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Kc.lS191$

Unterhaltungsblatt öes Vorwärts

§reitag, IS. Januar

Am Zentralgefängnis für Ober- bürgermeister. Em Sommernachlsraum von T h. Thomas. Nun war es also doch geschehen. Das Striegsernahrungsaml halte es durchgesetzt, daß gegen sämtlich� Oberbürgermeister die Anklage erboben wurde, damit sie wegen Schleichhandel , Ueberrretung der Höchstpreise und einiger anderer Straftaten vor dem Kadi kämen. Die Folge war. dost schon in den nächsten Tagen zahlreiche Er- Ilärungen nach Berlin gingen, in denen sich die örtlichen Behörden als befangen bezeichneten. Polizei, Staatsanwalt und Unter- luchnngsrichler erklärien rund heraus, daß sie von dem Schleich - Handel ihres Ober Vorteil gehabt hätten. Einige Ware» ehrlich ge- nug, dalüber hinaus zuzugeben, daß auch sie für sich schleichend zu handeln gezwungen wären. Sie meinten, nur eine Stelle, die völlig unschuldig sei, könne das Verfahren durchführen, dafür kämen aber die Behörden als Nutznießer nicht in Frage. So entschloß sich der öffentliche Ankläger, die verbrecherischen Stadrhäupter nach Berlin zu berufen. Hier richtete er zunächst das allergrößte Hotel für sie ein. Es reichte nicht aus. Den ersten Bürgermeistern folgten bald die zweiten; dann kamen die Lebens- tniiteldezcrnenlen, bis schließlich, ehe überhaupt das Verfahren richtig eröffnet war, schon 2400 Häftlinge hinter den schwedischen Gardinen saßen. Sckiwrerrgkeiten machte die Verpflegung. Sie wurden von der Stadl Berlin so schlecht beliefert, daß die Verwaltung dieses Rernralgefängnisies genötigt war, aus Umwegen größere Mengen ?iahriiirgSmitlel zu schieben. Wie sie ihr gerade angeboten wurden: aus Ost- und Westpreußen , aus Mecklenburg und dem Harz, überall kaulie sie teureAuslandsware' ein. Während oben die Alien in Sachen.Schleichhandel' immer mehr anschwollen, kochte man nuten lustig und mumer Wirsing und Erdkohlrabr direkt vom Bahn- hyf Slolp verladen zu Preisen, daß die Kessel schamrot wurden. Das wichtigste war die Auffindung von Richtern, die unbeiangen schienen, das heißt: von dem lebten. waS sie auf Karlen bekamen, nicht mehr. Ein öffentliches Ausschreiben in derDeulichen Juristen- ze.lung' ergab fünf Meldungen. Davon waren drei Selbsterzeuger, dem vierte» hatte seine Frau weiß gemacht, um ihn im guten Glauben zu erhallen, alles was auf dem Tisch käme, sei rationiert. Der fünfte aber kain direkt von der Front, konnte sich alsooch nicht gegen die zu vielen, wollte schreiben,.zivilen' Gesetze ver« gangen haben. Sie und die nötigen Hilfskräfte wurden an- genommen. Zunächst begann eine Sammlung der vielen Tausende von Ver- ordnungen des Kriegsernährungsamles, der Reichsstellen, der Pro- vinz und Kommunalverbände und anderer Behörden. Als diese Sammlung bei der Nummer 77 777 angekommen war, mußte der eben von der Front gekommene Richter schon ausscheiden, da in- zwischen seine heimliche Bulteiquelle entdeckt worden war. Kor zweiie hatte sich ernstlich vorgenommen, nur von dem zu leben, was ihm vre Berliner Lebensmittelkarte zuwies i er siechte dahin und floh wieder an den Tisch, den ihm seine Frauin gutem Glauben' deckte. Für die beiden wurden andere von der Front reklamiert. Die restlichen drei hielten bei ihren Zuschüssen als Selbsterzeugec glatt durch. Langsam kam es soweit, daß verantwortliche Vernehinungen ge­macht werden konnten. Inzwischen war die Zahl der Angeklagten ins Uferlose gewochsen. Neben den 2400 Stadtober-, Unter- und