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Verlag; Karlsbad  , HansGraplna* Preise and Bezngsbedmgtmgen siehe Beiblatt letzte Seite
Aus dem Inhalt; Vormarsch in Danzig  Wachsende Inflationsangst Die Wandlung in Jugoslawien  Der Kirchenkampf
Die Schande des 20. JohMeHs Die Barbarei herrscht im Herzen Europas  
Die Schande des 20. Jahrhunderts ist endlich entdeckt worden. Die»Verletzung der wesentlichsten Gesetze nicht nur der Zivilisation, sondern auch der einfachsten und primitivsten Menschlichkeit« wird an den Pranger gestellt Mit kräftigen Wor­ten werden Brutalität, Unkultur, Barbarei, Völkerversklavung gegeißelt Die mora­lische Verurteilung geht in politische Kon­sequenzen über: ein Staat, der solcherma­ßen die Gesetze der Menschlichkeit ver­letzt, ist unwürdig, dem Völkerbund anzu­gehören, er muß zum Feind der Zivilisa­tion erklärt, seine Souveränität und Inte­grität muß aufgehoben werden. Es handelt sich um Abessinien. Die Presse Mussolinis tritt solchermaßen als Verteidigerin der europäischen   Kultur gegen die Schande des 20. Jahrhunderts auf. Es ist eine abgrundtiefe Heuchelei. Wer Kriegsstimmung hochpeitscht für im­perialistische Appetite, heuchelt, wenn er von Kultur redet. Aber die sonderbare europäische   Konstellation hat eine Art des »poütischen Realismus« erzeugt, die dieser Kulturheuchelei Resonanz geschaffen hat. Die Behauptungen und die Greuelerzählun- Sen der italienischen Presse dringen all­mählich in die europäische Presse ein. Abessinien, Mitgliedstaat des Völkerbun­des, mit eifrigster italienischer Mitwirkung erst dazu gemacht, wird nun als ein para­staatliches Gebilde ohne feste Regierung mit mittelalterlichen Zuständen bezeich­net, von dem jeder gute Europäer sich mit Entrüstung abzukehren habe. Mit Abscheu liest der Kulturhochmut des guten Euro­päers Schilderungen von Folterungen und qualvollen Hinrichtungen, von Sklaverei und Menschenraub, und errichtet damit eine schöne hohe Wand, hinter der sich das Gewissen betrügen und beruhigen kann. Ist es nicht eine teuflische Groteske, daß der blutbefleckte italienische   Faschismus, der Mord und Folterung, Raub der Frei­heit und des Rechts auf seinem Schuld­konto hat, im Namen der europäischen  Kultur Abessinien abwürgen will und dazu noch Beifall aus Europa   findet? Wenn die sehr geehrten Herren Euro­ päer  , die der Vorbereitung dieses»Kultur­krieges« beifällig oder mit duldender Lang­mut zusehen, sich im eigenen europäischen  Haus etwas umsehen wollten, so würden sie finden, daß die Barbarei und die mit­telalterlichen Zustände mitten unter ihnen bestehen. Das Abessinien, so wie es die italienische Propaganda macht, dies Land der Greuel und der Barbarei, es liegt nicht in Afrika  , sondern mitten unter uns, es liegt in Deutschland  ! Mord, Folterung, Menschenraub, Ver­gewaltigung aller Menschenwürde, Ver­sklavung, Rechtsvillkür, Konzentrations­lager, Zwangsarbeit, undurchsichtige wül- kürliche Staatsgewalt, Unterdrückung von Minderheiten, zynische Verletzung interna­tionaler Pflichten und Verträge das ist Hitlerdeutschland! Man muß nicht nach Afrika   gehen, wenn man die Schande des 20. Jahrhunderts entdecken will. Wir wissen recht gut, daß man an einen wunden Punkt des europäischen   Ge­wissens rührt, wenn man die Wahrheit über Deutschland   hinausschreit. Es gehört nicht zum guten diplomatischen Ton in Europa  , die Verbrechen und die Barbarei des braunen Regimes mit Namen zu nen­nen. Man möchte lieber von diesen Seiten des Hitlersystems nichts wissen, um nicht durch die Stimme des europäischen   Kultur­gewissens in der Politik der Opportunität gestört zu werden. Man schließt die Augen,
obwohl die Schandtaten nicht aufhören; der Menschenraub im Falle Jakob, der feige Mord an unserem Genossen Husemann sind erst wenige Wochen alt! Man ist von der Vorstellung peinlich berührt, daß die ita­lienischen Propagandaanklagen gegen das schwärzeste Volk in Afrika   so genau zu­treffen auf das System, das- heute einen Staat weißer nordischer Rasse beherrscht und das das Objekt eines»verstehenden Realismus«, das Ziel britischer Frontkämp­ferdelegationen ist, würdig, Partner eines Flottenabkommens zu sein. Aber der Zufall ist gerecht! Er hat dafür gesorgt, daß die Schande des zwan­zigsten Jahrhunderts mitten in Europa  sich gerade an diesem Zeitpunkt