V Vorgehen sei gesetzlich, so bedeute die Erhebung der Anklagedoch einen großen politischen Fehler. Man vergesse dabei.daß die Anklage nicht von Amts wegen, sondernaus Antrag des Sieichskanzlers erhoben worden sei. Wie könnejemand glauben, daß die Staatsanwaltschaft dem Reichskanzlerdie Erhebung einer Anklage verweigern würde mit der Begründung. daß ans politischen Gründen die Erhebung der An-klage nicht angängig sei.Ter Ober-Staatsanwalt wurde hier vom Vorsitzenden unter-brachen, welcher anzeigte, daß ihm soeben ein Schreiben des Frei-Herrn v. Thüngen zugegangen sei. dessen Inhalt sich genau mitdessen durch die Zeitungen veröffentlichten Erklärung decke. NachVerlesung dieses Schriftstücks fuhr der Ober-Staatsanwalt fort:Er habe jetzt die Frage der Zuständigkeit zu erörtern. Eine Mengevon Stimmen habe sich in der Presse gegen die Zuständigkeitausgesprochen. Eine etwas ruhigere Stimmung habe erst nachder dankcnswerthen Mittheilung des bayerischen Ministers imLandtage Platz gegriffen. Eine einzige Zeitung, die„Krenz-Ztg."habe sich in einem Artikel, der vom Rechtsanwall Kinsing inDetmold verfaßt sei. in richtiger Weise über die Frage der Zu-sländigkeit ausgelassen, indem darin die Frage bejaht wurde.Es sei dies um so anerkenncnswerlher. da die„Kreuz-Zeitung" sonst auf dem Boden des Herrn v. Thüngen stehe.Er halte nun die Zuständigkeit des Gerichts für zweifel-los. Der Strafantrag des Reichskanzlers v. Caprivi seilediglich wegen einer in Berlin begangenen Beleidigunggestellt. Er halte die Konnexität mit dem Angeschuldigten Ober-winder für vorhanden und halte das Berliner Gericht unter demdcppelten Gesichtspunkte des Thatortes und des Zusammen-Hanges für zuständig. Allerdings müsse er erklären, daß erBerlin nicht für zuständig halten würde, wenn die SlrafthataNein in Würzburg begangen wäre. Er befinde sich hierinvielleicht im Widerspruche zu der beschließenden Kammer unddein Reichsgericht, welche der Ansicht seien, daß die Beleidigungauch hier begangen sei. weil die„Bayerische Landeszeitung"auch hier verbreitet sei. Ihm erscheine diese Theoriebedenklich. Er fei der Ansicht, daß die Verbreitung derZeitung im Wege des Postdebits an die Abonnenten mitder Heransgabe zusammen falle und als eine selbständige Asr-breitung nicht angesehen werden könne. Wenn dieser Punkt alsoallein ausschlaggebend sei. würde er das Berliner Gericht fürunzuständig halten. Er komme aber aus einem anderen Grundszu der Ansicht der Zuständigkeit. Er komme deshalb zu einerselbständigen Verbreitung, weil Memminger zu Oberwinder ineinem Kartellverbältniffe stehe und dadurch sei das Connerxitäts-verhältniß hergestellt. Er komme also zu dem Antrage, daßder Gerichtshof sich in Betreff des ersten Theiles der Anklagefür zuständig erklären, in Betreff des zweiten Theilesaber auf Einstellung des Verfahrens erkennen möge, da in dieserBeziehung ein Strafantrag seitens des Reichskanzlers nicht ge-stellt sei. Was nun das Verhalten des Älngeklagten v. Thüngenanbelange, so hätte derselbe bei ruhiger Ueberlegnng zu demSchlüsse kommen müssen, daß er dem Berliner Gericht Rede undAntwort zu stehen habe. Er bitte die Verhandlung zu vertagenund gegen den Herrn v.'