!fr. m SOlflfTlG, 21. JnlS I93S
Aus dem Inhalt; Vormarsch in Danzig Wachsende Inflationsangst Die Wandlung in Jugoslawien Der Kirchenkampf
Die Schande des 20. Jahrhunderts ist endlich entdeckt worden. Die»Verletzung der wesentlichsten Gesetze nicht nur der Zivilisation, sondern auch der einfachsten und primitivsten Menschlichkeit« wird an den Pranger gestellt Mit kräftigen Worten werden Brutalität, Unkultur, Barbarei, Völkerversklavung gegeißelt Die moralische Verurteilung geht in politische Konsequenzen über: ein Staat, der solchermaßen die Gesetze der Menschlichkeit verletzt, ist unwürdig, dem Völkerbund anzugehören, er muß zum Feind der Zivilisation erklärt, seine Souveränität und Integrität muß aufgehoben werden. Es handelt sich um Abessinien. Die Presse Mussolinis tritt solchermaßen als Verteidigerin der europäischen Kultur gegen die Schande des 20. Jahrhunderts auf. Es ist eine abgrundtiefe Heuchelei. Wer Kriegsstimmung hochpeitscht für imperialistische Appetite, heuchelt, wenn er von Kultur redet. Aber die sonderbare europäische Konstellation hat eine Art des »poütischen Realismus« erzeugt, die dieser Kulturheuchelei Resonanz geschaffen hat. Die Behauptungen und die Greuelerzählun- Sen der italienischen Presse dringen allmählich in die europäische Presse ein. Abessinien, Mitgliedstaat des Völkerbundes, mit eifrigster italienischer Mitwirkung erst dazu gemacht, wird nun als ein parastaatliches Gebilde ohne feste Regierung mit mittelalterlichen Zuständen bezeichnet, von dem jeder gute Europäer sich mit Entrüstung abzukehren habe. Mit Abscheu liest der Kulturhochmut des guten Europäers Schilderungen von Folterungen und qualvollen Hinrichtungen, von Sklaverei und Menschenraub, und errichtet damit eine schöne hohe Wand, hinter der sich das Gewissen betrügen und beruhigen kann. Ist es nicht eine teuflische Groteske, daß der blutbefleckte italienische Faschismus, der Mord und Folterung, Raub der Freiheit und des Rechts auf seinem Schuldkonto hat, im Namen der europäischen Kultur Abessinien abwürgen will und dazu noch Beifall aus Europa findet? Wenn die sehr geehrten Herren Euro päer , die der Vorbereitung dieses»Kulturkrieges« beifällig oder mit duldender Langmut zusehen, sich im eigenen europäischen Haus etwas umsehen wollten, so würden sie finden, daß die Barbarei und die mittelalterlichen Zustände mitten unter ihnen bestehen. Das Abessinien, so wie es die italienische Propaganda macht, dies Land der Greuel und der Barbarei, es liegt nicht in Afrika , sondern mitten unter uns, es liegt in Deutschland ! Mord, Folterung, Menschenraub, Vergewaltigung aller Menschenwürde, Versklavung, Rechtsvillkür, Konzentrationslager, Zwangsarbeit, undurchsichtige wül- kürliche Staatsgewalt, Unterdrückung von Minderheiten, zynische Verletzung internationaler Pflichten und Verträge— das ist Hitlerdeutschland! Man muß nicht nach Afrika gehen, wenn man die Schande des 20. Jahrhunderts entdecken will. Wir wissen recht gut, daß man an einen wunden Punkt des europäischen Gewissens rührt, wenn man die Wahrheit über Deutschland hinausschreit. Es gehört nicht zum guten diplomatischen Ton in Europa , die Verbrechen und die Barbarei des braunen Regimes mit Namen zu nennen. Man möchte lieber von diesen Seiten des Hitlersystems nichts wissen, um nicht durch die Stimme des europäischen Kulturgewissens in der Politik der Opportunität gestört zu werden. Man schließt die Augen,
obwohl die Schandtaten nicht aufhören; der Menschenraub im Falle Jakob, der feige Mord an unserem Genossen Husemann sind erst wenige Wochen alt! Man ist von der Vorstellung peinlich berührt, daß die italienischen Propagandaanklagen gegen das schwärzeste Volk in Afrika so genau zutreffen auf das System, das- heute einen Staat weißer nordischer Rasse beherrscht und das das Objekt eines»verstehenden Realismus«, das Ziel britischer Frontkämpferdelegationen ist, würdig, Partner eines Flottenabkommens zu sein. Aber der Zufall ist gerecht! Er hat dafür gesorgt, daß die Schande des zwanzigsten Jahrhunderts mitten in Europa sich gerade an diesem Zeitpunkt selbst an den Pranger gestellt hat. An dem Tage, an dem die britische