selbst an den Pranger gestellt hat. An dem Tage, an dem die britische   Frontkämpferdelega­tion Berlin   besuchte, haben die Gralshüter des braunen Systems eine Orgie der wildesten Judenverfolgungen in Berlin   entfesselt in Gegenwart der Briten  , die glaubten, ein System zu be­suchen, das auf gleicher kultureller Basis ruht. Die unauslöschbare Schande vieler Jahrhunderte, der aller menschlichen und moralischen Hemmungen bare Antisemitis­mus, dies widerliche, demoralisierende, alle bösen Instinkte entfesselnde Vorurteil ge­gen die Juden, das mit dem wahren euro­ päischen   Kulturbegriff unvereinbar ist, hat sich eben jetzt wieder als Grundlage und Wesensfaktor des Hitlersystems offenbart. Wo ist nun»der Skandal unse­res Jahrhunderts«? Ingrimm und Empörung erfaßt uns, wenn wir in der italienischen Zeitschrift Affari Esteri lesen; »Es handelt sich um Verletzung nicht nur der wesentlichsten Gesetze der Zivilisation, sondern auch der einfachsten und primitiv­sten Menschlichkeit... Der Völkerbund   Inter­essiert sich für den Schutz der jungen Mäd­chen und der Bergarbeiter, er arbeitet Kon­ventionen aus, um die Verunreinigung von Gewässern zu vermeiden, die Wasservögeln und Fischen schaden könnten, er beschützt durch die Konvention über den Walfang die
Erhaltung der kostbaren Waltiere aber In den Grenzgebieten des abessinischen Reiches gibt es ganze Völker, die sterben, es gibt eine Menschheit, die im vollen zwanzigsten Jahrhundert nach dem Recht zu leben rufen muß!« Seht doch hin nach Deutschland  , auf das Grauen, das dieses barbarische System umgibt, auf die Arbeit der Henker und der Henkersknechte! Man komme uns nicht damit, daß dieses System, sei es auch wie es sei, dennoch in das europäische Gemein­schaftsgefühl und Kulturgefühl einge­schlossen sei, daß es sich hier um weiße Rasse handle, selbst in ihren schlimmsten Ausschreitungen! Dieser Rückfall der Zi­vilisation in Deutschland   in die Barbarei ist moralisch und menschlich verwerfücher als die primitive Barbarei ursprünglicher Völker; denn er ist bewußte und ge­wollte Verneinung der Gesit­tung. Was sind die Schlagworte euro­päischer Kulturpropaganda wert, wenn die zivilisatorische Aktivität sich auf Afrika  richtet und gleichzeitig die Barbarei in Europa   totgeschwiegen, geduldet, begün­stigt wird? Wir warnen alle, die sich heute in Europa   aus Opportunität leichtherzig zu Bundesgenossen faschistischer Kultur­heuchelei machen. Wer Italien   das Recht zu zivilisatorischer Expansion zugesteht, sollte nachdenken. Auch das braune System hat seine Expansions­tendenzen und nicht nur in Afrika  , sondern in Europa  . Es will seine Barbarei über die Grenzen tragen. Wer will sich damit trösten, daß diese Expansionsten­denzen nicht nach Westen zielen? Wo ist der östliche Punkt in Europa  , wo das europäische Gemeinschaftsgefühl auf­hört, wo der Angegriffene zum Rechts­brecher gestempelt wird, zum parastaat­lichen Gebilde, unwürdig, in die Reihen des Völkerbundes zu gehören? Wie weit muß ein europäischer Staat nach Osten liegen, und wie schwach muß er sein, da­mit ihn das europäische Solidaritätsgefühl preisgibt? Wir erinnern uns: dieselben
Worte, die wir heute von Mussolini   über Abessinien hören, das sich außerhalb der Menschlichkeit gestellt habe, haben wir vor kurzer Frist von Hitler   über Litauen  gehört Und wer kommt nach Li­ tauen   an die Reihe? Die Diktaturen sind der Krieg. Sie zer­stören die Gesittung, mit der Gesittung die Demokratie, mit der Demokratie das Recht, mit dem Recht den Frieden, es bleibt das Faustrecht der rohen Gewalt, der Krieg. Es ist ein unheimliches Schauspiel: im Herzen Europas   bereitet das braune Sy­stem. systematisch einen grandiosen Rechts- und Friedensbruch vor, indem es mit barbarischen Mitteln die Freunde des Rechts und des Friedens im eigenen Lande versklavt, und derweilen liefert die italie­nische Diktatur das Vorbild, wie man Kul­turphrasen und selbst die Völkerbunds­ideologie benutzt, um einen krassen Rechtsbruch propagandistisch mit dem Schein des Rechts zu umgeben. Fürchtet niemand, daß der Lehrer mächtigere, ge­fährlichere Schüler finden wird, überlegt niemand, wie Europa   aussehen wird, wenn die Expansion des braunen Systems sich durchgesetzt haben würde? Wem gelüstet es in Europa   nach dem Schicksal Abes­siniens?
