Die Diphtherie Rat in Berlin mit Beginn der kälteren Jahreszeit wieder eine starke Verbreitung erlangt. Nachdem in den Sommer- monaten die Erkrankungen an Diphtberie noch bis Ende August meist unter IlXi pro Woche geblieben waren, wurden von Anfang September ab pro Woche stets über IVO Erkrankungen gemeldet. Tabei stieg die wöchentliche Zahl der Meldungen fast ununterbrochen. und schon von Mitte Oktober ab stellte sie sich andauernd auf über 200 pro Woche. Gegenüber dieser Häutung von Diphtherie- erkrmrkungen ist es erfreulich, daß dir Diphcheriesterblickkeit sich bisher noch auf einer verhältnismäßig geringen Höhe gehalten hat. Daß aber auch die Slcrbefälle sich gemehrt haben, ist nach der Mehrung der Etkranlungen begreiflich. Gemeldet wurden z. B. siir vier zum September gehörende Wochen S3ö Erkrankungen und 27 Sierbesälle, dagegen für vier zum November gehörende Wochen Erkrankungen und öt Sterbciälle. Man kann nur wünschen, daß eine weitere Ausbreitung der Diphtherieepidemie uns in diesem Winter erspart bliebe. Zur Ttreikaudrohung der Gemüsehändler äußerte sich O b e r b ü r g e r m c i st e r Mermuth zu Vertretern der Presse in einer Konferenz, die der Besprechung von Ernährungs- fragen galt. Er bestritt, daß die Berliner Gemüsehändler hin- reichcndcu Anlaß haben, über da? vom Magistrat befolgte S y st e m der Verteilung des A u s l a n d S g e m ü s e s erregt zu sein und durch Schließung ihrer Läden die Gemüse- und Kartofselver- sorgung zu gefährden. Die Beschränkung der Verteilung des Auslands« gcmiHes aus eine geringe Zahl Händlern sei von der Reichs« �emüsestelle angeordncl worden und solle die Kontrolle darüber erleichtern, daß die Händler nur siir das ihnen zugeteilte AuslflndSgemüse nud nicht etwa auch für Jnlandsgemüse die hohen Preise nehmen, llebrigcns erhält Berlin sehr wenig Aus- I a n d s g c m ü s c, täglich nur eine» Waggon und ausnahmsweise auch mal zwei, so daß'bei gleichmäßiger Verteilnng auf alle Händler nur ein winziger Anteil auf jeden käme. Der Magistrat weise/ auis schärfste das angedrohte Vorgehen der Händler zurück, doK geeignet sei, gerade in der Weihnachtszeit die BevA- keruilg durch Lebensmittclmangel zu beunruhigen. Diesen AtiS- sührungen des Oberbürgermeisters fügte S t a d l r a t Runge, die Erklärung a». daß man auch bei der demnächst stattfindenden ein- maligen Gemüseverteilung an die Bevölkerimg nur wenige Geschäfte, hierbei etwa 700, habe auswählen können. In der am Sonntag abgehaltenen Gemüsehändlerversammlung, über die wir in unserer MontagSnnmmer berichteten, riet ein Ber- rreter der Reichsgcmüsestelle den Händlern, mit ihren Kwgen über Benachteuigung durch den Magistrat sich an den OberprSstdenten zu wenden. Da berührt es allerdings sehr eigenartig, daß es die ittölchsgemüse stelle selber gewesen i st. die für die Verteilung des AuSlandSgemüseS die Beschrän- tu n g aus wenige Geschäfte vorschrieb. Dazu wird u»S vom Reichsverband deutscher Obst« und Ge- nriisehändler geschrieben, daß wegen des angedrohten Streiks Ver- Handlungen mit dem Berliner Magistrat schweben. Für den Fall, daß diese Verhandlungen zu keinem Ergebnis rühren sollten, ist die Bermutlnng des Leiiers der ReichSstelle für Gemüse und Obst er- beten worden. Es besteht sonach die begründete Hoffnung, daß. es zu einer Einstellung des Kleinbandels mit Gemüse, Ob st und Kartoffeln in Berlin nicht kommen wird.