Miilelhäuplern. wurden 7000 Großunternehmer eingeliefert, die für ihre Werke Waren zu Wucherpreisen ergattert hasten. Dann marschierten ungefähr zweitausend Direktoren von staatlichen und städtischen Unternehmungen an, hierauf folgten die Leiter der Massenspeisungen, der Hotels und Privianlämter. Man'schätzt ihre Zahl auf(100. Berlin wurde eine einzige Kaserne von Leuten. mir schleichender Krankheit. Aber noch waren keine VerhaflSbefehle ergangen gegen solche, die Lebensmittel zu Wucherpreisen an- geboten, vermittelt oder in unehrlicher Weise zurückgebalten hatten. Die Sünder wurden nach Städten geordnet, das Alphabet reichte allein nicht aus, sie zu unterscheiden.' Zwischendurch erfolgten die Verhöre. Sie waren alle ziemlich gleichförmig. Hören wir einem solchen zu: .Sie sind Oberbürgermeister und M.b.H.?' .Jawohl.' Hm. Sie scheinen doch sonst ein ganz anständiger Mensch zu sein, wie konnten Sie nur so tief sinken?' Im Hinblick auf die Not meiner Mitbürger, Herr Rat' Ach was. Die Gesetze verboten es, basta. Das wußten Sie doch ganz gut. was Ihre Pflicht war. Sie... Sie... M. d. H.' Meine Pflicht kenne ich gut. Aber kein Mensch kann ein Gesetz

einhalten, das unter Umständen eine ganze Stadt zum Hunger zwingt, während Lebensmutel genügend angeboten werden. Wenn sie alle hungern, ist es nicht so schlimm, als wenn der eine Teil zusehen muß, wie die anderen eflen. Wer den Schleichhandel per- bietet, aber nicht den Mut hat, das, was vorhanden ist, so zu er- fasten, daß eine gerechte Verteilung möglich ist, hat Sisyphusarbeit geleistet I' Das sieht hier nicht zur Erörterung." Das läßt tief blicken. Dann will ich sagen: Wenn ich alle Wege erschöpft halte, wenn ich bei den Reichs-, bei den Staats-, den Kommunalbebörden abgewiesen worden war, was sollte ich tun? Nehmen wir fnicheS Gemüse. Seit Wochen ist kein Kohlkopf mehr in der Stadt. Telegramm aus Berlin : Nichts frei, alles für das Militär beschlagnahmt. Am selben Tage bietet mir jemand zwanzig Waggon Wirsing aus Hintenrum an. Mußte, ich da picht zugreifen, selbst wenn der Preis ein höherer war?' Nein. Sie mußten es zur Anzeige bringen.' So. Sehr gut. Und meine Mitbürger hätten zugesehen, wie die 20 Waggons auch noch andere wegschnappten. Nicht wir, die Reichsstellen haben versagt.' Erlauben Sie mal, wer ist eigentlich der Angeklagte, Sie oder ich?' Nicht Sie und nicht ich, sondern die Halbheit der verfügten Maßnahmen. Ein anderer Fall: In den Fabriken verkaufen die Unternehmer beschlagnahmte weiße Bohnen. Und im Sladlhause schlägt man dabei bald die Fenster ein, weil wir nicht genügend Nährmittel und Hülsenfrüchte habe». Da bietet man der Stadt telegraphisch tausend Zentner Bohnen an. Hätten Sie da nicht zu- gegriffen, wenn Sie auch noch so teuer find?' Na, und die Gesetze?' Na und der Hunger und die Zufriedenheit meiner Einwohner? Warum wird nickt einfach alles ersaßt und gereckt verteilt, warum ist eS möglich, daß die Waren nebenauS gehen? Warum können ganze Güterzüge angeblich beschlagnahmler Waren in...' Sie sind ein ganz verstockter Mensch. Gehen Sie wieder zurück in Ihre Zelle und lernen Sie einsehen, daß wir über das, was von oben angeordnet wird, uns nicht den Kopf zu zerbrechen haben. Wir haben einfach zu gehorchen, das ist unsere schöne und erhabene Untertanenpflicht.' So sprach der Richter. In dieser Tonart ging es mit einigen Abwechslungen immerzu. Dabei wurden die Häuser doller und voller. Stündlich meldeten sich neue Massen, die eingesperrt