.Thüngen das gesetzliche Mittel,„die Vor-führung", zu beschließen.Der Vertheidiger des Angeklagten Oberwinder machtegeltend, daß eine Konnexität nur vorliege, wenn derNachweis geführt werde, daß Freiherr v. Thüngen zu der Ver-öffentlichung des beanstandeten, aus der„bayerischen Landes-Zeitung" entnommenen Artikels im„Volk" in Verbindung stehe.Dieses werde Seitens des Angeschuldigten Oberwinder entschiedenbestritten.Der Gerichtshof befand sich tmf dem Boden des Ober-Staatsanwalts, erklärte sich in Betreff des ersten Theils derAnklage für zuständig, stellte wegen mangelnden Strafantragsdas Versahren in betreff deS zweiten Theiles der Anklage ein,vertagte die Verhandlung und beschloß, den Angeklagtenv. Thüngen zum nächsten Termin vorführen zu lassen.Tie Polizei-Attacke gegen die Berliner Arbeitslosennach der Arbeitslosen-Versammlung am 18. Januar d. I. in derBrauerei Friedrichshain, die überall das peinlichste Aufsehenerregt und auch im Deutschen Reichstag Anlaß zu lebhastenDebatten gegeben hat, fand heute ihr gerichtliches Nach«spiel vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts I. DieAnklage richtete sich aber nicht gegen die Polizeibeamten, sonderngegen eine große Anzahl von Berliner Redakteuren, die in ihrenBlättern von den Vorfällen jenes Tages Notiz genommen und siemehr oder weniger scharf kritisirt hatten. Der Spieß war wiedereinmal umgedreht worden. Obwohl die Affäre fast vonder gesammten Berliner Presse in gleichem Sinne b-urlheilt wurde,ist die Anklage nur auf die Redakteure des anarchistischen, dersozialdemokratischen und zweier freisinniger Blätter ausgedehntworden.Augeklagt sind: l. der Redakteur des„Sozialist", OskarAdam(unter dessen Namen die ganze Anklage läuft); 2. derRedakteur des„Sozialdemokrat". Max Zach au; 3. der Re-dakteur des„Volksbl. für Teltow-Beeskow", Gustav Keßler;4. der Redakteur des„Vorwärts", Reichstags- Abg. RobertSchmidt; ö. der Redakteur der„Berliner Ztg.". Franz XaverWißberger; 8. und 7. die Redakteure des„Berliner Tageb!.",Siegmund Perl und Ernst Grüttefien; 3. der Redakteur der„Lichtstrahlen", Friedrich Harnisch; und 9. der Redakteur der„Allgemeinen Fahrzeitimg", Wilh. Schütte.Die Anklage lautet gegen alle Angeklagten auf ver»leumderische Beleidigung des Chefs und der Beamtendes königlichen Polizeipräsidiums, gegen Schütte außerdem aufAufreizung verschiedener Klassen der Bevölkerung zu Gewalt-thätigkeiten gegeneinander. Diese Strafthat soll durch ein Ge-dicht:„Gummischlauch und Eisen" in Nr. 9 der„AllgemeinenFahrzeitung" begangen worden sein. Jnkriminirt sind einLeitartikel in Nr. 4 des„Sozialist":„Die Arbeitslosen und dieBerliner Polizei"; ein Artikel des„Sozialdemokrat":„Derachtzehnte Januar"; ein Artikel des„Vorwärts":„Die Polizeigegen die Arbeitslosen" und verschiedene Lokalnotizen; der Ab-druck der Vorwärts-Artikel im„Teltower Volksblatt"; der inder„Berliner Zeitung" vom 19. Januar veröffentlichte Berichtüber die Arbeitslosen- Versammlung und der Leitartikel des-selben Blattes vom 29. Januar:„Die schneidige Attacke";ein Bericht im„Berliner Tageblatt" in Nr. 34 mit derSpitzmarcke:„Heber den allzu großen Eifer" und einLeitartikel desselben Blattes in Nr. 43:„Leben die Jhring-Malow's noch?"; ein in Nr. 19 der„Lichtstrahlen" veröffent-lichter Bericht:„Eine Polizei- Attacke auf die Berliner Arbeits-losen"; und schließlich das schon oben erwähnte Gedicht in der„Allgemeinen Fahrzeitung".Das Material für die Anklage besteht fast ausschließlich auSBekundungen, die die bethciligten Poljzeibeamten