Beilage zum„Vorwärts" Berliner Volksblatt.Nr. 105.Mittwoch, den 9. Mai 1894.11. Jahrg.Tulmles.Der AuSschich des Gewerbcgcrichts für Gutachten undAnträge bezüglich gewerblicher Fragen hatte am 24. Oktober 1893über einen Antrag der Arbeitgeberbeisitzer zu beraihen, welcherbezweckte, vom Bundesrath die Regelung gesundheitsschädlicherArbeitszeiten in einzelnen Gewerben(Schlächter, Gastwirths-angestellte, Schneider und Handels-Hilfsarbeiter) auf grund desZ 1206 der Gewerbe-Ordnung zu fordern. Seitdem sind mehrals 6 Monate verflossen, ohne daß diejenigen Kommissions-Mitglieder zu einer Berichterstattung veranlaßt wurden, welcheim Verfolg der Beschlüsse jener Sitzung Erhebungen über dieVerhältnisse in den betreffenden Berufen anstellten. Die Arbeit-nehmer-Beisitzer glauben aus diesem Umstand entnehmen zumüssen, daß die Antragsteller ihren Antrag zurückgezogen haben;sie haben deshalb folgenden Antrag ihrerseits eingebracht, der innächster Zeit den Ausschuß beschäftigen wird:„In Gemäßheit des§ 85 des Ortsstatuts für das Gewerbe-gerichl hiesiger Stadt beantragen die unterzeichneten Gewerbe-gerichts-Veisitzer, beschließen zu wollen, daß der in der offiziellenSitzung des Ausschusses vom 24. Oktober 1893 behandelte, vonArbeitgeberbeisitzern gestellte Antrag, die Regelung der gesundheits-schädlichen Arbeitszeiten betreffend, zur Zlussührung gelacht."Herr Bolle und die Berliner Armcndircktion. HerrBolle, der Berliner Milch-Großhändler, der Kirchenglocken stntetund seine„Untergebenen" zu strenger Kirchenzucht anhält, dessenecht„patriarchalische"(Zucht-)Hausordnung die Bewunderungjedes Bourgeois erregt, hat einen neuen Triumph zu verzeichnen.Seit Jahren verlangten die Berliner Aerzte, daß die Vortheileder sterilisirten(keimfrei gemachten) Milch auch derärmeren Bevölkerung zugänglich gemacht würden, umin den heißen Sommermonaten die Zersetzung der Milchzu verhüten und damit dem Hauptfaktor der enormenBerliner Säuglingssterblichkeit, dem Brechdurchfall wirksamzu begegnen. Endlich, nachdem andere Städte voran«gegangen, entschlossen sich die Berliner Stadtväter in diesemJahre einen Versuch mit der Gewährung sterilisirter Milch andie von der Stadt unterstützten Armen zu machen. Es wurdeeine engere Submission unter vier bekannten Milchfirmen ausgeschrieben und diese hat das überraschende Resultat, daß dieAngebote zwischen 45 und 20 Pf. pro Liter keimfreier Milchschwankten. Während die Preise bei den drei zur Submissionzugelassenen Milchwirthschaften sich zwischen 45 und 30 Pf.bewegten— wobei dieselben noch ausdrücklich zu erklären nicht unterließen, daß sie für diese Preisenicht die beste von ihnen produzirte Milch zu liesern im ständeseien, erklärte der Großkaufmann Bolle,„aus Mitgefühl für dieArmen" es für 20 Pf. verkaufen zu wolle».Vergebens erhoben die ärztlichen Beralher der Armendirektionenergischen Widerspruch gegen den Vorschlag des Magistrats-Vertreters, dem Billigsten den Zuschlag zu ertheilen und ver-langten die Niederse'tzung einer Kommission zur Prüfung derAngebote. Vergebens wiesen sie darauf hin, daß Herr Bolleselbst gar keine Milch produzire, sondern nur Händler sei, derüberall Milch auskaufe und zwar bis zu dem Preise von 8 Pf.pro Liter herab, die zusammengekaufte Waare mische undweiter verarbeite; daß die Qualität der angebotene»Milch nicht für den beabsichtigten Zweck genügen könne,wie schon daraus hervorgehe, daß Bolle selbst für seine Privatkünden eine sog. Säuglingsmilch mit 35 Pf. pro Liter unslerilisirtin den Handel bringe; daß es mindestens so sehr, wie auf dieKeimfreiheit, auf die Fütterung der Milchkühe, auf die Qualitätder zu liefernden Säuglingsnahrung ankomme. Die Majoritätdes Kollegiums lehnte jede weitere Untersuchung der angebotenenMilchsortsn ab, hielt die 20 Pf.