__ Gemüseverteilmig. Der Magistrat Berlin binel uns mirzuteilen, daß bei der jetzigen Gemüieverleilung, die mit den Stadtgegenden im Süden und Süd- orten beginnt, auch einige Bezirke im Zentrum und im Osten der Stadt in Betracht kommen. Aus der Aufstellung an den Anichlagiäulen ist genau erfichrlich. in welchen Brotkommifstons- bezirken die Anmeldung jetzt vorzunehmen ist. Erhöhung der Aepfelpreise. Die PreiSkommifsionen für Obst und Gemüse haben den Klein- Handelspreis für Acpfel t Sorte auf 75 Pf., II. Sorte 50 Pf., III. Sorte 50 und IV. Sorte auf 33 Pf. pro Pfund festgesetzt. Zur Kartoffelverforgung. Ter Magistkat gibt bekannt, daß die Kartoffelration für die folgende Woche bereits vom Donnerstag, den 13. Dezember ab, auf Abschnitt 86 der Äartoffelkarte beim Kleinhändler entnommen werden darf._ Weihnachtsgebäck aus„Ersatz". Der„Berliner Hausfrauenverein' wendet sich an die Oeffent- lichkeil mit einer kleinen A u S st e l l u r g von Kuchen und Süßig- keiten. zu veren Zubereitung allerlei„Ersatz' verwendet worden ist. Die Veranstal'ung soll zeigen, waS selbst mit beschränkten Mitteln
erreicht werden kann, wen» man die in der Kochschuka deS Vereins ansgeprobien und in der Ausstellung feilgehaltenen Rezepte befolgt. Ausgestellt sind unter anderen: verschiedene Kuchen und Torte» aus Grieß , aus Kartoffelr, aus Mohrrüben, Teegebäck aus Kartoffeln, Pfeffernüsse aus Kartoffeln, Pralineen aus Mohrrüben, Bonbons aus Brot. Zu den hier aufgezählten Grundstoffen kommen aber noch reichliche Zutaten, die gehaltvoller und dafür minder billig find, z. B. Butter, Margarine, Eier, Milch, Marmelade. Zucker usw. Diese bekanntlich nicht ganz leicht zu beschaffenden Beigaben, denen die Kuchen und Süßigkeiten ihren Geschmack und Wert verdanken, können wohl nicht als.Ersatz" bezeichnet werden. Die Ausstellung befindet sich im Warenhaus Tietz in der Leipziger Straße und ist bei sreiem Eintritt nur heute und morgen(13. und 14. Dezember) von 10—7 Uhr zu besichtigen._ Die Konstituierung des Lebensmittelverbandes Grast- Berlin . Dienstag abend hielt unter zahlreicher Beteiligung der Ausschuß des LebcnsmittelverbandeS Groß-Berlin seine konstituierende Sitzung ab. Die einheitliche Verteilung der Nährmittel soll mit Beginn der nächsten Verteilungsperiode(15. Januar) einsetzen. Der VerteilungS- plan wird durch eine Kommission ausgestellt werden; ein« zweite Kommission, zu- welcher auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer in gleicher Anzahl hinzugezogen werden sollen, wird sich mit den An- gelegenhcitcn der Werkspeisungen. Rüstungsbetriebs usw. befassen. Gegen die Fälschungen von Lebensmittelkarten. Daß die Fälschung von Lebensmittelkarten und Benutzung ge- fälschter Karlen die für die Gesamtheit zur Verfügung stehende Lebensmittelmenge zugunsten der Betrüger schmälert, bedarf nicht erst der Erörterung. In dem Kampf gegen die Fälschungen hat Groß-Berlin die Kartentechnik allmählich so vervoll- kommt, daß jetzt erfreulicherweise aus bessere Erfolge zu hoffen ist. Von zuständiger Stelle werden uns darüber folgende Mit- teilnngen gemacht. Bei der ungeheuren Zahl Karten, die für Groß-Berlin erforderlich