werden wollten. Die Verpflegung war nämlich dank dem Schleichhandel so gut geworden, daß es siehende Redensart in Berlin wurde: Du, wo kann man denn noch gut essen?' Im Z. f. O., da ist noch alles zu haben.' Schließlich versagte den Justizbehörden der Atem. Es stellte sich heraus, daß eS bester ist, die einzusperren, die nicht geschlichen halten, denen tat es nämlich am nötigsten. Zudem langte sür diese zur Not Dkoabit vollkommen aus. Im übrigen begnügte man sich, die Adreßbücher der Städte einzuziehen, um auf Grund' des EinwohnernachweiscS das Ver« fahren zu vcrcinsachcn. Nach und nach wurden sie alle i» die Sache verwickelt. Da aber viele Städte infolge Papiermangels lein Adreßbuch hatten, so wurde auch dieser Ausweg wieder auf­gesteckt. Etwas mußte aber geschehen, um das Rechtsbewußtseiu im Volke zu erhalten. ES wurde eine Verordnung erlassen, wonach sür den Schleichhandel auch Karten ausgegeben werden sollten. Da man ihn nicht ausrotten konnte, wohl nickt wollte, weil dann die siebenmal geheiligten Rechte der Landwirte allzu stark verletzt würden, so sollte er wenigstens durch Karten geordnet werden. Und das von Rechts wegen. Das Wachsen öer europäischen Völker. Europa hat seine Bevölkerung im letzten Jahrhundert mehr als verdoppelt. Sie betrug um das Jahr 1800 wahrscheinlich nicht ganz 180 Millionen und blieb 1000 nur um einen geringen Betrag von 400 Millionen enifernt. Die Zunahme war während des Verlaufs der Jahrzehnte nicht ganz gleichmäßig, am stärksten merkwürdigerweise gerade in dem Jahrzehnt der Freiheitskriege, sank dann bis zum Jahre 1850, um nunmehr fast regelmäßig wieder anzusteigen. Das Wachstum der Bevölkerung im letzten Jahr- zehnl des Jahrhunderts war noch etwaS größer als im zweiten. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenbang die Angaben, d:e Sarabon über die Versckiebung der Bevölkerung in Europa in den Mitteilungen der Wiener geographischen Gesellschaft macht. Es geht daraus hervor, daß bis gegen das Jahr 1370 die romanischen Völler die erste Stelle in Europa inne hatten, um sie dann end- güllig an die germanischen abzutreten. Die Slawen nahmen bis zum Jahr 1880 nach ihrer VolkSzahl erst den dritten Platz ein,

drängten danach aber die Romanen an die letzte Stelle zurück. Um das Jahr 1900 betrug die Zahl der gernranischen Völker rund 123, die der flämischen 121 und die der romanischen 107 Millionen. Die Slawen waren also nicht mehr weit davon entfernt, die Germanen einzuholen. Allerdings hatten sie sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im Gegensatz zur ersten nicht ganz so stark vermehrt, wie die Germanen, jedoch wurde das ausschlaggebende Gewicht Rußlands mit seinem Geburtenüber- schuß zugunsten der Slawen immer fühlbarer. Die Zunahme der Romanen war in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im Verhältnis noch nicht halb so stark, wie die der anderen beiden Volks- stänime. Auch über die Zunahme der Religionsbekennlnisse wird ein zahlenmäßiger Aufschluß gegeben. Die Zahl der Katholiken betrug im Jahr 1300 mehr als 55 Proz. der Bevölkerung Europas , im Jahre 1000 nur noch 45 Proz. Während der Anteil der gricchiich-orthodoxen zu je 25 Proz. ungefähr gleich steht. Immerhin waren die Orthodoxen mit sämtlichen Selten den Protestanten um etwa 5 Millionen überlegen._ wie lange bleiben Samenkörner keimfähig! VormalS glaubte man. Samenkörner könnten Jahrtausende hin« durch ihre Keimkraft beibehalten, und verwies dabei auf den