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Nr.S2191«

Unterhaltungsblatt ües vorwärts

dsütterstag, tl. Jebruar

Die allgemeine Nährpflicht. Er« Sozialprogramm vo« Jos. Popprr. N'.lf die Bedeutung von Jos. Popper-Lynksus, der am 21. Februar seinon 80. Geburtstag begeht, ist im letzten..Sonntag" bereits kurz hingewiesen. Sein so-- ziales Programm verdient besondere Würdigung. Max Adler hör sie in der.Wiener Arbeiterzeitung" mnster- gültig geleistet. Wir entnehmen ihr das folgende: Es macht das Charakteristisch« der Stellung Poppers zum so« zialen Problem aus. daß er es nicht als ei« abstrakt-theoretischeS Problem erfassen will, sondern ganz und gar als ein individuell- praktisches. Nicht um ein Erkennen von allgemeinen Gc- sctzmäßigkette» bandelt es sich ihm, dem er auf dem Gebiet des sozialen Geschehens sehr skeptisch gegenübersteht, sondern um e- n k o nk r-e-t es Helfer. Mit cttwr gewisse« Leidensckast- lichkeit wird jeder Wissmischast geradezu VerVoten., sich in dresc Sache einzumischen. EZ ist vielntehr von einem einfachen Grund- gefühl auszugehen, das zu einem ebenso einfachen Grundgedanken auszugestalten ist. Und dieses Grnndgefühl verlangt die Skr- pflichtung aller, jedem ohne Ausnahme die notwendige Lebens- Haltung zu sichern... Alle Menschen müssen n gleich leichter Weise satt werden können, und wenn die dazu nötige Quantität der ZtabrnngSmittel nicht zu beschaffen ist, so- müssen alle Individuen in gleichem Masse Hungern.'(Seite 10.) Der Kern der sozialen Frage ist demnach die Sicherung des Lebens für jeden einzelnen..Unter.sozialer Frage' verstehe ich," sagt Popper am Eingang seines Hauptwerkes,.die Frag,, nach einer Institution, die geeignet iit, jedem Menschen die notwendige okmiomische LebenShalbung zu sichern, ohne dass der­selbe von dem Willen anderer Menschen abhängig gemacht wird.' (Seite 9.) In der Tat, Popper hat eine tief« Empfindung für jene unmenschliche Eigenart unseres heutigen GesellschaftSzu- itandeS, der späteren, glucklicheren Geschlechtern wie ein gruseliges Märchen vom Nergangenheitsstaat erscheinen wird, und von dem sie nicht begreifen werden können, dass er Wirklichkeit war; ich meine jene unmenschliche Beschaffenheit unseres Daseins, dass in ibm das Leben für jedes Menschenkind nicht eine selbstverständ- liche, durch seine Geburt bewirkte Sache ist. fondern dass er sich dieses Leben erst verdienen muß, wenn er nicht zufällig reich zur Welt gekommen isr. Man versuche nur einmal, den fürchter­lichen. von der bürgerlichen Moral sogar zur Tugend gemachten Widersinn recht anschaulich auf sich wirken zu lassen, dass sich Men- scheu ihre Eristenz erst gegenseitig erkämpfen müssen, um den Standpunkt Poppers als nur zu begründet zu finden, dass wir von nichts anderem Höven wollen, solange nicht das Leben selbst für jedermann in seine Reckte gesetzt worden ist. Und das ist in buchstäblicher Genauigkeit zu nehmen. Mit Recht darf Popper es der UnveranÜoortlichkeit und Gedankenlchigksit des Alltags gegenüber immer wieder einschärfen:Solange ps vorkommt, dass auch nur ein einziger Mensch hungert oder in seiner Lebenshal« tung nicht gesichert ist, solange taugt die ganze GesellschaftSord- nung nichts.' Was nötig ist, um ganz in das eigentliche Wesen der sozialen Frage zn dringen, das ist. dass man Achtung ge- Winne vor der. ganz voran ssexnngslos gcnom- menen I n d i v i d u a l e x i st e n z. eine Mahnung, die jetzt in den Zeiten dieses furchtdoreih Krieges recht wie ein schriller Hohn in die Ohren klingt. Aber auch schon für die Zeit vor dem Kriege Hai Poppers Tadel volle Gültigkeit auch gegenüber so manchem sozialen Denker, dass im Grunde ein«beinahe absolute Gleich- giiltigkeit bestehe, ob die Menschen weiterleben oder