Nr. 232 BEILAGE
IkKcIIocnmrfs
2 1. November 1 95?
Die Hauptmann-Legende
Die Besten und Menschlichsten jener Generation, die in ihrer Jugend von Ger  - hart Hauptmann empfingen und seinen Aufstieg erlebten, mußten ihn 1933 in die Wolfsschlucht werfen. Es war ein tra­gisches Intermezzo, weniger für den Dich­ter als für diese Generation, die für an­dere Generationen wieder einmal die Er­kenntnis durchleiden mußten, wieviel grö­ßer oft ein mittleres Werk ist als sein Schöpfer, und wie rasch das Wort zur Phrase, wie elend ein scheinbar Großer zum Zv/erg werden kann, wenn er von der Ge­schichte vor die praktischen, Konsequenzen seines Schaffens gestellt wird. Schon darum gehört Hauptmanns 75. Geburtstag zu den traurigen Komödien un­serer Tage. Die Naziblätter behandelten ihn mit geringschätziger Reserve, einige Thea­ter schwangen sich dazu auf, dies oder jenes Stück von ihm auf den Spielplan zu setzen, gleichgeschaltete Blätter benutzten das Jubiläum zu Unden Meckereien für Dichtungen der Menschlichkeit und liberale deutschsprachige Blätter des Auslandes wußten sich nicht anders zu helfen, als mit klischeehaften Festartikeln, die am Fall Hauptmann, der einem Sündenfall gleicht, hartnäckig vorübersahen. In diesen Feuilletons ist Gerhart Haupt­ mann   eine Verkörperung des»Doppel­gestims der Güte und des Genies«. Oder, wie es in der»Frankfurter Zeitung  « heißt: »... der Vulkan mit den lachenden, ewig sonnigen Gefilden der größten menschlichenGütezu seinen Füßen und um sein Herz...« Eine Gestalt, die der edelsten, der bereitesten Freundschaft fäl ig ist und huldigt...(F. Z. 13. Nov.) Herrliche Feuilletonphrasen. In Wirklich­keit war der Dichter der Güte nie einer wirklichen Freundschaft fähig, ist er nie für andere eingetreten, hat Freundschafts­dienste mit großer Begeisterung hingenom­men, um sie später mit krassem Undank zu vergelten. Sein literarischer Werdegang, begann, als er auf Arno Holz   stieß. Der hat ihn naturalistisch sehen, hat ihn dra- 1 matisches Handwerk gelehrt. Als Holz, dem| Genius seiner Jugend treu bleibend, ein Jahrzehnt lang bitterste Not litt, rührte sich der»Vulkan der größten menschlichen| Güte« nicht. Man sammelte für Arno Holz   der reichgewordene Hauptmann war einer der armseligsten Spender. Von seiner kalten Geschäftstüchtigkeit wissen Künst­ler und Theaterleute ein groteskes üed zu singen. Gern nahm er die Hilfe jüdischer Freunde an und bekannte sich prompt zum Antisemitismus, als dieser neudeutsche Staatsraison geworden. Alfred Kerrs wert­volle Feder blieb Hauptmanns Schaffen treu durch dick und dünn. Der bedachte ihn dafür mit mancherlei Zeichen dank­barer, freundschaftlicher Zuneigung, um ihn prompt zu verleugnen und zu verraten, als das braune Unglück über Deutschland  hereinbrach. So viel über den treuen, güti­gen Menschen Hauptmann. Daß er so aus­sieht, ist nach seinem Sündenfalle beinahe ein Trost. Wenn ein kalter Egoist sich aus sehr geschäftsmäßigen Erwägungen der Barbarei gleichschaltet, so raubt das nicht den Glauben an das Menschlichste und bleibt darum erheblich erträglicher, als wenn etwa menschliche Güte derart schmählich kapitulierte. Aber man soll ja wohl den Künstler nicht nach seinem Charakter und seinem Leben beurteilen, sondern nach seinen Werken. Was bleibt da auf die Dauer? Hauptmann hat in seiner jäh anstei­genden naturalistischen Sturm- und Drangperiode einiges Starke geschaf­fen. Er hat von Ibsens   Naturalismus pro­fitiert, er darf immerhin gelten als einer der ersten, die auf der deutschen Bühne reaüstische Charakterzeichnung