sind, muß zum Druck die Rotationsmaschine verwendet werden, deren oft verschmierte Erzeugnisse die Fälschung erleichtern und ihre Aufdeckung erschweren. Es wird daher der Schutz gegen Fälschung jetzt nicht mehr in den Auf- druck, sondern in daS Papier gelegt, also dem Papier ein Wasserzeichen gegeben, das nicht nachgemacht werden kann. Auch wird die init der Herstellung der Karlen betraute Druckerei auss strengste überwacht, um Unterschlagungen echter Karten oder gar der zu ihrer Herstellung benutzten Platten zu verhüten. Dazu kommt die Uebcrwachung der Brotkommisstonen, die schon eine Ver- Minderung der dort verübten Diebstähle bewirkt hat. Eine weitere Vorsichtsmaßregel ist die, daß übrig gebliebene Brotkarten, da man sie wegen der Papierknappheit jetzt nicht mehr verbrennen will, in einer den Mißbrauch ausschließenden Weise durch eine Maschine in kleinste Teile zerfetzt iverden. Wie groß die Möglichkeit des Mißbrauchs und der Fälschung ist, läßt sich nach der Karte»menge beurteilen, die der Berliner Magistrat auszugeben hat. Zurzeit sind nicht weniger als 66 ver- schiedcne Arten von Karten in Gebrauch. Schon die Brotkarten einer einzigen Brotlartenperiode belaufen sich für das Gebiet der Groß-Berliner Brotkartengemeinschast auf 20 Millionen Stück. Für alle vom Berliner Magistrat auszugebenden Karten find im Jahresdurchschnitt 21 000 Zentner Papier nötig, das sich auf 70 Eisenbahnwagen zu je 300 Zentner verladen läßt. Fast die Hülste dieser Menge, 10 200 Zentner, wird durch die Brot- karten beansprucht. ES folgen die Fleischkarten mit 2S40 Zentner, die Kartoffelkarten mit 2080 Zentner, die Speisefettkarten mit 1300 Zentner, die Milchkarten mit 1040 Zentner usw. usw. Für die Hauptdrotkarten ist in einer vierwöchigen Periode ein Papierstreifen erforderlich, der bei 66 Zentimeter Breite ein« Länge von 346 Kilometer haben müßte. daS ist die Länge der Eisenbahnlinie Berlin -BreSlau . Man siebt, daß der Papierverbrauch wirklich nichts zu wünschen übrig läßt? Ge- fälscht« Karten und Kartenabschnitte wurden zu der Zeit, wo die Fälschungen in höck-ster Blüte standen, in einer Woche so viele ermiitelr, daß sie 100 Säcke füllten. Gegenüber der Gesamtmenge von 20—25 000 Sack pro Woche wäre das e:wa>/, Proz. Postscheckvrrkehr. Mit Rücksicht auf die Papierknappheit hat daS Reichspostamt nachgegeben, daß die den Nachnahmekarten anhängenden Postanweisungen als Zählkarten verwandt werden können, wenn handschrisilich mit Tinte, durch Druck oder mit der Schreibmaschine auf dem Hauvtteile das Wort„Postanweisung' in „Zählkarte' geänderl und das Postscheckkomo genau bezeichnet sowie aus dem Abschnitt am Kopfe das Wort„Zählkarte" und am Fuße der Vermerk „Zahlkarte kür Konto Nr........ Postscheckamt...............* angegeben werden. Die P o st a n st a I t e n nehmen jetzt Schecks auf Banken, Ge- nosienschaflen, Sparkoffen usw. an, wenn im Scheck als Zahlungs« empianger die Postkaste, an die Zahlung geleistet werden soll, oder