nicht und wie sie leben', wenn nur das sagenhafteGanze" besteht und sich cnt- wickelt,Uns fehlt die Ehrfurcht vor menschlichen Existenzen, an Ehrfurcht vor anderen Dingen, die sie nicht verdienen, haben wir viel zu viel.' Aber ohne diese Ehrfurcht ist alle Moral eine Heuchelei und alle Gesellschaft ein Trug. Müssen Menschen»roch täglich in Rot und Elend zugrunde gehen, dannwerfe man nur unsere Moralbücher ins Feuer; solange unser ökonomisches Re- gmve nicht sozialisiert ist, nützen sie alle miteinander nichts". Darum also muss Ernst gemacht werden mit der Sicherung der Existenz:die LebenSnotwendigkeiten sollen jedem ahne Kampf mit den Mitmenschen zuteil werden; er soll" nicht nötig haben, talentiert, energisch, gelehrt, schön, schlau oder schlecht zu sein", um leben zu können, sondern leben dürfen kraft der einfachen und genügenden Tatsache seine» Daseins auf dieser Erde. Das Mittel hierzu entwickelt in ausführlicher Darlegung das Hauptwerk PoppersDie allgemeine Nährpslicht"(1912). Für jedermann soll ein Existenzminimum festgesetzt werden. Dieses umkassi für alle ohne Unterschied der Fähigkeiten alles das, was nach den Grundsätzen der Physiologie und Hygiene uottvcndig ist, und falls es beschafft werden kann, noch etwas darüber hinaus, also was zum behaglichen Leben wünschenswert ist. Dieses Mini- mum sichert jedem Nahrung, Wohnung, Wohnungseinrichtung,

Kleidung, ärztliche Hilft und Krankenpfleg«. Alle», was nicht zu diesem Minimum gehört, gilt als Luxus. Zur Produktion und Herbeischaffung alles dessen, was für die Bestellung der Minimum- Portionen erforderlich ist, besieht eme allgemeine Arbeitspflicht aller Gesellschaftsmitgliedcr. Sie bilden derart eine Nährarmee, in welcher alle Arbeitstauglichen beiderlei Geschlechts ausnabms- los eine bestimmte Anzahl von Jahren ihrer allgemeinen Nähr- Pflicht zu dienen haben. Die Zuteilung des Minimums erfolgt an jedermann nicht in Geld form, sondern in n n t u r e. Neben diesem in nstura verteilten Existenzminimum wird noch ein kulturelles Miniminn in Geldform an jedermann ausgeteilt, das es ermöglichen soll, Luxusbedürsnisse durch.Kauf aus der freien Wirtschaft zu befriedigen. Denn nur die Gegenstände des not- wendigen Existenzminimums werden im kollektivistischen Betrieb der Gesellschaft hergestellt. Zu diesem Zwecke wird alles, was zur Beschaffung dieser Güter erforderlich ist, vor allem also der Grund und Boden, der Hausbesitz, die nötigen Rohstoffe und Ma- schinen, obne. EntschädigunH der Eigentümer in gesellsckaftlichen Besitz übernommen. Ein Ministerium für Lebenshaltung Popper bat-etne solche Behörde schon in seiner ersten Schrift von 1878 verlangt als eine rein wirtschaftliche Institution hat sich mit der Beschaffung und Verteilung des Minimums zu befassen. Neben dieser Zwangswirischaft des Staates gibt es noch eine freie Staatswirtschaft, in welcher die StaatSmonopole betrieben werden(Post, Telegraph, Eisenbahn und eventuell noch ander«) und in welcher der Staat Gehalte, bezahlt. Natürlich kann jeder hier nur nach Vollendung seiner allgemeinen Arbeitspflicht tätig sein. Und endlich existiert noch die fteie Privatwirtschaft mit Kauf und freier Konkurrenz, in welcher alles Nichtnotwendige erzengt wird. In einer detaillierten Berechnung des Erfordernisses einer Be- Völker ung von beispielsweise 70 Millionen nach ollen Richtungen des Minimums welche das eigentliche Verdienst des Büches ausmacht, berechnet nun Popper, dass ein« Arbeitspflicht für Männer vom 18. bis zum vollendeten 30. Lebensjahr und für Frauen vom 18 bis zum vollendeten 25. Lebensjahr bei täglicher Arbeitszeit von sieben bis siebeneinhalb Stunden genüge, um alle Mittel zu bestbaffen, damit jedem GesellschastSgenossen sein not- wendiges