auf die Beine stellte. Ein Verdienst in einer Zeit, da Wildenhruch und Sudermann sich auf den Brettern breitmachten. Von den»We­bern« bis zur»Rose Bernde packen in sei­nen naturaüstischen Dramen fast alle Hauptgestalten durch das rote Blut natürlichen Lebens und harter Schick­sale, die an das Menschlichste im Zuschauer rühren. Selten jedoch erhebt sich der Dichter über die Zustandsschilde- rung, nirgends schimmert tiefere soziale oder politische Erkenntnis auf. Die»We­ber« schliddern in blutigen Aufstand hinein, die Zusammenhänge zwischen ihrer
Not und der herrschenden Gesellschafts­ordnung gehen weder ihnen noch ihrem Dichter auf. Hauptmanns Schwäche beruht darin, daß ihm jeder Ansatz zu einer geschlosse­nen Weltanschauung fehlt. Kein Wunder in einem Lande, in dem unpolitische Denk­art als Talentbeweis eines Künstlers aus­posaunt wurde und das Bürgertum von der offiziösen poütischen Lebenslüge lebte. Selbst ein Wedekind kam über die Rebel­lion gegen die bürgerliche Liebesmoral nicht hinaus. Und das war immerhin ein kämpferisches Temperament, der Dichter des»Hannele« war es nie. Rasch, allzu rasch, glitt seine Entwicklung in märchen­hafter Romantik und nebulose Phantastik hinein. Das verblasenste seiner Märchen­dramen war»Pippa tanzt«. Schon damals traf auf ihn zu, was Franz Mehring   1908 nach der Uraufführung von»Kaiser Karls Geisel« schrieb: »Wenn anders dies Talent, um in seinem eigenen Märchenstil zu sprechen, nicht durch den Blick einer bösen Fee gelähmt worden ist, so ist es gänzlich erschöpft; der Strom ist völlig im Sande verronnen, während der Dichter noch in einem Lebensalter steht, das große Talente erst auf der vollen Höhe ihrer Schaffenskraft zu sehen pflegt.« Von seinem Alterswerk»Vor Sonnen­ untergang  « abgesehen, ist er aus dieser ro­mantischen Versponnenheit nicht mehr recht herausgekommen. Im besten Mannes­alter entwich er in die Romantik wie die Mehrzahl der deutschen   Wähler 1933 in die politische Romantik flüchtete. In beiden Fällen glich die Flucht einem Bankrott, in beiden Fällen handelte es sich um Flucht vor der harten Wirklichkeit und vor Verantwortung in höchstem Sinne des Wortes. Wie bei Ibsen, so läßt das Dritte Reich auch bei Gerhart Hauptmann   am ehesten seine historischen und seine Mär­chendramen gelten. Er könnte heute Staatsrat sein, wenn er nicht seit 1918 der Demokratie seine besondere Referenz er­wiesen hätte, wie er sie dem Dritten Reich  seit dem 5. März erwies.»Nu nee nee, nu ju ju«, um mit dem Weber Ansorge zu sprechen. Der Dichter der»Weber« ist ebenso sehr Schuldiger wie Opfer. Trauriges Opfer des wilhelminischen Systems, dem der Schein mehr galt als das Sein, das po­litisch und moraüsch alle Elemente des
Dritten Reiches   im Keime aufwies und sein Wegbereiter wurde. Mit Hauptmanns Ta­lent ist Schindluder getrieben worden, von ihm und von anderen. Er war im Grunde nie ein Dramatiker, sondern ein lyrischer Poet, ein Epiker mit stark lyrischen Schwingungen. Die Handlung seiner Dra­men ist meist schwach, die Charakter­zeichnung alles. Aber im Deutschland   von 1900 brauchte man neue Götzen, vor allem auf literarischem Gebiet Ringsum in der Welt brandete künstlerischer Sturm und Drang  , und Wilhelms»Deutschland   in der Welt voran« sollte zurückbleiben? Das offi­ziöse Deutschland   um 1890 hatte seine »Weber«, seinen»Biberpelz  « nicht tot­schweigen können, das um 1900 blies ihn zum Genie auf. Er wurde Objekt literari­schen Großbetriebes. Ein anfangs hoff­nungsvolles Talent sollte zum literarischen Führer, zum Neuerer