selber über dieVorgänge nach der Arbeitslosen-Versammlung gelieferten haben.Danach soll der Verlauf der Dinge etwa folgender gewesen sein:Im„Sozialist" erließ der Schlosser Rodrian, der inzwischenflüchtig geworden ist, einen Aufruf an die Arbeitslosen Berlins,an einer Versammlung theilzunehmen, die von ihm auf den Vor-mittag des 18. Januar nach der Brauerei Friedrichshain ein-berufen worden war. Der Fassung des Ausrufs wegen wurdedie Zeitungsnummer konfiszirt und Rodrian wegen„Auf-reizung" unter Anklage gestellt. Die Polizei glaubte eineanarchistische Demonstration am Versanunlungstage erwartenzu müssen. sie will auch erfahren haben, daß nachder Versammlung ein Umzug der Theilnehmer durch die Straßender Stadt nach dem Schloßplatz ins Werk gesetzt werden sollte.Sie will trotzdem«in keineswegs ungewöhnlich großes Schutz-mannsaufgebot bereit gestellt haben. Es waren nach ihrer An-gäbe im Ganzen von der Schutzmannschast unter dem Kommandodes Polizeihauptmanns Feist sechs Ossiziere und etwa 99 Mannaufgeboten. Unter diesen Neunzig befanden sich 19 beritteneSchutzleute und von der„politischen Polizei" der Kriminal-kommissarius Bößel mit zwei Wachtmeistern und 26 Mann„Geheimen". Diese Kriminalpolizisten waren inArbeiterkleidung gesteckt!In der Annahme, daß sich die Demonstrationen der Arbeits-losen aus dem Jahre 1892 wiederholen könnten, befahl derPolizei-Präsident, Herr v. Richthofen, gegen das Fvrmiren vonZügen und größeren Trupps der Vcrsammlungsbesucher mitEntschiedenheit einzuschreiten. Ein weilerer iBefehl soll nichtertheilt worden sein, und auch die Polizei-Offiziere wollen lediglich nach dieser Richtung hin ihre Mannschaften instruirt haben.Der Andrang zur Versammlung, für deren Besuch noch durchHandzettel in den Wärmehallen und in den ArbeiterviertelnPropaganda gemacht worden war, war so stark, daß der Saalbald abgesperrt wurde und Tausende keinen Einlaß mehr fanden.Der Einbsrufer Rodrian war nicht erschienen. Das falscheGerücht verbreitete sich, er sei verhaftet und der MetallarbeiterLitfin theilte den Anwesenden mit, daß die Versammlung nichtstattfinden könne. Er knüpfte daran die Mahnung, ruhig nachHause zu gehen. Der Saal leerte sich rasch, und beim Hinaus-gehen stimmten die Arbeitslosen Gesänge an. Der am Ausgangpostirte Polizeilieutenant Schwenterley verbot das Singen undverlangte schnelleres Gehen. Als der Saal zu drei Vierteln ge-leert war, ließ der Lieutenant seine Züge„ausschwärmen" undschob die Menge langsam vor. Zu Zusammenstößen kames hier nicht, aber die Polizeibeamten hatten nach ihrerSchilderung den Eindruck, als sei es doch auf einen Tumult ab-gesehen. Sie wollen schon vorher Rufe aus der Menge der-jenigen gehört haben, die keinen Einlaß mehr gefunden hatten,wie:„Nach der Versammlung giebt es noch einen tüchtigenTanz, aber ich helfe tüchtig mit" und:„Wir sind auch Bürgerund können hier ebenso gut sein und in die Versammlung gehen.wie die andern".Ilm Königsthor sollen sich dann zwei große„Knäuel" ge-bildet haben, die selbst einigen berittenen Schutzleuten nichtweichen wollten. Lieutenant Neumann erhielt den Befehl, dieMenge mir seinem Zuge zu zerstreuen. Ein Befehl zumSäbelziehen wurde nicht ertheilt; dennochmachten einige Beamte von ihren Säbeln Ge-brau ch. Erhebliche Verwundungen sollen aber nicht vorgekommensein. Auch erhebliche Sistirungen fanden nicht statt.