-Milch für gut genug für dieArmen und übertrug Herrn Bolle, der ja nur aus Barmherzig-kcit so wenig fordere. die Lieferung. Und so hates die Berliner Stadtverwaltung wiedereinmal fertig gebracht, den Armen eineaußerordentliche Wohlthat zu erweisen, ohnees sich einen Pfennig kosten zu lassen. Die Armenaber, wenn ihre Kinder der Würgengel Brechdurchfall in diesemJahr fortraffen sollte, wie in den früheren, die Armenärzte,wenn sie ihre Pfleglinge mit dem sterilisirten 20 Pfennig-Bolleebenso wenig vor dem tückischen Feind sollten schützen könnenwie in den Vorjabren mit dem nicht sterilen 20 Pfennig-Bolle,werden sicherlich einen Hymnus anstimmen auf die weise Spar-samkeit unserer gottesfürchtigen Stadtväter, die für Schloßpro«jekte Millionen übrig hat, für das Kind des Armen nur einen—Bolle.Mit dem Bau der elektrischen Bahn Pankow-Gesund«brunnen ist nunmehr von der �Firma Siemens und Halske be-gönnen worden.Sämmtliche Arbeiter der chemischen Fabrik vontknhnheim u. Komp. in Nieder>Schönweide(zirka 700 Mannhaben am Montag Nachmittag 1 Uhr e i n m ü t h i g dieArbeit niedergelegt. In einer am 30. April im großenSaale der„Borussia-Brauerei" abgehaltenen Versammlung hattensie nach eingehender Besprechung ihrer Lohn- und Arbeits-Verhältnisse in 6 Punkten ihre Forderungen an die Fabrikleitungzusammengefaßt und durch eine Kommission dieser unterbreitenlassen. In einer weiteren Versammlung, die am 5. Mai in dem-selben Lokal stattfand, erstattete die Kommission über die mit derFabrikleitung gepflogenen Unterredung Bericht.(Siehe Ver-sammlungsbericht in der Dienstagsnummer des„Vorwärts".) DieArbeiter wollten sich durch die Ausrede des Direktors Heidenreich,daß K u h n h e i m erst am Donnerstag vor Pfingsten von einerErholungsreise zurückkehre und sie sich so lange geduldigenmöchten, nicht länger vertrösten lassen und verließen, wie obenberichtet, nach und nach bis zum letzten die Fabrik. Auch dieTischler. Schmiede, Schloffer und Siohrleger schloffen sich demStreik an, woraus auch die Heizer das Feuer unter den Dampf-kesseln hervorzogen und mit ihren Arbeitsbrüdern gemeinsameSache machten. Der von der Direktion benachrichtigte Amts-Vorsteher v. Oppen erschien sofort per Wagen in Begleitungeiniger Gemeindediener und nach ihm noch zirka 20 tele-graphisch aus den benachbarten Ortschaften herbei-gerufene Gendarmen. Herr v. Oppen sprach sich, ehe erdas Gehöft der Fabrik betrat, sehr anerkennend über diewürdevolle Ruhe der in einem kleinen Gehölz vor derFabrik sich lagernden Streikenden aus und erkundigte sich danneingehend nach den Lohn- und Arbeitsverhältnissen und der Artder aufgestellten Forderungen, die er als sehr bescheiden be-zeichnete, so daß zu erwarten stehe, Herr Kuhn heim werdedenselben keinen großen Widerstand entgegensetzen. Er ermahntedes Weiteren die Feiernden zur Aufrechterhaltung der Ruhe undOrdnung und gestattete ihnen, sich am anderen Tage(Dienstag)Mittags 1 Uhr wieder in demselben Gehölz zu versammeln, umdas Resultat einer nochmaligen Konserenz mit der Fabrikleitungaus dem Munde der von ihnen gewählten Kommission entgegenzu nehmen.Die Ruhe und Ordnung ist denn auch bisher in keinerWeise von den Streikenden gestört worden; die Gen-darmen benehmen sich ihnen gegenüber in anerkennens-werther, sehr anständiger Weise. Ueberhaupt ist dievon Jedem, der die schmutzige, schlecht gelohnte Arbeit in dieserFabrik kennt, ganz und gar auf Seite der Streikenden.