und Reformator auf­geblasen werden. Das war er nie. An dieser Großlüge, nicht die einzige unterm Wilhel­ minismus  , ist er gestorben. Man blähte sein Talent bis zum Platzen, wie man heute drüben elende Nullen aufbläht, um den Schein der Kultur, der Gemordeten, zu wahren und mit Dingen zu prunken, die nicht da sind. Die das Debakel frühzeitig erkannten, wurden niedergebrüllt. Der demokratische Frankfurter   Literaturhistoriker und Theaterkritiker Fedor Mamroth   wies nach 1900 immer wieder auf das Halbe, Müde und Erborgte der Hauptmannschen Ideenwelt hin. Sein Urteil war dasselbe wie das Franz Mehrings in jenem Artikel von 1908; »Mäßige Talente, wie Hauptmann immer nur eins gewesen ist, bedürfen vor allem der Selbstkritik, und an seinem frühzeitigen Ende als Dichter trägt die Clique, die ihm mit jedem Mittel der Reklame einen töner­nen Ruhm fabrizierte, einen großen Teil der Schuld. Hätte er ihren Lockungen zu wider­stehen gewußt, so wären ihm glücklichere Lose gefallen, aber dazu gehört eben ein großer Dichter, der in seiner Weise immer auch ein großer Charakter ist.« Zum großen Dichter fehlt ihm die Ge­schlossenheit einer Weltanschauung, wie sie um in seiner Zeit zu bleiben ein Zola   oder ein Ibsen aufwies. Der Zerrissen­heit und Halbheit seines wilhelminischen Weltbildes entsprach die Zerrissenheit und
Lauheit seines Charakters. Seine Freunde haben manche Erklärung für seinen Ver­fall gesucht. Der Geschäftsbetrieb, die Frau, das ungeheuerliche Geldbedürfnis, der Alkohol. Aber sein Alkoholismus ist Folge, nicht Ursache. Folge eines Ban­krotts, Betäubung schlechten Gewissens, Flucht aus der Wirklichkeit in die Illusion. Da er ein schwacher Charakter ist, hat ihm immer Aufrichtigkeit gefehlt, Aufrichtig­keit gegen sich'-selbst. In der D. A. Z.(14. Nov.) schildert ein Maler, wie er den Dich­ter zeichnete und welch weise Bemerkun­gen dieser dabei von sich gab;»Dann aber seien Sie wahr vor sich selbst, erhalten Sie die Ihnen eigene Art, Ihren Stil. Menschen, die ihren Stil nicht pflegen, sind innerlich unsicher.« Richtig, nur sprach er sich da­mit selbst das Urteil. Sein»Stil« bewegt sich im Zickzack zwischen Naturalismus und schwächlicher Romantik. Die Repubük, Ergebnis eines Zusammenbruchs, über­nahm einen ausgehöhlten Götzen und trat auch damit eine bittere Erbschaft des Wilhelminismus an. Als er 1933 beflissen das Hakenkreuz hißte, gab es in der Naziwelt höhnische Heiterkeit. Was sollte sie mit diesem alten verbrauchten Manne, mit seiner Vergan­genheit, seinen Humanitätsgesten anfan­gen? Heuchler hatten sie genug auf Lager, aufpumpen konnten sie auch selber. Johst hatte zwar auch(noch dazu in Pfemferts Aktion) als Pazifist, Defaitist und Novem­berverbrecher begonnen, immerhin jedoch vollzog er seine Schwenkung beizeiten, kam mit dem Ludergeruch eines Barbarismus, der einem Hauptmann nie geglaubt worden wäre. Und so charakterlos, wie die Kunst­götzen des Dritten Reichs sein mußten, hätte er trotz allem nie sein können. Er ahnte wohl nicht ganz, was los war, ihm schien eine Restauration des Wilhelminis­mus zu dämmern, aber der war nur Vor­läufer, Anfang einer Götzendämmerung was jetzt kam, war Nacht, Ende, ein Ende mit Schrecken, mit weißem Schrecken. Auch für Gerhart Hauptmann  . Nur die Hauptmannlegende lebt ge­dämpft weiter, wie etüche Jubiläums­artikel bewiesen. Ein Schulfall dafür, wie zählebig Legenden sein können in einer Welt, in der äußerer Erfolg alles gilt und Leistungstüchtigkeit von einem aufgeblase­nem Gu'mmiball verdrängt werden darf. Karl Rothe  .