so« genannten.Mumienweizen', Samenkörner, die in ägyptischen Pharaonengräbcrn gefunden worden waren und angeblich gekeimt halten. Dies hat sich jedoch als Irrtum erwiesen; Samenkörner, die so alt sind, haben sicher ihre Keimsähigkeit verloren. Daß Samenkörner jedoch gelegentlich recht lange mehrere Jahrzehnte hindurch ihre Keimfähigkeil behalten, ioeist jetzt Philippsen im .PromeihenS' ans Grund«üner Beobachtung auf der Insel Föhr nach. Bei dem Orte Groß-Dunsum liegt nämlich in der Nähe deL Strandes ein riesiger Küchenabfallhaufen, dessen Kulturschichten dem Zeiträume von etwa 1000 V Chr. vi« 1200 n. Chr. angehören. Während der Fahre 1803 bis 100S hat Philippsen Teile dieses Haufen« eingehend untersucht und dabei neben allerhand Altertümern mehrfach Rübsensamen aus- gefunden. Bei den Untcrsuchungsarbeiten wurde die abgehobene Erde rückwärts in Haufen geworfen, so daß die oberen Erdschichten von den tiefer liegenden Kuluirschichten bedeckt wurden. Nach kurzer Zeit keimten unzählige Rübsen. Da man die fruchtbare Erde jetzt als Dünger auf die Felder gefahren hat, zunächst der verwilderte Rübsen überall als Unkraut, während vor drei Jahrzehnten dieies Unkraut auf Föhr now unbekannt war. Freilich ist kaum anzu- nehmen, daß Samenkörner, die sieben Jahrhunderte alt waren, sich keimfähig erhalten hätten; man muß vielmehr zur Er- klärung annehmen, daß auf Föhr vor vielen Jahrhunderten Slübscil als Kulturpflanzen gebaut wurden, nach Verlassen der Ansiedlungen verwilderten und jahrhundertelang auf der alten Kulturstätte wucherten; als dann später der Boden wieder kultiviert winde, rottete man das Unkraut aus: namentlich alle Unkräuter, die mit Senf und Hederich Aehnlichkeit hatten, wurden vernichtet; war doch bei den Jnselfriesen eine gesetzliche Strafe auf jede vor- gefundene Senfpflanze gesetzt! So verschwanden alle Svurcn de§ Unkrautes; aber tief unten.Blieben die Samen erhalten; dank ihrem Oelreichtume blieben sie keimfähig. Welche Zeit sie im Erd- boden gelegen haben, bis sie keimen konnten, läßt sich allerding» nicht angeben._ Notizen. Die Freie Aussprache über Fragen der T h e a t e r k u I t u r, die der Orisverband Groß-Berlin im Ver« bände zur Förderung deutscher Theaterkuliur am Freitag, abends 7'/z Uhr, im weißen Saale der Philharmonie(Köthener Straße) veranstaltet, bildet den Abschluß der Lejstngtheatervcrsammlung vom 6. Januar. Freier Zutritt. Das tägliche Brot Europas . Die.Continental Times' bringt die folgende interessante Zusammenstellung.der Brot- rationen, die in den verschiedenen europäischen Staaten jetzt zur Verteilung kommen:Dentichland nnd Oesterreich geben aus den Kops und den Tag 280 Gramm, die Türkpi- 250 Gramm, Bulgarien 500 Gramm, England verteilt 200 G'.amm, Italien 350 Gramm, Frankreich nach den neuesten Nachrichten nicht mehr als England. Soweit das tägliche Brot in Betracht kommt, sind also die Ententeländer schlechter daran als die Zeniralmächte, die jene auszuhungern hofflen. DaS Bild wird nicht besser, wenn man Rußland noch den Ententeländcrn zurechnet. Rußland hat jeden Getreideexpor; verboten und hat dennoch Hungersnot im Lande. Dagegen stehen die Neutralen glücklicher da. Dänemark gibt die größte Ration auS, nämlich Slb Gramm. ES folgt Nor - wegen niil 285 Gramm. Schweden , Holland und die Schweiz müssen sich mit 2Ö3 250 Graiimi begnügen. Die britische AuShungcrungs- polirik der Zentralmächte ist den Urhebern über den Kops gewachsen. Sie hat das Gespenst einer WelthungerSnot beraufbeschworcn.'