Natural- und sein in Geld bestehendes kulturelles Mini- mum zugeteilt werden könne. Nach Ableistung der allgemeinen Nährpflicht wird jeder sein eigener freier Herr und hat ein ganzes Leben vor-sich, befreit von jeder materiellen Sorge und Unsicher- heit. Mit Recht hat sich Popper gegen den nur zu häufigen und gedankenlosen Einwand verwahrt, dass dieser Plan einer Siche- rung des Existenzminimums fiir jedermann eine Utopie sei. Denn nichts an diesem Plane ist etwa unausführbar oder verlaugt auch nur die Aufwendung anderer Kräfte als der gewohnten, mit denen wir auch heute bereits sowohl in technischer wie geistiger und moralischer Beziehung die Wirtschaft führen. Weder sind, wie Popper eichtig hervorhebt, hierzu neue Erfindungen und Ent- deckungen nötig, noch etwa, daß sich die Menschen in ihrem Eha- raktxr ändern, also etivaEngel' würden. Im Gegenteil, darin besteht ja gerade der Wert dieser Darlegungen Poppers, dass er ähnlich wie vor ihm schon einmal der von ihm vielfach benützte AtlantikuS das berübmte Wort Friedrich Engels ' in anschau- licher Weise rechnerisch beweist, der schon 1878 in seinem..Anti» Dühring' schrieb:Die Möglichkeit, vermittelst der gesellschaft- liehen Produktion allen Gesellschaftsgliedern sine Existenz zu sichern, die nicht nur materiell vollkommen ausreichend ist und von Tag zu Tag reicher wird, sondern die ihnen auch dm voll­ständige freie Ausbildung und Betätigung ihrer körperlichdck und geistigen Anlagen garantiert, diese Möglichkeit ist jetzt zum ersten- mal da, aber sie ist da.' »Vünadvrg. Dünahurg ist heute eine russtsche Mittelstadt, freilich ohne eigentlich ru'siickies Gepräge. Polen und Juden bilden den bei weitem größten Teil der Bevölkerung, die annähernd hiinderttauselld Seelen zählt; unter ihnen gehören etwa 40 000 dem jüdischen Be­kenntnis an. An dem Charakter der Stadl hat auck die gewalt- iame Russifizierung nichts geändert, durch die u. a. Dünaburg im Jabre 1303 der alte deutsche Name genommen wurde. Offiziell heisst die Stadt seither Dwinsk, was freilich im wesentlichen das- selb« bedeutet; denn bekanntlich ist Dwina der russische Käme des bedeutenden Stromes, der der Stadt von alterSher ihren Namen gegeben hat. In FriedenSzeiten trieb Dünaburg einen lebhaften Handel mit den Naturprodulten der umgebenden Landschaft. Hanf, Flachs und Bauholz aus den gewaltigen Wäldern de» Gouvernements Witebsl spielten im Handel der Stadl die Hauptrolle; nebenher ging ein reger Kleinhandel mrt den Bauern der Umgebung, die besonder« Sonntags in dichten Sckaren herbelsirönien. Dia Männer nach Landessute in langen Rocken und hohen Jüchtenstieieln, die Frauen in weissen Miedern, ebensolchen Kopstüchern und schreiend

bunten Röcken von gewaltigen«uSmassen. I« Strassenlcben Dünaburg? bildete, wie in allen westruisischen Städten, der jüdische Hausierer eine typische Erscheinung. Neben seinem Handel hatte Dünaburg auch eine nicht unbedeutende Industrie. Eine gross« Waggonfabrik arbeitete für den rulsischen Staat; auch die Brannt- Weinbrennerei, die gleichfalls im Dienste des Schnapsmonopols für den Staat arbeitete, hatte eure Reihe grösserer Betliebe. Weiterhin aab es Bierbrauereien in Dünaburg , die einen recht annehmbaren Tropfen herzustellen wußten. Die Stadt war seit jeher befestigl, neuerdings in dieser Eigenschaft wesentlich ausgebaut, und die Festungsanlagen waren durch weit vorgeschobene Werke sehr der- stäikt worden. Dazu kam die Bedeutung Dünaburg « a!S eines wichtigen Esienbabnknotenpunkts, in dem sich die beiden grossen Linien' Warschau Petersburg und Riga Orel kreuzten. DüitaburgS Ursprrng geht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Der Erbauer der Stadt war der OrdenSmetster Ernst, der im Fahre 1274 hier dem