Vom Welmismus zum Dritten Reich
Heute feiert die»Frankfurter Zei­ tung  « krampfhaft Gerhart Hauptmann  Am 31. Januar 1903 zeichnete in der »Frankfurter Zeitung  « Fedor Mam­ roth   den wahren Hauptmann mit fol­genden Worten: »Doch genug von der Dichtung(»Armer Heinrich  «) von der wir gar nicht so einge­hend sprechen wollten. Wenn sie ihren Rundgang über die deutschen   Bühnen zu­rückgelegt hat, wird sie nur noch die Haupt­mann-Forscher beschäftigen. Sie kommt ge­räuschvoll und versinkt spurlos, wie so zahl­reiche andere Arbeiten des Autors, freilich ohne seinem Ruhm auch nur im geringsten zu schaden. Denn niemals zuvor hat einer der Prinzen aus dem Genieland seinem Volke einen so unerschütterlichen Kredit besessen, wie der schlesische Poet, und für dieses im­mer größer werdende Mißverhältnis zwischen Geltung und Leistung eine Erklärung zu fin­den, scheint uns heute wichtiger, als über die jüßtöne im»Armen Heinrich« noch welter zu meditieren. m Gerhart Hauptmann   ist ein Dichter, wir räumen es ohneweiteres ein, aber ist er, wie es doch sein Ruf verlangte, ein Dichter aus erster Hand' Als er in die Uteratur eintrat, r�Tn originaler Geist. Nicht bloß, weil der Naturalismus an sich keinen Zusammen­hang braucht mit irgend einer Tradition und weil er, nur von sinnlichen Wahrnehmungen lebend, jederzeit das Gemein-WirkUche dar­zustellen vermag, sondern auch deshalb, weil Hauptmann damals im ersten Anfang seiner geistigen Entwicklung stand. Seine Originali­tät war eine Art literarischer Unbeflecktheit. . Die Zeit des Gärens, des Sammeins, des Ver- gleichens, des Lernens, die jeder Schaffende
durchzumachen hat, bevor er in die Oeffent- lichkeit tritt, begann für ihn erst in dem Augenblicke, da er bereits entdeckt, gefeiert, berühmt war. Da, mit einem Male erkannte er, daß ein Erfolg, wenn er Dauer haben solle, Pflichten auferlege, und mit löblichem Eifer ging er daran, den Zusammenhang mit der Literatur von gestern für seine Person her­zustellen. Er fing an, zu lesen, sich in die großen Dichter und Denker, die er, weil er sie nicht recht kannte, wohl geringgeschätzt hatte, zu vertiefen; er sammelte Eindrücke, und wo diese auf seine weiche Empfänglich­keit besonders stark wirkten, reflektierte er sie unwillkürlich in den Werken, die die un­geduldige Erwartung seiner Entdecker und der eigene Wunsch, nicht in Vergessenheit zu geraten, in bestimmten Zeiträumen von ihm verlangte. Er lernte Ibsen   kennen, Goethe, Kleist, die Romantiker, Shakespeare  , Richard Wagner   und so weiter; und nicht etwa bloß Reminiszenzen aus ihren Werken weben sich in seine Arbeiten, sondern der Geist dieser Geister blickt' ihm, wenn er in all den Jahren sinnt und schreibt, einer nach dem andern, und wie zufällig, über die Schulter. Jede sei­ner Gestalten jene ausgenommen, die die Wirkllciikeit ihm zeigt, und mehr noch alles Geistige(denn die Wirklichkeit hat keinen Geist) kommt uns bekannt vor, weil wir uns der Menschen und ihrer Art von frü­heren Dichtungen entsinnen. Und so sehen wir denn, wie dieser gefeierte Mann, der die Vierzig bereits überschritten hat, sich immer noch und beständig bildet, wie er bald nach dieser, bald nach jener Stütze greift und wie er die verschiedenartigsten und entgegenge­setzten Stile, gleichsam sich selber suchend, vornimmt, studiert und anwendet.
Das begreifliche Begehren nach der stärk­sten Resonanz hat Hauptmann, der, nach manchen Proben zu schließen, ein gemüts­tiefer Lyriker, vermutlich auch ein Epiker ist, ans Theater gefesselt. Das Merkwürdige dabei ist, er schreibt konsequent für die Büh­ne und ist doch kein Dramatiker, Er weiß ne und ist doch kein Dramatiker. Er weiß Beobachtungen wiederzugeben, er weiß Stim­mungen hervorzubringen, oder die Seele der Bühne, das eigentlich Dramatisohe, ist ihm verschlossen. Die größten Geister haben es nicht verschmäht, über die Technik des Thea­ters, wie sie von den feinen Köpfen aller Kulturvölker seit zwei Jahrhunderten ge­schaffen wurde, nachzudenken, ihre Forde­rungen zu ergründen und sich ihnen anzupas­sen. Für Hauptmann haben diese Forderun­gen keine Geltung, weil er im bisherigen Lauf seiner Entwicklung noch nicht Zeit ge­funden hat, sich mit ihnen vertraut zu ma­chen. Er legt sich seine eigene Technik zu­recht, und da er nicht nötig hat, sich nach einem Theater zu richten, bleibt dem Theater nichts übrig, als sich nach ihm zu richten. Und sein Prestige, die Verwirrung der Be­griffe und die Angst vieler, für ungebildet zu gelten, ist so groß, daß alle Verfehlungen, Hilflosigkeiten und Mißgriffe, die in Haupt­manns Stücken zu finden sind, als Offen­barungen eines Genies gepriesen werden, dag der Welt neue Bahnen erschließt. Im letzten Betracht ist die überragende Größe Gerhart Hauptmanns   auch historisch­politisch zu erklären. Die Gesetze, nach denen sich die Welt entwickelt, sind uns all­mählich deutlicher geworden. Wir wissen jetzt: nicht die großen Männer machen die Weltgeschichte, sondern die Weltgeschichte