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Töchter öer Hekuba.

Ein Roman aus unserer Zeit von Clara Viebig . Das glaubst du ja selber nicht." Ein ungläubiges Lächeln zog die Mundwinkel von Frau Rossi herab.Was könnte es mir auch nützen, Siege, Erfolge?!' Sic zuckte die Achseln.Friede?i Die Feindschaft, die einmal zwischen die Nationen gesetzt ist, wird dadurch nicht aus der Welt geschafft. Ich werde diesen Krieg nie verwinden." Sie seufzte, und dann steh sie mit Leidenschaft heraus:Ver- fluchen werde ich ihn, solange ich lebe I" Aber Lili I" Die Mutter versuchte mit glättender Hand über die zusammengezogene Stirn der Tochter zu streichen. Du bist zu viel allein. Du hast zu viel Zeit zum Grübeln, Kind.'Ich bleibe gern heute abend bei dir." Sie zog die Tochter ins Zimmer und setzte sich. Aber Lili sagte müde:Nein, nein, geh du nur nach 1 Hause. Bei mir ist eS nicht gut sein. Du bist froh und stark, hast ja auch alles Recht dazu aber ich?" Sie griff sich mit beiden Händen in das schöne blonde Haar.Ich bin wie zerstückt. Hin und her gerissen zwischen Liebe und Ab- ncigung. Zwischen Furcht und Hoffnung. So ein Sieg regt mich immer grenzenlos aus. Wenn sie läuten, ist mtr's gerade, als läuteten sie zum Begräbnis von etwas mir Teuerem. Ich muß mir die Ohren zuhalten, ich kann eS nicht anhören I" Frau von Voigt sagte nicht.ArmeS Kintsi, sie zog die Tochter auch nicht mitleidsvoll in ihre Arme. Das lvürde ja nicht viel bessern; Lili mußte selber sehen, wie sie sich abfand, sich durch- kämpfen. Nur sie allein konnte sich helfen aus diesenr Zwiespalt ihrer Gefühle, e-o fragte sie. nur. indem sie aufstand und sich schon ivieder zum Fortgehen anschickte:Hast du wieder einen Brief von deinem Mann?"- Es kam wie Belebung über die junge Frau.Einen Augenblick noch, Mutter!" Sie lief zu dem kleinen Schreib- tisch und holte den Brief her. Unter die Hängelampe tretend, las sie ihn. Sie las ihn nicht ganz vor, nur ab und zu übersetzte sie einen Satz.Wir sind nicht mehr in der vorigen Stellung. Wir sind vorgerückt bis� zum Monte Piano. Ocstlich Schluderbach griffen wir gestern an. Die junge Frau brach ab, verstört sah sie nach der Mutter

hin.Es scheint nicht gut gegangen zu sein. Dieser Brief ist vom zweiundzwanzigsien Juli, heut haben wir schon den zwanzigsten August. Ich kenne doch Enrico, hätten sie Erfolg gehabt, hätte ich schon längst wieder einen Brief. Es ist ihm dann ein Bedürfnis, von dem Sieg zu sprechen. Ach Gott, nnd ob es mich auch aufbringt, wenn diese Italiener siegen, so muß ich es ja doch fast wünschen." Sie drückte den Brief an ihr Gesicht.Es ist so schrecklich, ohne Nachricht zu sein!' Also bei Schluderbach!' Die Mutter versuchte, die junge Frau auf andere Gedanken zu bringen.Weißt Du noch, Lili, wie wir in Schluderbach waren? Sieben Jahre werden eS her sein. Auf der schönen Tiroler Reise, beim An- fang unserer Dolomiten-Tour? Wir kamen vorn Dürrnstein herunter, ein furchtbares Gewitter hatte unS überrascht, Vater hatte sich Blasen an den Füßen gelaufen, ich schleppte mich zuletzt nur noch, tropfnaß kamen wir in Schluderbach an. Aber schön war's doch. Unsere Sachen mußten in den Trocken- ofen, der Hotelwirt half unS aus: Du bekamst da? Sonntags- gewand von dem Tiroler Dirndl, der Stubenmagd. Beim Abendessen unten im Saal kam ein Herr an unfern Tisch ein berühmter Maler und bat, ob er dich malen dürfe. Weißt