schlußfolgerungen des englischen Astronomen zu stärken. Noch tft diese Annahme von der Rolle des KanopuS als der der Zentralsonne des Wellalls, wie gesagt, Hypothese! aber sicherlich wird die Forschung weiterhin versuchen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Hilfsmitteln die letzten Geheimnisse deS Universums zu entschleiern. Aber auch wenn früher oder später einmal bewiesen werden sollte, daß das ganze Milchstraßensystem, daß alle für uns sichtbaren Fixsterne in Kanopus ihren Mittelpunkt haben, so erhebt sich doch wieder die weitere Frage: gibt es in der Tiefe des Wellen räume», in den auch unsere schärfsten Instrumente nicht mehr einzu dringen vermögen, wiederum solche gigantischen Wellsysteme? Und sind abermals Myriaden solcher gigantischer Zentralsonnen auch nur die Trabanten eines noch gigantiicheren Mittelpunkts? kleines Keuilleton. Warmer Vinterregen. DaS neue Jahr begann mil jener Witlerungserscheinung, die in diesem Winter so ungemein häufig rst und die ihm geradezu seinen Charakter verleiht, mit frühlingSbaft warmem Regenwetter. Fast die Hälfte des Monats Dezember stand im Zeichen warmen Winter- regen«! nun setzt sich dieser WitterungSlypus auch tief in den Januar hinein fort, und es ist sehr leicht möglich, daß es während der noch vor uns liegenden sieben Winterwochen zu gar keiner wesentlichen Aenderung des Wetters mehr kommt. Die Wilterungsgeschichte ist reich an Beispielen solcher Fälle, und gerade während der letzten anderthalb Jahrzehnte sind sicherlich in einem Drittel der Jahre die Monate Januar und Februar unter fast ununter- brochenem Tau- und Regenwetter verstrichen. Damit soll nicht gesagt sein, daß eS auch in diesem Jahre so kommen muß! einen sicheren Anhaltspunkt für das Ausbleiben nennenswerter Fröste während deS Restes des Winters gibt eS nicht, und der WitterungS- charakter kann sich sehr wohl auch wieder einmal in sein Gegenteil verkehren. Allerdings wird noch den Gesetzen der Wahrscheinlichkeits« rechnung an Hand der langjährigen meteorologischen Statistik die Aussicht auf Frost um so geringer, je weiter der Januar ohne solchen vorrückt. DaS heißt: Februarkälte ist schon verhältnismäßig selten, wenn sie nicht bereits auS dem Januar stammt, und einem ver- regneten Januar folgt auch gewödnlich ein frostloser Februar. Eher kommt eS dann fast noch zu mehr oder weniger starken Kälterückfällcn im März, wie wir ja noch aus dem vergangenen Jahre wissen. Ein künstlicher Meitsarm. Wenn ein Armstumpf fehlt, wenn es sich also um eine voll- ständige Exartikulation, ei» Absetzen des Armes im Schultergelcnk handelt, so waren bisher Ersatzarme, mit denen die Ausübung Hand- werksmäßiger Tätigkeit möglich war, noch nicht bekannt. Prefesior Lange, dem leitenden Arzt der elsaß  -lothringischen Krüppelheil- und Erziehungsanstalt, ist es nun gelungen, wie er in der Münchner Medizinischen Wochenschrift" mitteilt, auch in einem solchen Falle einen künstlichen Arm in eine derart feste Verbindung mit der Schulter und dem Körper des Invaliden zu bringen, daß dieser in den Stand gesetzt wurde, die meisten Arbeiten, die er als Landmann ausübte, wieder verrichten zu können. Es gelang dies dadurch, daß zunächst nach einem exakten Modell der Schulter eine Lederkappe gewalkt wurde, die alle vor- springenden Knochenteile deutlich erkennen ließ. An dieser Schulter- kappe wurde dann die gut anschließende Oberarmhülse befestigt. Natürlich muß die Schullerkappe selbst besonders fest mit dem Rumpf verbunden sein. Die der Veröffentlichung beigegebenen Photographien zeigen den Verletzten, der mit dem gesunden Arm die Arbeilsprolhcsen bequem mit einemSonntagsarm" auswechseln kann, bei den verschiedensten landwirtschaftlichen Verrichtungen, wie er hackt, gräbt, mit der großen Sense mäht, die schwere Gießkanne handhabt, einen beladenen Karren fährt usw. Natürlich kann die Prothese skünstliches Glied) nicht den ge- sunden Arm in jeder Hinsicht ersetzen, vermutlich wird ein solcher Mann bei schweren Arbeilen schneller ermüden als«in gesunder, aber es ist ein bei den Kriegsverhältnissen doppelt erfreulicher Fort- schritt der Wissenschaft und Technik, daß auch solche Leute ihrem Berus   erhalten bleiben können. Der Leoparüstsch. Ein schöner Fisch des Atlantischen Ozeans  , dessen Fleisch sich als sehr werlvoll erwiesen hat, der aber seit