Frontkämpferdelegation Berlin besuchte, haben die Gralshüter des braunen Systems eine Orgie der wildesten Judenverfolgungen in Berlin entfesselt— in Gegenwart der Briten , die glaubten, ein System zu besuchen, das auf gleicher kultureller Basis ruht. Die unauslöschbare Schande vieler Jahrhunderte, der aller menschlichen und moralischen Hemmungen bare Antisemitismus, dies widerliche, demoralisierende, alle bösen Instinkte entfesselnde Vorurteil gegen die Juden, das mit dem wahren euro päischen Kulturbegriff unvereinbar ist, hat sich eben jetzt wieder als Grundlage und Wesensfaktor des Hitlersystems offenbart. Wo ist nun»der Skandal unseres Jahrhunderts«? Ingrimm und Empörung erfaßt uns, wenn wir in der italienischen Zeitschrift Affari Esteri lesen; »Es handelt sich um Verletzung nicht nur der wesentlichsten Gesetze der Zivilisation, sondern auch der einfachsten und primitivsten Menschlichkeit... Der Völkerbund Interessiert sich für den Schutz der jungen Mädchen und der Bergarbeiter, er arbeitet Konventionen aus, um die Verunreinigung von Gewässern zu vermeiden, die Wasservögeln und Fischen schaden könnten, er beschützt durch die Konvention über den Walfang die
Erhaltung der kostbaren Waltiere— aber In den Grenzgebieten des abessinischen Reiches gibt es ganze Völker, die sterben, es gibt eine Menschheit, die im vollen zwanzigsten Jahrhundert nach dem Recht zu leben rufen muß!« Seht doch hin nach Deutschland , auf das Grauen, das dieses barbarische System umgibt, auf die Arbeit der Henker und der Henkersknechte! Man komme uns nicht damit, daß dieses System, sei es auch wie es sei, dennoch in das europäische Gemeinschaftsgefühl und Kulturgefühl eingeschlossen sei, daß es sich hier um weiße Rasse handle, selbst in ihren schlimmsten Ausschreitungen! Dieser Rückfall der Zivilisation in Deutschland in die Barbarei ist moralisch und menschlich verwerfücher als die primitive Barbarei ursprünglicher Völker; denn er ist bewußte und gewollte Verneinung der Gesittung. Was sind die Schlagworte europäischer Kulturpropaganda wert, wenn die zivilisatorische Aktivität sich auf Afrika richtet und gleichzeitig die Barbarei in Europa totgeschwiegen, geduldet, begünstigt wird? Wir warnen alle, die sich heute in Europa aus Opportunität leichtherzig zu Bundesgenossen faschistischer Kulturheuchelei machen. Wer Italien das Recht zu zivilisatorischer Expansion zugesteht, sollte nachdenken. Auch das braune System hat seine Expansionstendenzen— und nicht nur in Afrika , sondern in Europa . Es will seine Barbarei über die Grenzen tragen. Wer will sich damit trösten, daß diese Expansionstendenzen nicht nach Westen zielen? Wo ist der östliche Punkt in Europa , wo das europäische Gemeinschaftsgefühl aufhört, wo der Angegriffene zum Rechtsbrecher gestempelt wird, zum parastaatlichen Gebilde, unwürdig, in die Reihen des Völkerbundes zu gehören? Wie weit muß ein europäischer Staat nach Osten liegen, und wie schwach muß er sein, damit ihn das europäische Solidaritätsgefühl preisgibt? Wir erinnern uns: dieselben
Worte, die wir heute von Mussolini über Abessinien hören, das sich außerhalb der Menschlichkeit gestellt habe, haben wir vor kurzer Frist von Hitler über Litauen gehört Und wer kommt nach Li tauen an die Reihe? Die Diktaturen sind der Krieg. Sie zerstören die Gesittung, mit der Gesittung die Demokratie, mit der Demokratie das Recht, mit dem Recht den Frieden, es bleibt das Faustrecht der rohen Gewalt, der Krieg. Es ist ein unheimliches Schauspiel: im Herzen Europas bereitet das braune System. systematisch einen grandiosen Rechts- und Friedensbruch vor, indem es mit barbarischen Mitteln die Freunde des Rechts und des Friedens im eigenen Lande versklavt, und derweilen liefert die italienische Diktatur das Vorbild, wie man Kulturphrasen und selbst die Völkerbundsideologie benutzt, um einen krassen Rechtsbruch propagandistisch mit dem Schein des Rechts zu umgeben. Fürchtet niemand, daß der Lehrer mächtigere, gefährlichere Schüler finden wird, überlegt niemand, wie Europa aussehen wird, wenn die Expansion des braunen Systems sich durchgesetzt haben würde? Wem gelüstet es in Europa nach dem Schicksal Abessiniens?