livländischen Ritterorden eine feste Niederlassung er- richtete Als im 18. Jaö>hunderr die Macht de« Konigrrichck Prien sich ausbreitete, fiel, im Jahre 15.31. auck Dünaburg an die Polen ; im Jahre 1576 wurde die Stadt jedoch vom Zaren Iwan Watsiliewiisch erobert und zum gtössten Teil zerstört. Der Polen - könig S'evban Bathorv eroberte Dünaburg zurück und begann im Jabre 1882 mit ihrer Befestigung. Im Fahre 1625 eroberten dre Schweden , 1686 die Russen zeitweilig die Festung, die aber bald wieder an Polen zurückfiel, bis im Jahre 1772 die erste Terlung Polen « auf anderthalb Jahrhunderte das Schicksal von Dünaburg entschied._ vortragsabenö Srutto Iraak . Sm Dienstaoabend las der Dichter Bruno Frank au « eigene« Werken. Unter den Autorenabenden der Sezession war dieser Vortrog e'ner der erfreulichsten. Was Frank bot. war schön, volle Reife, sowohl menschlich wie künstlerisch. Tieft de« Gedanken« und des Empfindens paaren sich mit edler Vollkommenheit der Form und persönlicher Kraft des Ausdrucks. Frank la« Gedichte und Prosa In den Gedichten spricht cm reiches, männlich bewußtes, kraftvolles Erleben der Welt. Kie sind stark bewegt und stark be- wegend. Besonder« die Gedichte, die Frank im Weltkriege ge­schrieben, rührten da« Empfinden mächtig auf in dem Willen, in allem Leid der Mutter Erde einen sittlichen Kern zu suchen: O wüssicn wir. ans Kreuz geschlagen, dass wir Erlöser find'. In einem Zvkln«.Einer Toten', dessen Stanzen von köstlicher Geschliffenheit und Klarheit der Diktion sind, gestaltet Fran! eine zarte Seelengeschichte. Liebe. Leben und Tod ringen um da! Geheimnis des Seins. Wie schön ein Wort wie dieses:Wenn er nicht fest in meiner Seele stünde. dein armer Name wäre heimatlos!" Die Novellen zeigen dieselbe Geschliffenheit des Ausdruck« und dieselbe Energie de« Formens. Dabei sind sie von der höchsten seelischen Femfühligkett. Vor allem die zweite:Das Böie', wirkte überaus stark. Eft erzählt, wie ein junger Mensch, noch eben der Lust de? Leben« mit allen Sinnen hingegeben in wenigen Augenblicken den ganzen Abgrund de« Lebens durchlebt. Er wird Zeuge, wie zwei brutale Schufte ein armes, kleine« Hündchen mit der ausgesuchtesten Grausantkeit quälen. Da sieht er eS zum erstenmal: das Böft. das Verbrechen, und, er fühlt den Wunsch. Gleiche? mit Gleichem zu vergelten. Aber aus einer Verwirrung stürzt er in die andere. Das ganze Problem von Täter und Richter steigt vor ihm auf, und er verstrickt sich so tief in diese Gedanken, das er keinen Ausweg mehr findet. In wenige Augenblicke ist das zusammen- gedrängt. Der Jüngling durchdenkt eine Welt. Oder vielmehr: es denkt in ihm. während er im Todessturz durch die Dinge hindurch stürzt. Es ist ganz fabelhaft, wie Frank das gemacht hat, dabei menschlich ganz tief erschütternd. Notizen. Vorträge. Am Freitag, abends 8 Ahr, beginnt die zweite Vortragsreihe der Gelehrten-Borlräge in der llranio mit dem Vortrag von Herrn Prof. E. B a u r überBevölkerungs- Politik und R a s s e n h y g i« n e, ei» Kapitel aus der ange- wandten Vererbungswissenichast.' Für diese Vortragsreihe, die immer an den Freitagabenden stattfindet, werden sehr ermässlgte Abonnemeniskarten ausgegeben. Eine kostenlose Fettquelle besitzen»Kunden massenhaft abfallenden Früchten der Robinie, die in den Schoten reichlich grünes Fett enthalten, in dem die Fruchtkerne eingebettet liegen. Wie Dr. Drexler im. Prometheus' mitteilt, kann das Fett entweder unmittelbar als Brotaufstrich genossen, oder in der Küche verwendet werden. Auch die Samen enthalten reichlich Fett. Man streift das Fett, das einen süssen, angenehmen Ge'chmack hat, ein- fach mit dem Messer von den getelttea langen Scholen ab, und die Sckioien selbst kann man als Brennmaterial verwenden.