eine andere Kaffe. Firma oder Person mit dem Zusatz„oder Ueber bringer" angegeben ist. Künftig werden die Postanstalten auch Schecks in Zahlung nehmen, in denen überhaupt kein Zahlungs- empfänger bezsichnrl ist.__ „Preußisches Aögeordnetenhaus und Fraueuftimmrechr" lautet daS Thenia . über das Wally Zepler , Regine Deutsch und Minna Cauer am Montag, den 17., abends 8 Uhr, im Lehre rvereinshanie (am Alexauderplntz) in einer Versammlung sprechen werden, die vom Arbeitsausschuß Groß- Berlin für Frauenstimmrecht ein- berufen ist. Weihnachtspofi au Hecrcsangehörige. Es wird nochmals darauf hingewiesen, daß Privaibriessendungen im Gewicht von mehr als 50 Gramm(Festpostpäckchen) an Hecresangehörige und zwar obne Unterschied, ob die Sendungen an HeereSangebörige im Felde oder an Angehörige im Inlands befindlicher Truppen gerichtet sind, für die Zeit vom 15. bi-� einschl. 24. Dezember weder angenommen noch befördert lv erden. Die Krebskrankhcit und ihre Bekämpfung behandelt der vom Magistrat im Verein mit der Verl . Mediz. Gesellschast veranstaliete gemeinverständliche Vortrag, den Pros. Dr. B l u m e n t h a l am Sonnabend, den 13., abends 8 Uhx, imLangenbeck-Birchow- Hause, Luisenstr. 58/59, hallen wird. Abrakadabra, das phantastische Ballett des A d m i r a l s- p a l a st e s, hatte am Dienslag die 3 0 0. Aufführung. Die Eisarena war umringt von einem beifallsfreudigen Publikum, wie es sich für solche Gelegenheiten gebührt. Unter den Zuschauern saßen breit und würdevoll drei haubengeschmückte Mädel aus dem Spreewald, wo der Eislauf kein müßiger Zeilvertreib, sondern eine im Winter landesübliche Fortbewegungsart ist. Die drei Spree - waldschönen werden sich nicvt wenig gewundert haben, daß man es im Eislauf zu so außerordentlicher Kunstfertigkeil und vollendeter Meisterschaft bringen kann, wie sie in diesem aus Schlittschuhen aus- geführten Ballett dargeboten wird. Der Dauersolg von Abraka- dabra ist verdient— und verdient waren die Ebrenlränze, die den bervorragendsten Darstellern und Darstellerinnen am Jubelabend überreicht wurden. Lichtspiele Tauentzieu-Palast. Ein neuer Film von Harry Piel hat Freitag, den 14. seine Uraufführung. Das Werk führt den Titel „Der stumme Zeuge". Die Hauptrolle spielt Esther Carena . Milchpauscheriu. DaS Geschäft der Vorkosihändlerin Frau Margarete Sahst, Neukölln, Weichselstr. 63, wurde vom Kriegs- Wucheramt geschlossen. Frau Sahst hatte wiederholt Milch, die ihr einwandfrei geliefert worden war, durch einen W a s s e rz u s a tz bis zu 60 Proz. verfälscht. Charlutteuburg. Ablieferung gebrauchter Haus- haltungsgegenstände. Der Magistrat will bedürftigen Kriegerfamilren bei der Emi-richtuing ihres neuen Haushaltes nach dem Kriege helfen. Er fordert daher dies ewigen auf, die über- flüssige Möbel, auch wenn sie beschädigt sind, entbehrliche Ueber- gardinen, Teppiche, Tischdecken, Läufer, Stoffreste aller Art und dergleichen in ihrem Besitz haben., auf, sie der Kriegswohlfahrtd- pflege zur Verfügung zu stellen. Uebevgardine<li, Teppiche und alle Stoff- und Warenreste können bei den städtischen Bezugsscheinaus- gäbestelben abgeliefert werden. Möbel und größere Warenbestände Warden van dem Haulptausfchuß für Vaterländische Hilfscrrbeit in Charlottenbiing, Lützower Straße 15, abgeholt. Wilmersdorf . ReuanSgnbe von Milchkarten. Durch die Brot- kommisfionen werden bis einschließlich Sonnabend, den 15, De- zember ausgegeben: Für jedes Kind im Alter bis zu sechs Fahren(geboren am 1. Januar 1912 oder später) eine Vollmilch- karte, für jede Haushaltung mit Kindern von über sechs