über 30 Jahren als ver- nichtet galt, ist vor kurzem wieder aufgetaucht, wie wir in denMit- teilungen des Deutschen Seefiichereivereins" lesen. Er wurde zum erstenmal im Mai 1879 südlich von der Insel Nantucket an der Küste des nordamerikanischen Staates Massachusetts   durch Angel- fischerei in einer Menge von mehreren Tausend Pfund erbeutet und damit zugleich entdeckt. Wegen seiner auffallend schönen Färbung wurde er vom Volksmund als Leopardfisch bezeichnet. Es ist ein Tiefseefisch, der in einer Tiefe von 80 bis 150 Faden vorkommt; er gehört zur Familie der Latiliden und erhielt den Namen Dopbolatilus otrawasloontioops. Er gehörte in New Jork sehr bald zu den beliebtesten Leckerbissen. Aber im März und April 1882 fuhren verschiedene amerikanische   Fahrzeuge etwa 100 See- meilen von der Küste entfernt durch eine Masse toter und sterbender Fische, die nach den verschiedenen Beobachtungen ein Feld von etwa 170 Seemeilen Länge und 25 Seemeilen Breite bedeckten. Ihre Zahl muß mehr als 1400 Millionen Stück, fast 1�/, Milliarden betragen haben. Seit dieser Katastrophe, deren Ursache nicht aufgeklärt werden konnte, war der Leopardfisch völlig verschwunden und wurde 1889 vom Nationalmuseum der Vereinigten Staaten   in die Liste der ausgestorbenen Tiergeschlechter ausgenommen. Drei Jahre später, 1892, wurden allerdings einige wenige Exemplare an der alten Stelle wieder erbeutet. Jetzt aber, Milte Oktober 1915, hat eine Fischerssmack innerhalb dreier Tage 810 Leopardfische von durchschnittlich 10 Pfund Gewicht an der Insel erbeutet, die sich nach den sogleich angestellten Kostproben wiederum als ganz vortrefflich erwiesen, so daß man sich in Amerika  von der Ausbeutung dieses Fischgebietcs viel verspricht. Vielleicht wtrd dadurch auch Klarheit über die Katastrophe von 1882 geschaffen werden.__ Notizen. Vorträge. Im Institut für Meereskunde lGeorgenstr. 34/36) spricht Dienstag, den 11. Januar, Prof. Oestreich- Utrecht   über Mazedonien   nach eigenen Reisen, Freitag, den 14. Januar, Prof. Dr. Oehquist-HelsingforS über Finnland  (mit Lichtbildern). Eine Vorlesung über Strategie. Prof. Dr, Delbrück   kündigt für dieses Semester eine neue Vorlesung an über: Geschichte der neueren Strategie von Gustav Adolf   bis auf die Gegenwart. Donnerstag 07 öffentlich. Beginn am 13. Januar im .nckitorrum raaximum(Nr. 32). Der Astronom Georg Krüger ist in Aarhus   in Dänemark   gestorben. Krüger war vor fünf Jahren von Deutsch  - land nach Aarhus   übergesiedelt und hatte dort auS eigenen Mitteln ein Observatorium errichtet, das er dem aus Aarhus   gebürtigen Astronomen Ole Römer  , dem Bestimmer der Lichtgeschwindigkeit, zu Ehren Römer-Observatorium benannte. Die Schicksalsmaus. EineErzählungvonTierenundMenschen. 49] Von Harald Tandruv. Dieser Abend verlangt mehr als jeder andere eine ein- same Stunde. Wer sich daran gewöhnt hat, über das Leben nachzudenken, muff am Silvesterabend unbedingt einen Augen- blick innehalten, sich die vergangene Zeit zurückrufen und in der Stille die Abrechnung noch einmal durchgehen. Heut' ist's gerade ein Jahr her, seitdem wir eS zum letzten Male taten. Wie steht es jetzt damit? Zuerst betrachten wir die äuffere Stellung. Sind wir auf der Rangleiter hinauf oder hinunter gestiegen? Oder stehen wir noch, wo wir im vergangenen Jahr standen? Dann kommen wir zu der haarscharfen Wage des Ge- Wissens, jener peinlichen Lage, wenn man dreihundertfünfund- sechzig Tagen von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, die der Arbeit im Fortschritt des Guten hätte gewidmet werden sollen, aber von dem persönlichen Vorteil von dem Häufeln unserer eigenen Kartoffeln ausgefüllt worden sind. Und es ist gräfflich, daff man auch diesmal wieder eine Untcrbilanz feststellen muß. Das Gute, das wir geplant hatten, ist zu einer ver- schwindenden Kleinigkeit zusammengeschrnmpft. Das Törichte, daS Unrechte hingegen, die großen und kleinen Schurkenstreiche, die sich gegen unseren Willen eingeschlichen haben, breiten sich über alle Seiten der Abrechnung aus und füllen die einzelnen Spalten. Man leidet darunter, fühlt sich unbehaglich, fürchtet sich, mit sich selbst allein zu sein, und stücktet deshalb so schnell als möglich zu den Feuerwerkskörpern! Der große Spektakel geht los. Kröten, Kanonen, Chinesen und Bomben beginnen zu lärmen. Die Zündfäden