— In-zwischen ist auch der Chef der Firma, Herr K u h n h e i m. inBerlin wieder angelangt und hat am Dienstag an der um dieMittagsstunde abgehaltenen Konferenz theilgenommen. Außerihm waren seitens der Fabrikleitung noch zugegen: DirektorHeiden reich, Prokurist Birkner, Inspektor Mill-bradt und die Chemiker Dr. D u l k und Dr.Lange. Die Streikenden waren durch ihre Kollegen Neuen-dorf. Deck, Meißner, Lieger und T h i m m vertreten. DieUnterredung dauerte nur eine gute halbe Stunde. Wohl erkannteHerr K u h n h e i in an, daß ein Lohn von 15 M. pro Wochenicht ausreiche, um eine Familie ehrlich durch die Welt zubringen, doch— bei einiger Anstrengung ließe sich im Akkordund durch Ueberstunden auch ein höherer Lohn erzielen. AlsTypus eines Fabrikanten setzte er sich aufs hohe Roß und lehnteselbstverständlich eine Bewilligung der Forderungen rundwegab, höchstens will er bessere Wascheinrichtungen und Koch-einrichtungen herstellen lassen. Von einer auch noch so mini-malen Lohnerhöhung, von einer wöchentlichen Lohnauszahlung odergar einer Beschränkung der Sonntagsarbeit aus den Vormittagwill er absolut nichts wisse». Er präzisirte seinen Standpunktdahin: finden sich genügend Arbeitskräste zu denbisherigen Bedingungen am Mittwoch früh ein, dann geht derBetrieb weiter, andernfalls lasse er ihn bis Mittwoch nach demFest ruhen; bis dahin glaube er, würden die Streikenden wohlmürbe sein. Die Bekanntmachung dieses seines„letzten Willens"rief begreiflicher Weise große Erregung unter den vielen hun-derten Streikenden hervor, an ein Fallenlassen ihrer Forderungist nicht zu denken. Neuendorf theilte mit, daß sich diegewählte Kommission vorläufig als Slreikleiter betrachte undihren Sitz in Nieder-Schönweide, Grünauerstr. 4, im Mehl- undVorkostgeschäst von T h i m m habe. Die nächste Versammlungder Streikenden findet Mittwoch, den 9., Nachmittags 4 Uhr, inder Borussia-Brauerei statt. An demselben Tage Abends 8 Uhrwird sich bereits eine öffentliche Volksversammlung in Köpenick(Wilhelmsgarten) mit der Stellungnahme zu dem Streik derKuhnheim'schcn Arbeiter befassen.Gleich tragisch in seiner Veranlaffung, wie in der Aus«sührung ist ein Selbstmord, den der amtliche Polizeiberichtvon gestern mit den trockenen Worten:„Auf dem Kirchhofe derDreifaltigkeitsgemcinde, Bergmannstr. 39/41, erschoß sich Nach-mittags ein Mann am Grabe seiner Mutler", meldet. Wie sichjetzt herausgestellt hat, handelt es sich um den 30jährigen Kan-didaten der Philosophie, Georg H., der bei seinem Vater, demMagistrats-Sekretär H. in der Mittenwalderstraße wohnte. Vorzwei Jahren verlor er die Mutter durch den Tod, und er be-zeugte seine Kindesliebe dadurch, daß er oft aus dem Grabe derDahingeschiedenen inbrünstig betete. Die Trennung von der Mutter,welch letztere der junge H. in der Häuslichkeit täglich vouNeuem vermißte, ließen in ihm nach und nach Selbstmordgedankenaufkommen, die er endlich am Sonntag Nachmittag zu ver-wirklichen beschloß. Kurz vor 2 Uhr erschien er aus dem Drei-faltigkeits-Kirchhofe und begab sich sogleich in die dortigeGärtnerei, um lose Blumen auszuwählen. Als man ihm für denselbstausgesuchten Grabesschnmck eine Mark abverlangte, fügte ernoch weitere Blumen hinzu, indem er bemerkte, daß esaus den Preis nicht ankomme. Die duftenden Spendentrug er nach dem Grabhügel, unter dem seineMutter ruht und bestreute damit das aus der Ruhestätteliegende Kreuz mit zitternden Händen. Dann nahm er auf einerneben dem Grabe aufgestellten