bis zehn Jahren(geboren in der Zeit vom 1. Januar 1908 bis 31. Dezember 1911 eine Magermilchkarte für die betreffenden Kinder zusammen. Die Aushändigung dieser Karten an die HausballungS- vorstände erfolgt nur gegen Vorlegung zweckenisprechender Urkunden (nicht polizeiliche Anmeldung) nach besonderer AuSgabeordnung., Neukölln. Keine Erhöhung der kommunalen Kricgsuntcrstühung? Die Kriegsunterstützung wird gemäß der Verordnung des Bundes- ratS vom 1. November ab für jede unterstützte Person um 3 M. erhöbt. Die erhöhten Beträge gelangen vom 15. Dezember ab zur Auszahlung. Nach dieser Meldung des Magistrats wird also nur die siaat- liche Unterstützung erhöht, wäbrend der kominunale Zuschlag wie bisher bestehen bleibt. Dieses Verfahren des Magistrais muß umso eigenartiger berühren, als die für eine eventuelle Erhöbung der Gemeindezuschläge zuständige KriegSnoistandskommissioii überhaupt zu der ganzen Angelegenheit noch nicht Stellung nehmen konnte, � Winterocrsorgung mit Kartoffeln. Der Magistrat gibt be- kannt, daß in mehreren VcrteilungSstellen auf Grund der von den Brotkommissionen ausgestellten Bezugscheine WintervorratSkartoffetn (für sede Person 1 Zentner) entnommen werden lönnen. Die Ent- nähme hat spätestens bis Sonnabend, den 13., zu er- folgen. Später werden Kartoffeln auf Bezugscheine nicht mebr ab-
Die welfihe Nachtigall. Der Roman eines sterbenden Jahrhunderts, Von R. Francä. Bis die Freundin zurückkam, tvar sie wieder auf ihrem Platze. Jnzroischen brach der Hagel nieder. Erst klang es, als ob jemand Steinchen würfe, dann prasselte es wie trockenes Trommeln ohrenbetäubend, daß Marie aufschrie. „Jessas Marie, alle Fensterscheib'n haut's uo z'samm." Und sie eilte von Stube zu Stube, um die Läden zu schließen. Da nahm sich Regina ein Herz: „Du Marie, in dem Saal, wo der liegtz, kann ich die Läden zumachen und da kann ich il« gleich anschaun. Wo ist der Schlüssel?" Marie war froh, daß man ihr das abnahm. Draußen trommelten die Schlössen, hier wehten grausige Schatten und es war. als hockten die Gespenster all' der zu Tode Ge- marterten in diesen Winkeln. Knarrend drehte sich der Schlüssel... sie trat ein. Im weiten, niedrigen Gemach waren sechs Betten— aber nur tu zweien lag jemand. Der eine mit einem Laken zugedeckt— darunter ein im Todeskamps zusammengekrampfter Fuß— der andere versuchte sich aufzurichten, als er die weib- liche Gestalt erblickte— aber ächzend sank er wieder zurück. „Verflucht I" stöhnte er. Mit zwei eisernen Röhren waren seine Handgelenke umklammert, die an einer kurzen Kette an der Wand fcstgeschmiedet waren. Es war Peißer. So ver- wildert durch Schmerzen, Verwahrlosung und sich vorzehrende Wut, so herabgekomnien, daß Reginas Herz sich vor Plötz- lichcni Mitleid zusamntenkrampste. Sie konnte ihn doch nicht haßen... Rasch trat sie zu ihm. „Kennt er mich nicht? Bin d' Regina SeyboldSdorf, komm' für Reinhard. Er soll frei sein. Da schnell!" Und sie warf ihm die Schlüssel hin. Ein unartikulierter Freudenschrei entrang sich seiner Brust. Die Ketten klirrten. Der erste Schlüssel Paßte nicht. Auch der zweite nicht. Ein unsagbarer Schrecken befiel Regina. Das waren also nicht die richtigen Schlüssel. Da sprang mit Hellem Klang das Schloß aus. darauf war Peißer der Fesseln ledig.
