Nr. SS—?H1S
Unterhaltungsblatt ües Vorwärts
Ireitag, 2H. März
Wer Wdß-'
Morgan, Kamerad,, wsc weiß morgen-- Vielleicht ziehst du mir morgen meine Stiefel aus, weil sts ganz.find und weil ich fie doch nicht mehr tragen kann.— Wer weiß, morgen--- Vielleicht leost du dich dori schlafen, wo mein Blut qe- flössen ist.-- Und dn träumst in meinem Blut von Geigen und von BrautschaftSkll'sen und von der himnielubcrblauten Heimat.— Morgen,. Kamerad, wer weiß, morgen.-- _ M ox Jungntckel. Uoyen uns Ulbert. 7? o h o n ist eine Kockigeschichtlichs Stadt. Zur Römer?.eit war sie bereus bedeutend. Dann, in der airistüchen Zeit, wurde ihr ?!ubm durch zwei heilige Bischöfe weit birBollsgelragen; das waren der beiiige MedarduS und der heilige EiicstuS{ aber auch in der weltlichen Ge'iänchte bot diese an wichtiger Stelle des Oilelausts belegene Stadl lange eine dedeutende Rolls geipielt. Hier wurde, wie eine Inschrift am Brunnen vor dem Kenbauie noch heute ver- liinde:, im Jahre 721 der Frankenlonrg Chilverich II. beerdigt: hier wurde i'iarl der Große 768 geweiht und Hugo Capek wurde in Noyon 987 Mm Könige gewählt. Nimmt mcnt noch hinzu, daß Ztoyon auch die Batetstadt Ealdiiis ist. so muß man zugeben, daß es ihrer Vergangenheit an großen Erinnerungen und Gestalten nicht fehlt. Aber ihre dauernde Bedeutung beruhte doch auf ihrer Stellung als Bischoisstadr. Die Bischöfe von Noyon— dos waren große Herren, denen ihr Amt zugleich Rang und Titel eirvö Grafen und Pa>r-5 von Frankreich verlieb, und als das Wahrzeicheu der Macht und des SniehenS dieser Anchofsstadt erhob sich die schöne Kathedrale, die nockz jetzt den Rithm und die Zier Nvyons bildet. Die Bischöfe ge- hörten immer den großen Aamilien des Lande? an. Sie legten Werl darauf, ihre Restdenz zu verichlinern, errichteten für sich und für die Chorherren vornshm-statllichs Gebäude und machten aus Noyon eine Art bischöflichen Versailles. Man aimet die Luit Meter allen feinen geistlichen Kultur m der Umgebung der Kathedrale, wo die Donikurien ihre etwas steif«, jedoch feine Eleganz mit Vor- Hosen, Pilustern, Schmuckvaien usw. in die neue Zte't hinübergerettet haben. Mächtig aber erbebt sich vor ihnen die Masse der Kathedrale von den beiden unvollendeten Türmen überragr. ein Bauwerk, das auch im Kalhedralenreichtume Frankreichs seiner Platz voll behauptet Sie gehört ihren Formen nach dem UebengangSstile an, der romanische und der gotbische Bogen sind hier fre« und offenbar ab- ftchlSvoll neben-j und miteinander verwandt, und die Wehnlichkeit der Formen der Kathedrale von Noyon mit denen der Kathedrale von Doornijk tTournai) läßt darauf schließen, daß es Noyon ge- wei'en ist. von wo aus die gothischeii Formen nach Flandern ein- gedrungen sind. Zu den schönsten Teilen des Innern gehört daS Querichiss mit seiner Dervelterhe von Fenstern und seinem schönen Srkadengange. Den Chor umringt ein Kranz von Halbkreis- förmigen Aapellchen. Seines Schmuckes ist die Kirche sowobl an der Schauieite wie anch im Innern durch die Stürme der Zeiten in weitgehendem Maße beraub! worden, um so gewaltiger wirkt der reine Eindruck des großartigen Raumbildes, da 3 sein Inneres bfetet. Der Glanz der Bnchos-Zzeiten ist dahin, und Nohon ist setzt nur * noch eine bescheidene Kreiöyouptftadt. die zudem— zum Äiück für ' ihr ehrwürdiges Gesicht— die moderne �Industrie verschont