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Töchter der ßetuba.

Ein Roman aus unserer Zeit von Clara V i e b i g, Die andere zuckte die Achseln:..WaS Genaues weiss man «ich. Sie wird sich wohl ooch'n Liebhaber angeschafft haben dazumal; darum entschuldigt se ooch die in de Ackcrsträsss. Neulich nähte eine Frau hier, die ihr näher kannte vor Gericht soll se dazumal gewesen sein, aber freigesprochen is se worden, aus Mangel an Beweisen. Der Sohn hat keine Arme mehr. Bei Schemisel haben sie ihm beide kaputt ge- schössen." Die Unglückliche! Gertrud mußte noch au die Seifert denken, als sie längst den kalten Hofraum verlassen hatte, in der Bahn sass und nach Hause fuhr. Das war noch schreck- licher, wenn man büßen muß im Alter, was man in der Jugend verbrochen hat! Und neben das verhärmte Antlitz mit den eingegrabenen Falten schob sich der Dombrowski rundes, immer vergnügtes Gesicht. ES war nicht viel zu verdienen beim Strohsäckenähe n. Eine Arbeit war's auch, die eigentlich jedermann machen konnte, der eine grobe Nadel grob zu führen verstand. Aber eS wa. jetzt nicht an der Zeit, wählerisch zu sein. Selbst für den. der Geld genug hat, war es jetzt nicht so leicht, immer satt zu werden. Brot, Fleisch, Bulter, Fett, Mehl, Zitcker alles nur auf Karten. Wenn der Krieg noch lange dauerte, würde man auch jeden Schluck Wasser, jeden Mund voll Luft nur gegen Karte zu schnappen kriegen! Und dass man dazu noch so ewig stehen mutzte, bis nian fem bisschen weg hatte. In Berlin . bei de» vielen Menschen war es am schlimmsten, da standen sie in langen Reihen vor den Butter- und Fleischerläden, Frau hintcr Frau, viele Hunderte; wenn man sich nicht dabei hätte etwas erzählen können, wäre es entsetzlich gewesen. So fand man sich drein. Hier draußen war es auch langwierig genug. Wenn die Dombrowski nicht gewesen wären, die für sie mitstand, hätte Gertrud Hiesclhahn hungern müssen; sie hatte nicht die Zeit, stundenlang zu stehen und zu warten, bis sie on die Reihe kam. Der Dombrowski machte die Steherei Spatz. Es ging jetzt gegenS Frühjahr, die Luft war linder, es war recht

angenehm, wenn der sanfte Wind so ums Gesicht fächelte und mit den losen Haaren im Genick spielte. Die schöne Minka empfand dies wie eine Liebkosung. Zwischen all den blassen Gesichtern fiel ihr Gesicht doppelt auf. Sie sah anders aus wie Margarete Dietrich, die sich auch mitunter mit ihrem Körbchen anstellte, so vertattert und verträumt dastand, daß sie gar nicht merkte, wenn sie endlich daran war. Meist aber kam Frau Dietrich selber, still und gedrückt und ganz verschüchtert; wenst man sie nach ihrer Tochter fragte, zuckte sie zuiammen- Margarete Dietrich wartete noch immer auf ihren Bräutigam. Im Schrank, in einen weissen Ueberzug gehüllt, hing das Brautkleid, zum Anziehen fertig; die Schneiderin, die selber einen Bräutigam draußen hatte, hatte eigene Liebe und Sehnsucht hineingcnäht. Falten und Fältchen, Säume und Säumchen waren wie hingehaucht, ein Duft, ein Traum. Jeden Abend, ehe Margarete ins Bett stieg, lüftete sie den verhüllenden Ueberzug im Schrank ein wenig, das Brautgewand guckte hervor: weiß, seiden, in glückverheißender Herrlichkeit. Dann stand sie. versunken in Betrachtung, ihre Augen hatten einen