rauchen und knistern für einen Augen­blick verschwindet der Funke dann kommt der Krach, der Feuerregen, das Freudengeschrei. Es gibt Feste, an denen man Bäume Pflanzt, sich bemüht, etwas Wertvolles zu schaffen um die Neujahrszcit bemüht man sich nur zu zerstören. Aber man hat seinen Spaß daran, und das ist die Hauptsache. Man vergießt Tränen der Rührung beim Weihnachts- gottesdienst und lacht am Neujahrsabend sollte es nicht eher umgekehrt sein? Man wünscht sich gegenseitig ein frohes, neues Jahr, ohne vor dem naheliegenden Gedanken zu bangen, es könne dem lieben Gott einmal einfallen, die Himmelstür zu öffnen und zu unS herabzurufen: Ihr seid allesamt Schlingel. Wenn ihr euch nicht bessert, sollt ihr alle Schrecken dieser Erde zu kosten bekommen!" Man sagt, es fehle unserer Zeit am Glauben das ist wahr und nicht wahr! Der Glaube an Gottes Langmut ist überwältigend unbegrenzt. Selbst in den häßlichen Stadtgegenden, wo Laster und Armut einander Gesellschaft leisteten, schwelgte man in Neu- jahrsfrcudc. Leute, die nur noch das Armenhaus oder das Zuchthaus zu erwarten hatten, schwangen Branntweinflaschen und wünschten sich selbst Glück für die Zukunft. Nur Christensen hatte einen harten Tag, denn es wurde immer kälter und das Lesezimmer war loegen des halben Festtages geschlossen. Er hatte einen Gang durch die Stadt gemacht, und dabei hatten ihm viele Menschen im Vorübergehen Geld in die Hand gedrückt. Doch kein Wort des Dankes war über seine Lippen gekommen, denn er huldigte der Anschauung, daß eigentlich er Dank verdiene. Verschaffte er nicht dadurch, daß er das Geld nahm, anderen Gelegenheit, sich in dem Glauben an ihre sogenannte Wohltat zu freuen? Auf dem Heimweg war der Philosoph einer armen Frau mit ein paar Kindern begegnet, die von ihrem Hausherrn auf die Straße gesetzt worden waren und jetzt straßauf, straßab irrten, ohne zu wissen, wo sie hin sollten. Christensen gab ihr das Geld, das er hatte, und als sie ihm in überschwenglichen Worten danken wollte, beschwich- tigte er sie, indem er sagte: Bedanken Sie sich bei dem lieben Gott, Frauchen! Das Geld gehört denen, die es brauchen." Jetzt wanderte er in seinem ärmlichen Zinimct in dem stillen Haus auf und ab. Er hatte sehr wenig zu essen und noch Iveniger, um ein- zuHeizen, fühlte sich müde und elend, bald kalt, bald warm. Als die Dunkelheit hereinbrach, verzehrte er eine Semmel, kroch ins Bett und deckte sich mit alten Tüchern zu. Der läng- lichen Kiste, in der er lag, fehlte nur der Deckel, um wie ein Sarg auszusehen. Auf ihrem Boden lagen alle möglichen Lumpen! die Kissen bestanden aus alten Röcken. Vielleicht war die schneidende Kälte oder das zu kalte Blut in Christensens eigenem abgezehrten Körper daran schuld er konnte heute abend nicht warm werden. Seine zahnlosen Kinnladen schlugen gegeneinander wie ein paar stumpfe Scheren; er zitterte so. daß die ganze Kiste schwankte. Mitunter sauste es ihm in den Ohren. Still starrte er in die Nacht hinaus. Er hatte es durch jahrelange Uebung dahin gebracht, die Leiden des Körpers von einem beobachtenden Standpunkt aus anzusehen. Und obwohl er jetzt keine eigentlichen Schmerzen oder ein wirkliches Uebelscin fühlte, merkte er doch, daß der Körper um Hilfe rief, daß er irgendwo litt. Aber wenn Christensen nicht helfen konnte, gab er sich auch nicht weiter mit Klagen ab. Es ging ihm wie jenen morgenländischen Weisen, die die größten Martern ertragen können, ohne Schmerz zu empfinden, weil sie die Verbindung zwischen dem Gedanken- leben des Gehirns und dem niederen Nervensystem abgebrochen haben. Der Hauch von Christensens schwachen Atemzügen ver- ivandelte sich an den Fenstern in Eiskristalle. Ueber das Dach des Vorderhauses kam der Mond herauf und leuchtete durch die Eisblumen, und man sah an seinem Licht, wie kalt es war. Draußen auf den Straßen nahm der Lärm zu; aus einzelnen Schüssen wurden allmählich Salven. Mitunter lvar es wohl einen Augenblick still, aber dann ertönte ein Knall, und gleich waren zehn andere da, die sich beteiligten und antworteten. Es klang wie ein Scheingefecht, das zunimmt, wenn ein Schuß in demselben Glied fällt, aber sofort wieder nachläßt. Endlich schlief Christensen ein. Er hatte sich in seine Lumpen richtig vergraben und lag zusammengerollt wie ein Hund, mit heraufgezogenen Leinen da. (Foxtf. folgt.)