hat. " Aber die Stadt hat sich ihre Entthronung nicht gar sehr zu Herzen genommen; Royon ist ein heiteres, lebensfrohes Städtchen geblieben. Albert ist die Ancre-Stadt und trug auch den Namen dieses FlusieS als Bezeichnung bis inS 17. Jahrhundert. Erst zur Zeit Ludwigs XIH. erhielt das Städtchen seinen heuligen Namen, und zwar zu Ehren besten GLnstlnigS Albert von Luhnes. Schon da» malö war Albert weil über die Grenzen der Pilardie hinaus bekannt und berühmt; cS ist nämlich ein bedeutender Wallfahrtsort für Nord« f rankreich. Welche Bedeutung Albert als Wallfahrtstätra erlangt bat. zeigt stzine Kirche, ein alter Bau. der im 19. Jahrhundert im romanisch- byzantinischen Stile wiederhergestellt ist. Es ist eine große, drei« ichtffigee. aus Hausteinen und Ziegelwerk aufgeführte Basilika, deren Inneres überreich mit Mosaiken, Bildern und Standbildern aus« geschmückt ist. Albert ist ein kleines, fleißiges Jndustriestädtchen, das in Friedcnszeiten vielleicht 7900 Einwohner hatte. Seinen Wohlstand verdankt es den Erzeugnisten seiner Metallindustrie, zu einem gießen Teile ober den Zehntousenden von Wallfahrern, die alljährlich zwischem dem 8. und den 32. September, der Haupiwall» sährrszeii. Albert aufsuchen. Die Einwohner von Albert find be- sonders stolz auf ihre Stadt wegen ihrer reizenden Lage. Es ist bei uns wie in den Alpen, sagen sie, und so bezeichnen sie ihre Gegend als die„pikordilchs Schweiz '1. Der Ancrebach strömt hier zwischen lebkiafl bewegten Hügeln dahin; io gibt eS hier in der Tat .Berge11. Fetten und sogar auch einen Wasterfall.
Ostereier unö Osterhase. Wenn im Lenz der Sonnenbogen immer höher sich wölbt und >: ister. dem wärmenden Scheine des TageSgestirns die Saatfelder und Wiesen.ne» grünen, dann machen, wie«s Goethe so anschaulich schildert, die Städler ihren Osterspaziergang.hinaus, hinaus ins freie Land". Das ist die Zeil, wo auch die Haien ihr luftiges Wesen treiben und die Hühner mit dem Eierlegen sich nicht genug tun können. Gleichwohl gehören.Osterhasen" und.Ostereier" geschickn- lich nicht zusammen, und natmge'chichtlich erst recht nicht. Erst im 18. Jahrhunden bat irgend ein müßiger Kopf eine solche wüste Aus- geburt der Phantasie auSgeheckt, und es rst bekanntlich kein Narr io groß, daß nicht ein noch größerer feine Narrheit glaub«. So bar man in der Folgezeit nicht nur Nester mit Osterhaseneiern in Mukeen ousgeslellt, sondern in Anspach auch noch ein in klafst- ichem Jägerlatein abgeiaßres„Protocolhxm actum von dem Herzoglichen Jä rerhause, den 28. Juli 1758" dazirgelegt. das in seinen wei'enr- licbstsii Stücken folgendermaßen lautet:.Nachdem von dem herzoglichen Wrldmeister Bolz die Anzeige geschehen, daß bei dem Förster Fuhr- mann ein HacS, den er als jung aufgezogen, etliche Eier gelegt haben soll und solche Sache, weil es eine sehr seltene Begebenheit und Rarität, Serenisstme vorgetragen, als habe« Höchstdieielben aller- gnädigst befahlen, besagtem Förster den Befehl zuzusertiger!, daß er sogleich den Haaien nebst den Ehern wohlverwahrt anherobringeu und sich darüber all Protocollum vernehmen lasse, damit solche Eher nebst dem Haaien, der ine gelegt, in der Kimstlammer zur Rarität aufbewahrt und diele seine Aussage als ein glaubwürdiges Anestat beigelegt werden löurie. Sonach findet sich genannter Förster, 62 Jobre alt, geziemend ein und sagt, er habe den