du noch. Kind?" Ich weiß es nicht. Ich weiß von nichts mehr. Sage nicht sieben Jahre siebzig Jahre sind es her!' In einer trostlosen Gleichgültigkeit erstarb die Stimme der jungen Frau. Sie zog die Stirn in Falten und ihre Augen blickten abwesend, wie mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sich äußerlich ruhig zeigend, aber innerlich durch eine unbestimmte Unruhe verstimmt, sagte die MutterGute Nacht!" Als sie unten an der Tür der Frau Krüger vor- überging, saß diese noch immer in der gleichen Stellung wie vorhin, tief über den Tisch gebeugt. Vor ihr lag ein großer Atlas und daneben ein dickes Buch. Jetzt hob sie den Kopf. DaS ,Gute 9!achr' der Vorübergehenden hatte sie auf- geschreckt. Frau von Voigt trat in die Tür. Sie wollte ihr ein paar freundliche Worte sagen: die Frau war sehr ordentlich, das Haus sehr sauber.Nun, Frau Krüger, wie sind Sic denn mit meiner Tochter als Mieterin zufrieden? Ich hoffe doch: gut. Viel Lärm macht sie ja nicht." Ich weiß es nicht." Die Frau sah sie mit ganz ver- lorcnen Blicken an. Aber dann, wie sich wieder zur Gegen-

wart zurückfindend, stand sie auf:Entschuldigen Sie I Ich habe die Frau Generalin nicht gleich erkannt." Sic studierten so eifrig etwas?" Die Krüger lächelte verlegen.Ich wollte mir mal Korsika aussuchen. Hier steht's im Buch", sie zeigte ein ausgeschlagenes KonversationslexikonInsel im Mittel- meer". Aber ich kenne mir doch nicht recht aus; ich kann sie nich finden." Sie wischte mit dem Zeigefinger hilflos auf der Landkarte herum. Hier." Frau von Voigt wies sie zurecht. Danke vielmals." Die Krüger lvar sichtlich erfreut; sie wurde gesprächig.Da iS nämlich mein Sohn jetzt." Sie sah wie gebannt auf die hingezeichnete Insel, die wie eine geballte Faust, die einen Finger ausstreckt, links vom italienischen Stiefel erscheint. Sie nickte verttäumt:Nu weiß ich doch wenigstens, wie eS da aussieht. Sehr groß is se nich. Zwcihundcrtneunzigtauseudundachtundsechzig Ein- wohner Hab' ich gelesen; gebirgig und stark bewaldet. Täler sehr fruchtbar, aber schlecht angebaut. Na, Gustav wird schön kucken; schlecht angebaut iS man bei uns nich gewohnt. Vieh- zucht und Fischfang, Thunfische die kenn' ich nich. Aber er wird sie schon mögen; er Fisch sehr gern., Mutter, koch grünen Aal', sagte er immer; und Weihnachten.polnische Karpfen'. Die wird er da ja nich kriegen.' Fran von Voigt hätte lachen können: Korsika und grüner Aal und polnischer Karpfen! Aber so lächerlich diese Zu- sammenstellung an sich war, in den Augen der Krüger war ein Ausdruck, der alles Komische verscheuchte. Frau von Voigt glaubte nie so viel zweifelnde Sehnsucht, so viel frommen Glauben und so viel anklammernde Hoffnung in einem Menschenblick gesehen zu haben. Das waren Augen, die Nächte um Nächre gewacht, viele Tränen vergossen hatten und noch viele mehr nicht ausgeweinte in sich verbargen. Augen. die sich fast blind gelesen hatten an den enggedruckten Daten langer Verlustlisten; Augen, die unentwegt voll bangender Liebe in die Ferne gespäht hatten; Augen, die nichts anderes mehr sahen, die nur nach dem einen blickten Augen der Mutter, die auf den Sohn wartet. Sie reichte der Krüger die Hand. Beivegt sah sie in das verfurchie Gesichl der Frau, das die Sorge gepflügt hatte wie der Pflug den Acker.Gebe Gott , daß der Krieg bald zu Ende ist! Das war heute wieder ein großer Sieg." (Forts. solgU