Das System gesteht! Das Statistische Reichsamt berichtet über Verurteilungen und Bestrafungen durch deutsche Gerichte ins Zeitraum vom 30. Juni 1933 bis zum 1. Juli 1934. Dabei legt es das folgende Geständnis ab: Im Laufe des Berichtsjahres wurden »auf der Flucht erschos­sen«...... 184 Personen sterilisiert.,. 13.863 ausgebürgert.... 13.131 in Konzentrationslager eingeliefert.... 49.103 Da die meisten Einlieferungen in Konzen­trationslager vor dem 30. Juni 1933 erfolg­ten, ist die letzte Zabl ganz ungenau. Sie ist um ein Mehrfaches übertroffen worden.
Pogrom In Berlin  Ton der IVationalsoziallstisdien Partei systematlsdi organisiert
Der Kurfüratendamm pogrom, der sich am Abend des 15. Juli und die ganze Nacht hindurch abspielte, ist eine genaue Wieder­holung des Pogroms an der gleichen Stelle im Jahre 1932. Die Akteure waren die gleichen; SA   und Hitlerbengels, die Kommandeure waren ebenfalls die glei­chen: die Führer der NSDAP  . Die dummen Lügen der braunen Behörden, die sich auf unverantwortliche Elemente her­ausreden, sind ebenfalls die gleichen, die die braunen Oberbonzen im Jahr? 1932 vor Gericht vorbrachten; feig, aber zynisch verlogen. Ueber die planmäßige Vorbe­reit u n g dieses Pogroms besteht nicht der mindeste Zweifel. Berlin   wurde bisher von den noch in Deutschland   befind­lichen Juden als der relativ sicherste und freieste Ort in Deutschland   angesehen. Sie müssen auch in Berlin   wie im Ghetto leben, aber man ließ sie bisher wenigstens le­ben. Die Folge war, daß Juden, die in der Provinz an Leib und Leben bedroht wurden, nach Berlin   flüchteten, wenn sie
nur irgend die Mittel dazu besaßen. Der haßerfüllte Antisemitismus jener Führer­gruppe der Nazis, der der primitive Juden­haß über alles geht, hat darum seit lan­gem eine antisemitische Welle in Berlin  vorbereitet Zu dieser Gruppe gehören Streicher, Rosenberg, aber auch Hitler   selbst. Streicher hat mit Zustim­mung Hitlers   eine FUiale seiner Schand­zeitung»Der Stürmer  « und seiner antise­mitischen Aktivität nach Berlin   verlegt Er hat mit kleineren Pogromversuchen ange­fangen, bald in Neukölln, bald anderwärts. Er hat dabei die offene Duldung der Be­hörden gehabt. Bald hat er bei seinem Versuch, Nürnberger   Zustände in Berlin  einzuführen, die Hilfe der gesamten natio­nalsozialistischen Presse gefunden. Wir zitieren nur zwei Beispiele, um die syste­matische Vorbereitung zu zeigen. Im »W estdeutschen Beobachter« hieß es vor einigen Tagen: »Fremde, die unser Land besuchen, sind entzückt von der Ordnung, Sicherheit und Ruhe, die im neuen Deutschland   herrscht. Bei
uns wird niemandem ein Haar gekrümmt... Ein Gang durch die Straßen«bezeugt das... Auf den Caföterrassen wimmelt es von Juden, und es gibt niemand, der sie auch nur beach­tet....< Im Berliner  »Völkischen Beobachter« aber, dem Organ Rosenbergs, stand am Morgen des 15. Juli: »In einem Berliner   Lichtspielhaus läuft zur Zeit der schwedische Tonfilm»Petterson und Bendel«, ein ausgezeichneter Bildstreifen, der in lebensechtem Ablauf den Wesensunter­schied zwischen Ariertum und Judentum dar­stellt. Als erster ausländischer Film erhielt »Petterson und Bendel« durch die amtliche deutsche Filmprüfstelle das höchste Prädikat: staatspolitisch wertvoll. Gelegentlich der Uraufführung ereigneten sich, hervorgerufen durch eine große, schein­bar organisierte Anzahl jüdischer Besucher Zwischenfälle, die eine deutliche Sprache reden. Wenn sich auch die jüdischen Frech­heiten wohlweislich im Rahmen der Dunkel­heit während der Vorstellung hielten, bewei­sen sie doch ganz besonders im Hinblick auf