Ruhebank Platz und verharrtekurze Zeit in stillem Gebete. Plötzlich zog er einen Revolver ausder Tasche und richtete die Mündung in den Mund. AlsFriedhofsarbeiier auf den Knall des Schusses hiuzueilten, fandensie den jungen Mann als Leiche auf: das Geschoß war durchdie linke Schläfe aus dem Kopfe wieder herausgegangen.Die Eröffnung der Ausstellung Italien in Berlinfindet am Donnerstag Nachmittag um 2 Uhr statt. Vorher erfolgteine Besichtigung seitens der Behörden:c.Selbstmord. Als gestern früh der um S Uhr den BahnhofZoologischer Garten pasfirende Rummelsburger Stadtbahnzugfällig war, sprang ein anscheinend dem Arbeiterstande angehörigerMann in selbstmörderischer Absicht vor die Maschine gerade in demMoment, als der Zug in die Bahnhofshalle einfuhr; er wurde,da ihm die Räder über die Brust gingen, sofort gelödtet. DiePerson des etwa 40jährigen Selbstmörders, dessen Leiche nachdem Charlottenburger Schauhause gebracht wurde, konnte nochnicht festgestellt werden, da keinerlei Papiere bei dem Selbst-mörder vorgefunden wurde», sondern nur ein Portemonnaie mit75 Pf. Inhalt und eine leere Schnapsflasche.Ertrunken ist am Montag Vormittag um HVeUhr an derMoabiterbrücke der Arbeiter Zobel aus der Hochstr. 29a. Erwar bei dem Bau der Brücke beschäftigt, als ihm ein Brettentfiel, das er mittels eines Kahnes auffischen wollte. Dabeiverlor er das Gleichgewicht und fiel in das Wasser. Die Leichewurde eine Stunde später aufgefunden.Ei» nichtswürdiger Verbrecher ist in der Person desStubenmalers Kradetzki am letzten Montag dem Landgericht IIübergeben worden. K. befand sich am vergangenen Sonnabendauf dem Wege von Tempelhof nach Südende und passirte kurzhinter der ersteren Ortschaft eine Wiese, auf welcher zwei Mädchenim Alter von 13 resp. 14 Jahren spielten. Der Maler rief dieKinder barsch an und erklärte, indem er sich als Besitzer derWiese ausgab, das ältere Mädchen wegen unerlaubten Blumen-pfiückens für verhaftet. Das eingeschüchterte Kind folgte demfremden Manne auch gutwillig, während das jüngere Mädchennach Tempelhof zurücklief und den Vorfall erzählte. EineAnzahl dortiger Bewohner machte sich sofort auf, umden„Besitzer der Wiese" zu ermitteln, und nach kurzerZeit bereits wurde derselbe hinter einem Gebüsch gefunden.Der nichtswürdige Bursche kniete auf der Brust des sich ver-zweifelt wehrenden Mädchens, welches bereits halb erwürgt war,um es zu vergewaltigen. K. wurde sofort verhaftet.Der Leichenzug, der sich zur Beerdigung von RudolfHertzog nach der Liescnstraße bewegte, hat einen schweren Unfallzuwege gebracht. An der Ecke der Chaussee- und Invaliden-straße hielt ein Kohlenwagen, den der 16 Jahre alte Arbeits-bursche Wilhelm Jnensch aus der Pallisadenstraße 31 bestiegenH«tte, um das Trauergefolge übersehen zu können. Durch dengroßen Andrang der Menschenmassen wurden die Pferde un-ruhig und zogen an. Jänsch fiel infolge des plötzlichen Ruckesrücklings über mit dem Kopf auf das Straßenpflaster, erlitt eineschwere Gehirnerschütterung und mußte nach einem Krankenhausegebracht werden.