Das System gesteht! Das Statistische Reichsamt berichtet über Verurteilungen und Bestrafungen durch deutsche Gerichte ins Zeitraum vom 30. Juni 1933 bis zum 1. Juli 1934. Dabei legt es das folgende Geständnis ab: Im Laufe des Berichtsjahres wurden »auf der Flucht erschossen«...... 184 Personen sterilisiert.••,. 13.863„ ausgebürgert.... 13.131„ in Konzentrationslager eingeliefert.... 49.103„ Da die meisten Einlieferungen in Konzentrationslager vor dem 30. Juni 1933 erfolgten, ist die letzte Zabl ganz ungenau. Sie ist um ein Mehrfaches übertroffen worden.
Der Kurfüratendamm pogrom, der sich am Abend des 15. Juli und die ganze Nacht hindurch abspielte, ist eine genaue Wiederholung des Pogroms an der gleichen Stelle im Jahre 1932. Die Akteure waren die gleichen; SA und Hitlerbengels, die Kommandeure waren ebenfalls die gleichen: die Führer der NSDAP . Die dummen Lügen der braunen Behörden, die sich auf unverantwortliche Elemente herausreden, sind ebenfalls die gleichen, die die braunen Oberbonzen im Jahr? 1932 vor Gericht vorbrachten; feig, aber zynisch verlogen. Ueber die planmäßige Vorbereit u n g dieses Pogroms besteht nicht der mindeste Zweifel. Berlin wurde bisher von den noch in Deutschland befindlichen Juden als der relativ sicherste und freieste Ort in Deutschland angesehen. Sie müssen auch in Berlin wie im Ghetto leben, aber man ließ sie bisher wenigstens leben. Die Folge war, daß Juden, die in der Provinz an Leib und Leben bedroht wurden, nach Berlin flüchteten, wenn sie
nur irgend die Mittel dazu besaßen. Der haßerfüllte Antisemitismus jener Führergruppe der Nazis, der der primitive Judenhaß über alles geht, hat darum seit langem eine antisemitische Welle in Berlin vorbereitet Zu dieser Gruppe gehören Streicher, Rosenberg, aber auch Hitler selbst. Streicher hat mit Zustimmung Hitlers eine FUiale seiner Schandzeitung»Der Stürmer « und seiner antisemitischen Aktivität nach Berlin verlegt Er hat mit kleineren Pogromversuchen angefangen, bald in Neukölln, bald anderwärts. Er hat dabei die offene Duldung der Behörden gehabt. Bald hat er bei seinem Versuch, Nürnberger Zustände in Berlin einzuführen, die Hilfe der gesamten nationalsozialistischen Presse gefunden. Wir zitieren nur zwei Beispiele, um die systematische Vorbereitung zu zeigen. Im »W estdeutschen Beobachter« hieß es vor einigen Tagen: »Fremde, die unser Land besuchen, sind entzückt von der Ordnung, Sicherheit und Ruhe, die im neuen Deutschland herrscht. Bei
uns wird niemandem ein Haar gekrümmt... Ein Gang durch die Straßen«bezeugt das... Auf den Caföterrassen wimmelt es von Juden, und es gibt niemand, der sie auch nur beachtet....< Im Berliner »Völkischen Beobachter« aber, dem Organ Rosenbergs, stand am Morgen des 15. Juli: »In einem Berliner Lichtspielhaus läuft zur Zeit der schwedische Tonfilm»Petterson und Bendel«, ein ausgezeichneter Bildstreifen, der in lebensechtem Ablauf den Wesensunterschied zwischen Ariertum und Judentum darstellt. Als erster ausländischer Film erhielt »Petterson und Bendel« durch die amtliche deutsche Filmprüfstelle das höchste Prädikat: staatspolitisch wertvoll. Gelegentlich der Uraufführung ereigneten sich, hervorgerufen durch eine große, scheinbar organisierte Anzahl jüdischer Besucher Zwischenfälle, die eine deutliche Sprache reden. Wenn sich auch die jüdischen Frechheiten wohlweislich im Rahmen der Dunkelheit während der Vorstellung hielten, beweisen sie doch ganz besonders im Hinblick auf