— Zueinem zweiten Zusammenstoß kam es an der Ecke der Frieden-straße und der Straße Am Friedrichshain. Ein Trupp vonetwa 229 Mann soll hier den Zug des Lieutenants Arndt zu„überrennen" versucht haben. Arndt ließ blank ziehen und trieb,unterstützt von den„Geheimen" in Arbeiterkleidung,die mit Gumnii schlauchen bewaffnet waren undvon der Greifswalder Straße her der Menge in die Flankesielen, den Trupp auseinander. Die Gummischläuche. von derPolizei„Handwaffe" genannt, spielten dabei ihre Rolle.— Eindritter Znfamweustoß erfolgte an der Bavnimstraße. ZweiSchutzleute«vollen bemerkt haben, daß hier aus der Menge mitoffenen Messen: gegen die Beamten gedroht wurde. Auch dieseAnsammlung wurde„zersprengt". Von den berittenen Schutz-leuten soll nur einer den Säbel gezogen haben und auch erst,als seinem Pferde von einigen Leuten in die Zügel gefallenworden war.Soweit die Darstellung der Polizeibeamten. Die Schilde-rung der Vorgänge in der Presse steht ihr in ent-scheidenden Punkten diametral gegenüber. In den iakriminirtenArtikeln wurde das Vorgehen der Polizei auf das schärfstekritisirt und als Provokation der Arbeitslosen bezeichnet. Indtesen und ähnlichen Behauptungen sieht die Staatsanwaltschafteine verleumderische Beleidigung der Berliner Polizei und ihresChefs.Von den meisten Angeklagten ist ein umfangreicher Wahr-heitsbeweis angeboten worden. Unter den Entlastungszeugen bc-findet sich auch Oberstlieutenaut von Egidy, der den Vorgängenals Augenzeuge beigewohnt hat und in seinem Blatte„Vor-söhnung" das Verhalten der Polizei geschildert und auf dasSchärfste gemißbilligt hatte.Der Angeklagte, Redakteur Grüttefien, hat sich als Verfafferdes Leitartikels„Leben die Jhring-Mahlow's noch?" bekannt;die übrigen Augeklagten übernehmen die preßgesetzliche Vcrant-wortung für die inkriminirten Artikel.Die Verhandlungen finden unter dem Vorsitz des Land-aerichtsdirektors Brausewetter statt und werden voraus-sichtlich zwei Tage dauern.Die Anklagebehörde vertritt der Erste StaatsanwaltBenedix; als Vertheidiger fungircn die RechtsanwälteFreude u thal, Herzfeld, Halle, Fritz Friede-in a n n, M o s s e, B e r g u. a.Die Verhandlung wird um 9 Uhr von dem Landgerichts-direkter Brausewetter mit dem Aufruf der Angeklagtenund Zeugen eröffnet. Der Angeklagte Adam fehlt, ebenso derAngeklagte Harnisch. Es sind 26 Zeugen von der Staatsanwalt-schast, zehn Zeugen von der Bertheidigung geladen; es befindensich unter ihuen zahlreiche Redakteure und Berichterstatter kon-servativer Blätter. Der Vorsitzende bemerkt, daß es genügenwürde, ivenn etwa zehn Zeugen vernommen würden. Sonstkönnte ja halb Berlin geladen werden, es käme ja nur daraufan, ein allgemeines Bild der Vorgänge zu bekommen. EinzelneThatsachen seien ja nicht behauptet. Daß die Schutzleute ge-schlagen hätten, werde ja nicht bestritten.Es stellt sich heraus, daß Harnisch gegenwärtig in Rummels-bürg eine Strafe verbüßt, er ist erst auf 19 Uhr geladen. Der ange-klagte Redakteur des„Vorwärts", Rod. Schmidt, ist auch»och wegeneiner im„Vorwärts" erschienenen Sonnlagsplauderei angeklagt.Der Angeklagte Z a ch a u bekennt sich als nicht schuldig. Vorsitzender: Am 18. Januar fand hier eine von einem be-kannten Anarchisten einberufene Arbeitslosen-Versammlung statt.Die Polizei hatte also volle Ursache mit Vorsicht und Kraft ans-zutreten. ES handelt sich darum, sind die Leute in aller Ruhe,so friedlich wie noch nie zuvor nach Haufe gegangen oder nicht.Das ist eigentlich der Schwerpunkt. In den Blättern wird, jeweiter nach links sie stehen um so bestimmter behaupter.die' Arbeiter hätten sich ganz harmlos benommenund seien von der Polizei in der unglaublichstenWeise provozirt worden.