— Uebrigens war der durch den Zug gehemmteVerkehr erst zwei Stunden später wieder in dem alten Geleise.Ein Theil der der Leiche solgenden Wagen war so eingekeilt.daß die Insassen auf dem Friedhofe erst erschienen, ais dieFeierlichkeit zu Ende war.Der Tod des Bankiers Maast aus Charlottenburg, derbekanntlich aus dem Gefängniß Plötzensee entlassenwurde, weil Gefahr für sein Leben vorhanden gewesen, lenkt, daes sich um einen Bankier und nicht um einen die„gesellschaftAufmerksamkeit der bürgerlichen Presse auf die einschlägige ge-setzliche Bestimmung. In der Praxis erweist sich diese Bestim-mung als völlig unzureichend, da in den meisten Fällen derEntlassung von leidenden Gefangenen, selbst wenn ärztliche Gut-achten vorliegen, große Schwierigkeiten entgegengesetzt werden,so daß es als ein Glück betrachtet werden kan», wenn solch'Jnternirte noch lebend die Freiheit wieder erlangen. Es sollin der Absicht der Justizverwaltung liegen, eine mildere Praxisin dieser Beziehung einzuführen. Man glaubt, das Richtige zutreffen, indem man in gewissen Fällen die Entlassung von derHinterlegung einer den Verhältnissen des Jnhaftirten resp. dessenFamilie angemessenen Kaution abhängig machen will. Die„Polem. Korresp." bezweifelt die Richtigkeit der von ihr selbstverbreiteten Meldung in der vorstehenden Fassung.Zwei„Natnrärzte" haben in dem nahen Johannisthaleinen argen Schwindel getrieben, welcher dieser Tage durch Denun-ziation bei der Staatsanwaltschaft des köuigl. Landgerichts IIentdeckt wurde und zur Verhaftung des Buchbinders Max Wendtund des Kaufmanns Haus Nehrig führt«. Die beiden„Sozien"hatten sich in dem obenerwähnten Vorort eine aus Stubeund Küche bestehende Wohnung gemiethet und an derHausthllr ein Schild angebracht, welches den Titel derFirma der leidenden Menschheit als„Naturheilanstaltzum rothen Kreuz" offenbarte. Der Herr Direktor Max Wendtversandte massenhafte Prospekte in die Provinz, worin er seineoperationslose Heilweise durch briefliche Behandlung anpries.Dieselbe bestand darin, daß er seinen Patienten Fläschchen mitwerthloser Tinktur gegen Nachnahme-Beträge von 30—40 M.verkaufte. Natürlich half das Mittel nicht, es wurde polizeilicher-seits festgestellt, daß die Tinktur aus reinem Wasser bestand undam Sonnabend wurden die beiden Hochstapler verhaftet und nachdem Landgericht II überführt.— Wie groß die Zahl der Rein-gefallenen ist. läßt sich bei der umfangreichen beschlagnahmtenKorrespondenz garnicht übersehen.Haftentlassnng von Genosse». Sonntag, den 5. Mai.hatten die Genossen Richard Hartmann, Eduard Bingau undHeinrich Werla ihre vierwöchentliche Gefängnißstrafe verbüßt,die sie sich in der bekannten Liederbuchaffäre zugezogen hatten.Zur Begrüßung hatten sich Genossen des Wahlkreises sowie derTanzlehrerverein„Solidarität" und der Gesangverein„Vineta"insgesammt etwa 100 Personen, darunter viele Frauen, ein-gesunden. Nachdem die Genossen in Walter's Salon mit Speiseund Trank erquickt waren, wurden dieselben im Zuge unter denKlängen der Marseillaise und des B l o u s e n l i e d e snach dem Bahnhos geleitet, ehe die heilige Polizei heran»gekommen war.Pankow. Wie am 3. Mai berichtet wurde, hat unsereM a i f e i e r einen ganz plötzlichen, von den Festtheilnehmern undauch von den Festleitern nicht gewollten Schluß bei Eintritt derfür B u g e's Vereinshaus, Schulzestraße, festgesetzten Polizei-stunde gefunden. Gleich nach 11 Uhr(Polizeistunde) erschien diePolizei, zwei Mann stark, und verlangte vom Wirth, HerrnBuge, er solle Feierabend bieten. Auf diese Aufforderung hinbeeilte sich Herr Buge, das Podium zu besteigen und—er bot Feierabend. Kein Protestiren half, und aus denHinweis, daß er kein Recht habe Feierabend zu gebieten, da derSaal heute dem Verein gehöre, hatte er die Antwort, er habe anniemand einen dahin lautenden Kontrakt unterschrieben/ auchhabe niemand eine Unterschrist von ihm verlangt.— Da unsim vorigen Jahre unsere Maifeier aus ähnliche Weise bei Ein-tritt der Polizeistunde im Buge'schen Lokale geschlossen wurde,so mögen sich die Genossinnen und Genoffen die Handlungsweisedes Herrn Gastwirth Buge in Pankow, Schulzestraße, etwasmerken.Polizeibericht. Am 7. d. M. Vormittags fiel im HauseStraußbergerstr. 