Regina ging geschämig in die Ecke. Er raffte einige an der Wand hängende Kleidungsstücke zusammen. Aber nur mühsam kam er vom Platze; das verrenkte Bein bereitete noch große Schmerzen. „Da hat er den Schlüssel zum Gartentörk. Und da für'J Erste..." Sie Hatto von zu Hause etwas Geld mitgenommen. Und in einer warmen Aufwallung warf sie es ihm zu. „Rur fort, fort, jeden Augenblick kann jemand kommen. Viel Glück— mit Gott !" Und sie zog ihn aus dem Zimmer, denn sie hatte Tritte auf dem fernen Korridor gehört. Rasch sperrte sie zu, während er in den dunkelsten Winkel humpelte, und richtig fing sie gerade:wch rechtzeitig Marie ab, der, bange um das Aus- bleiben der Freundin, mit dem Nachlassen des Hagelschlages auch der Mut gewachsen war. „Hast ihn g'sehn?" fragte sie mit schaudernder Neugier. „Gel, der schaut aus?" „Grauslich," erwiderte Regina, uud ihre Zähne schlugen zusammen. „Und der andere?" „Ich glaube, der hat geschlafen." Mit dem Aufhören des Hagels hotte aber nun das Ge- Witter mit voller Wucht eingesetzt und Blitz auf Blitz folgte sich; uuunterbrochen rollte der Donner, mit hellem Rauschen stürzten Bäche zur Erde, die von den Eiskörnern für wenige Minuten in eine Winterlandschaft verwandelt war. Klirr, rum bum— schlug krachend der Blitz in der Nähe zur Erde nieder. Und die zwei Mädchen umschlangen sich laut weinend vor Angst. Dann begann Regina mit klarer Stimme zu beten. „Gib uns Gott Vater Rettung aus dieser Not... Der du bist iu dem Himmel, geheiligrt werde dein Name..." Sie betete mit einer Inbrunst, als ob sie den Himmel bezwingen könne. Wo war er jetzt, der arme Pcißer? Wohin wandte er sich? Sie hatte vor Aufregung vorhin kein Wort herausbringen können. Er hatte keine richtigen Kleider, sie hätte ihn im Keller verstecken, ihm Kleider besorgen sollen. Ob nicht jetzt daran alles scheiterte? Was hatte sie überhaupt getan? Sie hatte so namenlose Angst, aber doch wieder Geistes- gegenwart genug, daß sie die Schlüssel der Handschellen mit- genommen hatte. Und einen günstigen Augenblick konnte sie auch erhaschen, um sie zurückzuhängen.
Dann litt es sie nicht mehr länger unter diesem Dach. „Marie, ich mutz jetzt heim— d' Tant' wird schon da sein— es gewittert schon viel weniger." Wirklich war die Wut des Unwetter? gebrochen. Es regnete nur mehr heftig und die immer längeren Pausen zwischen Blitz und Donner verrieten, wie fern schon das Gewitter war. Der Posten am Tore nickte ihr zu und so lange sie in seiner Sehweite war, ging sie den Weg zu ihrem Hause. Als sie sich aber unbeachtet glaubte, schlich sie durch wohlvertrantc Hintergassen zu der Pforte des Spitalgartcns. Aengstlich sah sie sich um. Niemand war zu sehen— sie versuchte leise die Klinke— die Pforte war zu. Sie erschrak tödlich. Pcißer war also gar nicht heraus- gekommen. Er'war noch im Hospital. Vielleicht war es nicht der rechte Schlüssel. Die Flucht schien jedenfalls mißlungen zu sein. Ratlos wandte sie sich um. Da erschien eine dunkle, lange Gestalt im engen Gaßchen. Das Herz drohte still zu stehen. Aber eine bekannte Stimme sagte: „Er ist bei mir, Mazell, und in Sicherheit— sei sie un- besorgt." ES tvar Herr Schnurbein . Freundlich erläuterte er ihr, daß er gerade in diesem Gäßchen wohne und von seinem Hinterfcnster alles sehen konnte. Zuerst den Flüchtling uud jetzt sie. „Es ist Pflicht bor Gott und s' ist Menschenpflicht, da hilfreiche Hand zu bieten," sagte er güttg und ernst.„Denn ich Hab' immer's Gefühl gehabt, wenn der arme Bursch eine Schuld hat, so ist sie genug gesühnt mit dem, was er erduldet. Heut' morgen, da Hab' ich es so reckt im Herzen gefühlt, so ivas darf nicht sein. Wir verdienen nicht den Namen Menschen. Uno da Hab' ich auf einmal den Drang gehabt, ich muß �it- machen an dem armen Burschen, was die Menschheit in ihrer Irreleitung an ihm verbricht... Und da Hab' ich ihn zu mir genommen, wie er so ratloS am Gartentor ge- standen ist." Er sprach so warm und sah auch gar nicht mehr so lächerlich aus wie sonst mit seiner Glatze und feinem alt- väterlichen, verschlissenen Röckchen— Regina erkannte erst jetzt, daß dieser Mann grundgütige Augen hatte, und einen liebreichen, feingeschnittenen Mund. Eortj. folgt.)