Hasen, als er mrt seiner Frau aus Kirmweyh gegangen, unterwegs an einer Eychen geiartgen und mit nuchHarrse gelragen. Dicker Haas den er mit Säumen und Getrehde ausgezogen, habe das Frühjahr darauf im Monat März in einer ollen hölzernen Truhen, worm er beständig eingesperrt gewesen, ein Eh. so groß wie ein kleines Hühnerei), gelegt. Anno 1757. auch im Mona: März, habe solcher ein zweites und im April das dritte, dann 1758 in obiger Zeit m etlichen Wochen das vierte und fünfte gelegt, welch? vier letzteren ganz rund geformt gewesen seien. Bon diesen fünf Ehern habe ernS Herr Reichs-Er zmarsch.il! Graf von Pappenheim geöffnet, worin nichts als weißes Wasier gewesen. Endet hierrn« ferne Aussage, daß er solch« im Falle Verlangens ehdtich erhärten könne." Hoffentlich hat mar, rhu mit der.scharfen Frage" verschont, denn was an der Sache Wahres ist, weiß jedes Kind, vor allem in Bade», wo die Kinder um die Osterzeit mit überlegener Natur- erkeimtnis fingen: I waß, was i waß, 'S Hinkele tfch der HaS. »DaS Hühnchen legi dre Eier In Wirklichkeit find eS aber nicht einmal Ostereier, sondern Grü ndonnerstagSeier. Von einem.Osterhasen" darf man-immerhin mit Re«t reden, denn der Hase, als Sinnbild der Fruchrbarkeit, war der Frühlings- göllin Ostara berlig und hat nach ihr, ebenso wie daS FrühlmgS- fest, seinen ollbeliebten, volkstümlichen Spitznamen. Das Ei aber steht i» Beziehung zum Donnergott«, dessen Herrschaft nun wieder beginnt, und dem der grüne Donnerstag imorrderheit geweiht war. Das leuchtende Dottergelb ist seine Leibsarbe, wie bei-all den Frühlingsblumen und ber den Tieren mir roten Pelzen. In Er- mnerung daran pflegen wir auch beute noch— neben dem ersten jungen Gemüie—Eror und goldgelben Honig zum Gründonnerstag« zu essen, und das Landvolk kennt auch sonst noch eine ganze Menge uralter. nun.abergläubriÄ" gewordener Bräuche, die daraus zurückgehen. Die Schalen der Ostereier werden so klein zerstampft,.daß keine HeM mehr darin nisten kann" sHolstein), und dann streut man sie übers Feld, um es gegen Donnerschläge und böse Wetter zu leihen. In vielen Gegenden vergräbt man ein Ei in dein Grunde, auf dem man ein neues HauS baut, um eS vor Brandschaden zu bewahren. in anderen wirit man ein Er, wenn das Hau« fertig ist, rücklings übers Dach, und gräbt eS dort ein, wo es niederfällt, dem Blrtze gleichsam den Weg— am Hause vorbei!— weitend; ein» der vielen hübschen, alren Rärsel, die sich auf das Ei beziehen, ver- dankt diesem Brauche seinen Ursprung:»Weiß wirfst du'S auö§ Dach, und gelb kommt'S wieder herunter." Für alle diese Bräuche ist aber, wie gesagt, nicht da« Ostersest entscheidend, sondern der grüne Donnerstag. Allen Erstlingen de« neuen Jahres, die man an diesem Tage zu genießen pflegt,~ schreibt der Volksglaube, und wohl rnit Recht, besonders heilsame Eigen- schaften zu; in erster Linie aber den Eiern, die man im Mittel- alter übrigens auch nicht.Ostereier", sondern»der grüne Aonnerk- tag" riannts. Desualb vergrßr auch ein echter Landmanu sich selbst Nicht, denn ein Gründonnerstagsei ist gut„gegen allerlei Brest und jeglichen LcibeSichaden". So ist auf dem Lande— natürlich in Frrsdenözeiren— der weit verbreitete Brauch entstanden, daß jeder am Gründonnerstag oder Ostertag— Herr wie Knecht — soviel Eier ef'en darf, alS er vermag; und eiu guter Magen vermag viel!... Ör. J. Kl.