33 ein Kutscher beim Transport eines FassesButter von der Kellertreppe und erlitt anscheinend innere Ver-letzungen.— Ein beim Bau der Moabiter-Brücke beschäftigterArbeiter fiel in die Spree und ertrank.— Vor dem HauseWasserthorstr. 60 wurde Nachmittags ein fünfjähriger Knabedurch einen Geschäftswagen üherfahren und an den Knien er-heblich verletzt.— Ei» etwa 18 jähriger- junger Mann fiel vordem Hause Chauffeestr. 105 von einem Kohlenwagen, aufden er während der Fahrt gestiegen war, und erlitt eine Gehirn-erschütterung.— An der Ecke der Invaliden- und Hessischen-straße gerieth ein achtjähriger Knabe unter die Räder einerDroschke und wurde anscheinend innerlich verletzt.— Im Hippo-drom, in der Nähe des Wafferthurms, wurde gegen Abend einMann erhängt vorgefunden.— Im Lause des Tages fandenzwei kleine Brände statt.Gericklks-�etkung.Ju dem BeleidiguugS-Prozeffe gegen den Freiherrnv. Thüngen- Roßbach, den Reda kteur Mem-m i n g e r von der zu Würzburg erscheinenden„Neuen bayerischenLandeszeitung" und den Redakteur Ober winder von derhiesigen Zeitung„Das Volk" stand heute wiederum vor dernennten Strafkammer des Landgerichts I Termin an. DasInteresse, welches dieser Prozeß in weitesten Kreisen erregt hat,wurde durch die Erklärung des Freiherrn v. Thüngen, daß erder Vorladung des Berliner Gerichts keine Folge leisten werde.weil er dasselbe nicht für zuständig halte, noch wesentlicherhöht. Nach Eröffnung der Sitzung durch den Land-gerichts- Direktor Hoppe wurde festgestellt, daß vonden Angeklagten nur der Redakteur Oberwinder unterBeistand seines Vertheidigers, des Rechtsanwalts Klasingin Bielefeld erschienen war. Der Angeschuldigte Memminger,welcher vom Erscheinen entbunden war, ließ sich durch denRechtsanwalt Schinkel aus Würzburg vertreten. Der Haupt-angeklagte, Frhr. v. Thüngen, fehlte. Der Vorsitzende erklärte,daß ihm eine Mittheilung des Frhrn. v. Thüngen, wie sie inden Zeitungen veröffentlicht wurde, bis jetzt nicht zugegangensei. Er bitte den Vertreter der Anklagebehörde umseine Aeußerungen bezüglich der jetzigen Sachlage des Prozesses.Ober- Staatsanwalt Dr. Drescher: Das Gericht würde zu-nächst nochmals die Frage zu prüfen haben, die in so energischerWeise von dem Freiherrn v. Thüngen immer wieder angeregtwerde, nämlich ob der hiesige Gerichtshof zuständig sei. Er feideshalb auch geuöthigt, auf diese Frage einzugehen. Der Fallhabe in der Presse erhebliches Aufsehen erregt, wie er zugebenwolle, nicht ohne Grund, denn die Frage sei sowohl von Be»deutnng für die Presse, wie von juristischer Bedeutung. Ermüsse aber sein Bedauern darüber aussprechen, daß die Presse sichder Sache bemächtigt habe, ohne die Thatsachen zu kennen. Siesei aber durch Frhrn. v. Thüngen und den Redakteur Memmingerirre geleitet worden, sonst würden schwerlich derartige An-griffe gegen die Staatsanwaltschaft erhoben worden sein,wie es geschehen fei. Man habe sich sogar nicht gescheut, derStaatsanwaltschaft Eingriffe in das bayrische Reservatrecht vor-zuwerfen, um den Herrn v. Thüngen vor ein preußisches Gerichtbringen zu können. Wer aber Anderen unlautere Motive unter-schiebe, verliere das Recht, daß seine Ausführungen beachtetwürden. Abgesehen von diesem Vorwurf der Vergewaltigung,Sympathie der Bevölkerung von Nieder-Schönweive und wohlliche Ordnung bedrohenden" gewö hnlichen Arbeiter handelt, diehabe man der Staatsanwalt schaft vorgeworfen, daß, angenommen