— Erster Staats auw altDr. Benedix: Ich will bemerken, daß der inkriniinirte Artikel„Der 13. Januar" im„Sozialdemokrat" der erste Artikel in derersten Nummer des neugegründeten Blattes war. Es war seinLebensspeech. Angeklagter Zacha»: Das ist richtig. Vorsitzender:Kennen Sie den Verfaffer? Angeklagter Zachan: Nein, ichübernehme die Verantwortung nach dem Preßgesetz.— DerArtikel wird verlesen.— Angeklagter Zachau: Der Artikel istauf grund von Berichten in der„icreuz-Zeitung" und im„Reichsboten" verfaßt worden, er enthält nicht unwahre, sondernerweisliche Thatsachen. Die Berliner Polizei ist nicht bc-leidigl.— Vorsitzender: Sie werden doch zugeben, daß dieganze Tendenz Ihres Blattes blos auf das Hetzen gerichtet ist.Sie wollen doch den Arbeitslosen nicht helfen, sondern sie blosgegen die Besitzenden aufhetzen. Dazu dienen Ihre Blätter undauch diese Arbeitslosen-Versammlungen. Da ist kein Mensch, derden Arbeitslosen guten Rath giebt, wie sie Arbeit erlangenkönnen, sondern Sie wollen nichts weiter erreichen, als sie durchdie Erregung von Unzufriedenheit aufzureizen.— AngeklagterZachau: Diese Nnterstellung weise ich entschieden zurück...Vors.(ihm ins Wort fallend): Diese Thatsache ist so notorisch,daß es keines Leweises mehr bedarf.Angeklagter Keßler bekennt sich nichtschuldig. Erhat einen Artikel und mehrere Notizen aus dem„Vorwärts" übernommen, die die Vorgänge schildernoder behandeln. Es wird darin besonders auf die Aeußerungeines Augenzeugen, des Herrn von Egidy, bezng genommen, derdavon spricht, die Versammlung sei in geradezu unheimlicherStille auseinandergegangen; wenn die Reichetags-Abgeordnetenauseinandergingen, gehe es lebhafter zu. Es werden i» einemder inkriminirten Artikel zahlreiche konservative Preßstiminenzitirt, die alle das Vorgehen der Polizei verurtheilen. Vors.:Ich verstehe Ihren Gedankengang nicht. Sie können doch nichternstlich meinen, die Polizei sei aus Frivolität so vorgegangen.Es muß doch eine Veranlassung dazu vorhanden sein. Ich warnicht dabei, ich weiß die Veranlassung. Das Publikum ging nichtwillig auseinander. Bei den Versammlungen findet sich dieschlimmste Sorte der Bevölkerung zusammen, 16— ISjährigeBurschen, deren Rohheiten wir alle Tage auf der Straße sehen.Die Leute wollen keine Rede hören, sie wollen sich nur an einemSkandal bctheiligen. Die Führer sreüich sitzen hinterm warmenOfen, die Verführten muffen das ausbaden, was die Führer sün-digen. Kein einziger von Ihnen war imstande, auch nur einengering Verletzten ausfindig zu machen. Aus der Mücke ist einElephant durch Ihre Aufbauschung geworden.— AngeklagterKeßler: Ich kenne die Ansicht unserer Richter sehr genau, wiesie der Herr Vorsitzende hier vorgetragen hat, ich hielt den Ab-druck der Artikel zuerst für gefährlich. Als aber die„Kreuz-Ztg."und der„Reichsbote" gegen die Polizei Stellung nahmen,nahm ich den Abdruck vor. Ob nun die Polizei ohne Grundeingehatien hat? Ich kann nur sagen, wir Sozialdemokratensind sämmtlich der Ansicht, daß in gewissen politischen Kreisendie Absicht besteht, wie Bismarck gesagt bat, uns niederzuschlagenund niederzuschießen. Und unsere beiligste Pflicht ist es, das zuverhüten.