selig-vcrlorenen Aus- druck, ein irres Lächeln spielte um ihren Mund; sie konnte sich nicht trennen. Mit nackten Füßen stand sie lange, lange, sie merkte nicht, dass es kalt in der Siube war; spitz stachen ihre mageren Schulterknochen auö dem Hemdausschnitt, sie fror blau und merkte es nicht. Da, da hing ihre ganze Seligkeit! Zögernd nur ließ ihre Hand endlich den Zipfel fallen. Als letztes vom Tag, als Traum für die Nacht nahm sie das Brautgewand mit hinüber. Heute war ihre Mutter ausgegangen. Seit jenem Tage, an dem Margarete in die Kirche gelaufen war, um die Bertholdischc Hochzeit zu sehen, traute sich die Mutter kaum mehr fort. Damals hatten ihr zwei mitleidige Frauen die Tochter nach Hause gebracht, sie zwischen sich schleppend wie eine ganz Willenlose. Gretchen hatte, als sie der Mutter besorgtes:Skind, waL ist dir?' hörte, bstterlich an zu weinen gefangen. Sie schluchzte laut. Dann aber fing sie an zu lachen, lachte, lachte wohl eine halbe Stunde lang. Frau Dietrich konnte den Gedanken daran gar nicht mehr los werden, sie war immer unruhig seitdem. Heute hatte Gretchen ihr so zugeredet: Tante in Berlin würde es sehr übelnehmen, wenn die einzige Schwester nicht mal käme, ihr

zum Geburtstag zu gratulieren. Es war zudem Sonntag, der Laden nicht geöffnet, das Wetter schön, so entschloß sie sich denn; Gretchen war jq auch heute ganz wohl. Und so ruhig. Als sie schon beinahe am Bahnhof war, kehrte sie doch noch einmal um, es trieb sie förmlich mit Gewalt zurück: würde Gretchen auch nicht irgend etwas anstellen? Aber die saß ganz friedlich in der Vorderstube und las in einem Buch. Verwundert sah sie auf, als die Mutter nochmals eintrat. Frau Dietrich machte sich eine Ausrede:Habe ich vielleicht meine Handschuh hier liegen lassen Sie suchte im Zimmer herum. Aber, Mutter, du hast sie ja an!' rief Gretchen und lachte sie aus. Na, sowas!" sagte Frau Dietrich und lachte auch. Und dann gab sie ihrer Tochter einen Kuß.»Auf Wieder« sehen denn!" Nun war Margarete Dietrich ganz allein. Allein I Sie klappte plötzlich das Buch zu und sprang quf, mit einem seltsamen Lächeln sah sie sich um. Da war der alte Re- gulator au der Wand.tick tack' daS war der ein­zige Laut. Sonst nichts. Gott sei dank! Der sollte auch nicht tick-tack machen, das klang so hart, das schlug ihr immer auf den Kopf. Sie sprang auf einen Stuhl und hielt den Pendel an. Er machte sie ganz schwindelig mit seinem ewigen Hinundher. So nun war's gut! Sie atmete auf. Und dann lief sie nach hinten in ihr Stäbchen. Sie öffnete den Schrank und nahm das verhüllte Kleid heraus. Es auf beiden Armen vor sich hertragend, brachte sie es in die Vorderstube. Ah, heut hatte sie ja einmal das Reich für sich! Hier war's viel heller und der Spiegel auch grösser. Scheu sah sie sich um: es war ihr doch so, als ob jemand da wäre. Nein. Heut konnte sie ungestört Hochzeit spielen. Nun holte sie auch noch Klanz und Schleier herbei, die sie in der Kommode verschlossen gehalten hatte. Wie der Kranz sich freute, ans Licht zu kommen! Seine Myrte blühte plötzlich weit auf, das Grün seiner Blättchen wurde lcbenS- frisch. Er drängte sich förmlich auf ihren Kopf, er f?"ktc sich nieder auf ihren Scheitel. Sie mußte ihn aufsetzen, er ließ nicht nach. (Forts, folgt.)