— Vors.: Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.—Angckl. Keßler: Das ist mein voller Ernst.— Vors.: Inden Versammlungen ist doch nur Janhagel gewesen, doch nurwenig Arbeiter.— Angell. Keßler: Das muß ich nach eigenerErfahrung bestreiten.— Vors.: Ich weise auf die Vorgänge imJahre 1892 hin, was der Janhagel alles,'demolirt hat. Was Sie daeben gesagt haben von Niederschlagen und Niederschießen, dasglauben Sie wohl selbst nicht! Eine solche Unmoraliiät desStaates giebt es nicht. Eher kann man sagen, daß die Sozial-demokraten auf den günstigen Moment warten, wo sie allesstürzen, was uns bisher heilig war. Keinem Menschen und nungar unserm großen Bismarck kann es in den Sinn kommen, eineso jämmerliche Versammlung zum Anlaß zn nehmen, um dieSozialdemokraten niederschießen zu lassen. Zum Spaß ist JtiePolizei nicht eingeschritten.— Angeklagter K e ß l e r:�Wir sindhier wieder einmal verschiedener Ansicht, Herr Präsident.—— Vorsitzender: Sie bestreiten jede Beleidigung?—Angeklagter Keßler: Das nicht, ich habe eben angenommen,daß die Polizei unberechtigt vorgegangen ist und deshalb dieArlikel aus dem„Vorwärts" abgedruckt.— Vors.: Das habenSie aus der trübsten Quelle geschöpft.— A n g e k l.: Ich halteden„Vorivärts" für die lauterste Quelle, wir sind eben wiederverschiedener Ansicht, Herr Präsident.— Vors.: Daß im„Vor-wärts" immer mit starker Kreide geschmiert wird, geben Sie dochzu. Denken Sre doch an seine Berichte über die Soldaten-Miß-Handlungen: ein Tüpfelchen ist wahr, alles andere ist gelogen.Die Presse nützt ja überhaupt alle solche Sachen imPartei-Jnteresse aus. Die„Krcuz-Zeitnug" stellt eine Sacheimmer anders dar, als der„Vorivärts". Die Wahrheitwill keiner von sich geben. Der Staatsanwalt machtdarauf aufmerksam, daß er die Anklage auf grund des§ 187 erhoben habe, das Gericht aber nur auf ߧ 166 und 185 eingegangen sei. Er bittet darauf aufmerksam zu machen, daß fürdie Angeklagten auch vcrlemnderische Beleidigung in Fragekommen kann. Es entspinnt sich eine längere Unterhaltung überdiese Frage zwischen Bertheidigung und Staatsanwaltschaft, dieaber vom Präsidenten als zur Zeit noch unbedeutend abgeschnittenwird.Es werden die inkriminirten Artikel der„Berliner Zeitung"verlesen. Angekl. Wißberger erklärt, die Absicht der Be-leidigung habe ihm ferngelegen, er glaube, berechtigte Interessenwahrgenommen zu kiaben. Er übernehnie die Verantwortungaber nur für den inkriminirten Leitartikel. Der zweite Artikelstehe im lokalen Theil, für den ein anderer Redakteur die Ver-antwortung trage.— Staatsanwalt: Warum haben Siedas nicht gleich bei Ihrer verantwortlichen Vernehmung gesagt?— Angeklagter Wißberger: Es ist nicht meine Aufgabe.Geschäfte des Staatsanwalls zu besorgen. Hat er einen Irr-thum begangen, so ist es nicht mein« Aufgabe, diesen Jrrthumrichtig zu stellen.Es wird festgestellt, daß die Angaben Wißberger'srichtig sind.Der Angeklagte Perl. Redakteur des„Berk. Tagebl." hebthervor, daß er seinen Bericht über die Versammlung einer sehrgewissenhaften Lokalkorrespondenz entnommen habe; er habe dieBehauptungen darin sogar gemildert. Andere Blätter, wie„Frei- Deutschland" von Professor Förster, haben die Mtt-thetlungen ohne solche Abschwächungen gebracht, ohne angellagtworden zu sein. Er als Publizist habe die Psiicht, derartigeVersammlungen zu besuchen. Er wahre also sein persönlichesInteresse, wenn er gegen die Uebergriffe der Polizei protestire.Sonst könne auch er einmal den Buckel voll bekommen.—Staatsanwalt: Sie haben doch nichts abgekriegt?—Angekl. Perl: So lange möchte ich nicht gern warten.—Staatsanwalt: Ich habe die Anklage gegen alle diejenigenRedakteure gerichtet, gegen die Strafanträge vorlagen. Ich wardurch die Slrafanträge gebunden.Angeklagter Redakteur Grüttefien, politischer Redakteurdes„Berliner Tageblatt", bekennt sich als Verfasser des Leit-artikels: Leben die Jhring-Mahlow's noch? Die Tendenz desArtikels sei gewesen, der politischen Legendenbildung über dasSpitzelthum ein Ende zu machen. Es sei ein hervorragendesAgilationsmittel der Sozialdemokratie, das Lockspitzelthum auizn-bauschen, der Artikel habe das Polizeipräsidium deshalb aufgefordert,den Behauptungen des Metalldrehers und Anarchisten Brandt.daß er im Sölde der Polizei gestanden habe, ein energischesDementi entgegenzusetzen.— Borsitzender: Mas sollte dennda die Ueberschrift: Leben die Jhring-Mahlow's noch?— An-geklagter G r ü t t e s i e n: Die richtete sich gegen die Sozial-demokratie. Jhring-Mahlow ist für sie der Typus des Lockspitzels.Wir Liberalen"stehen im Kainpse gegen die Sozial-demokratie ans der exponirtestcn Stelle. Wir müssen verhindern.daß ihr weitere Anhänger zufallen. Und sie gewinntAnhänger auch durch die Behauptung, die Polizei ver-wende Lockspitzel.— Staatsanwalt: Was verstehen Sieunter Lockspitzel?— Angeklagter: In diesem Falle einenAnarchisten, der im Dienst der Polizei steht, sie denunzirt undlockt. Auch der Metalldreher Brandt habe erklärt, daß ein Theildes Polizeigeldes zum Druck der Handzettel verwandt wordensei, die zur Arbeitslosen-Versammlung einluden. Er habe in dasWort Lockspitzel nicht den Sinn hineinlegen wollen, daß diePolizei den Spitzel aufgefordert habe, zu locken, er habe über-Haupt nur reserirt, daß sich der Spitzel selbst bezichtigt habe, ge»lockt zu haben.Rechtsanwalt Dr. Herz selb fragt den Staatsanwalt, obder Metalldreher Brandt unter Anklage gestellt worden sei?—Vorsitzender: Die Frage gehört nicht zur Sacke.—Vertheidiger: Mir erscheint es doch wichtig, festzustellen,ob es ein Spitzelthum giebt oder nicht.— Vorsitzender:Der Ausdruck Spitzel und Lockspitzel ist auch so etwas gemachtes.Daß die Polizei Leute an der Hand hat, die ihr Nachrichtenbringen, und die sie auch bezahlt, ist ja notorisch. Sonst ist jagar keine Polizei möglich. So wie die Kriminalpolizei Vigilantenhat. so auch die politische. Es sind eben ihre Zuttäger. Von,Provoziren ist keine Rede. Es ist diesen Leuten ausdrücklichuntersagt zu provoziren. Die Ueberschrift: Leben die Jhring-Mahloiv's noch? das deutet auf etwas hin. was gar ntcht be-ieht.— Staatsanwalt: Wir wollten doch in den vorliegendenFall nichts hineinziehen, was nicht hineingehört. Persönlich will ichdem Herrn Vertheidiger ja mittheilcn. wie es mit Brandt steht.Das Polizeipräsidium hat übrigens gerade diese Gelegenheitbenutzt, um jeder Legendenbildung entgegenzutreten und den Vor-wurf zurückzuweisen, das Polizeipräsidium verwende axenton-ovocuteurs. Deshalb ist auch die Anklage gegen das„BerlinerTageblatt" erhoben worden. Vertheidiger Dr. H e r z s e l d: Ich