Solöatenktmst. Der SoDat ist ein Ziveckmensch. Wenn er die Künste beschwörl.» so will er damit seinem Handwerk neue Arätte zuführen. Davon bat nun das Kriegspresteanrt Gebrauch gemacht. Es hat einen Wettbewerb unter Heeresangehvrrgen airsgeschrieben; die Aufgabe war die Erfindung eines möglichst wirksamen Anreizplakats für die achte Kriegsanleihe. Dre Ergebnisse dieses friedlichen Ringkampfes sind zurzeit in den Räumen der alten Sezefsioir(Kurfürsten - dämm 208/209) zur Schau gestellt. Es ist da ein buntes Durch- einander. Etliches erinnert an die Naivität der Wigwam- Zeichnungen; intsreffante Beiträge zur Psychologie der Kunst- erttwicklung. Anderes verrät den erprobten Mal« meist«, den Tapezierer, den Stukkateur und höber hinauf dann � den erfolgreichen Kunstgewerdeschüler, den Plakatmacher von Beruf, der« preisgekrönten Akademiker. In gleicher Mannigfaltigkeit haben sich die Stile eingefunden. Auch da bemüht sich das„Massisch«" neben dem„Modernen", der Naturalismus neben dem Symbolis- muS; sogar die allerneuesten Tricks, da» Knicken und Kanten der Flächen, das Kristallisieren der Körper, sind festzustellen. Insofern ist das Betrachten dieser Sokdatenkünste rech: amüsant. Aber doch ist hier mehr als ein Augenblicksderg-'ügen zu gewinnen. Mar: kann einen tiefen Eindruck bekommen von der Gesinnung, die unser Volksheer keinrzeichet. Da ist vor allen:: eine unbedingte Zuversicht in das Gelingen des großen Werkes. Aber lein lautes Geschrei und Geprotz. sondern eine gediegene Sachlichkeit, sozusagen BerufS-Selüstbewußtsern. Wenig Pathos(nur einmal ist- Hinden- bürg als Woran kostümiert); stellenweise, aber keineswegs üppig: etliche ßunioriftifa. Weitaus überwiegt die reine Und die praktische Vernunft und die Welt als Wiste und Vorstellung. Daß viel nach dem Frred.-n ausgeschaut wird, versteht sich. Für die Art, wie dies geschieht, ist eins der Plakate besonders kennzeichnend: die Taube spaziert vorsichtig aus einer Gasse von ausgestellten Schivectern heraus. Manch einer dieser Änleihvrediger Hai aber die Gelegenheit benutzt, um seiner heimlichen Sehnsucht nach der Heimat sich hinzugeben. Da blühen über den Mahnworten: Zeichnet, zeichnet. zeichnet! die Lichter der Kastanienbäum«; da plaudern die Dörfer und murmeln die Bäche, während darunter zu lesen steht: Am besten für die Seinen sorgt, Wer fein Geld dem Staate borgi. r. hr.
v!e �rfinAer finö an allem schulü! „Es wäre Wahnwitz, zu glauben", so schreibt George de la Fouckardiäre mit bitterer Ironie im.Oeuvre",»daß Wi: Herren sind über die zerstörenden Kräfte, die wir selbst ernrndei, dabei:. Wir sind vielmehr eine Zeitlang ihre Sklaven und fckließlicb ihre. Opfer. Um die Welt vor der jetzigen Katastrophe zu besöbsttzcn, hätte man damit beginnen müssen, das Pulver nickt zu erfinden. Ick habe da« Pariser Krimirralmuseum besucht, wo man mir zahl- reiche Wordin strumeute zeigte, die von erfindungsreichen Lsr> breckern geschaffen wurden. Zur KriegSzeii-würden diese Werkzeuge ihren Urhebern Ehre und Geld eingebracht haben, im Friebeu aber brachten sie ihnen ein« Unzahl von Gefiingnisjahren mn. Die fraglichen Erfinder wurden miiieidloS von der Police: gepackt und in den Kerker gesteckt, die Erfindungen aber verdammte man dazu, ewig geheim und vnbeniitzt zu bleiben. Lerder sind wir hinsichtlich der Erfinder anderer Meinung, als die Menschheit in früheren Jabrhunderten. Unsere Borfahren haben alle Leute, die etwas entdeckrerr oder erfanden, sofort verbrannt oder zumindest ein- gesperrt. Diese Haftung war die einzig richtige. Wenn damals auch der Erfinder de« Pulvers besetttgi und seine Erfindnng unter« drückt worden wäre, könnten wir uns beute alle des besten Wohl» seins erfreuen. Man sieht alro. nach welchen Prinzipien die neuer- drrlgS so viel besprochenen.Eiftndungsinstilute",.ErsiudungS« zentralen" usw. tätig sein sollten." Nottzea« — Statt Denkmäler Kultnrstrftuugen. Gine Denkfdjrift War Kriegerekwnng, die von der Deutschen Dichter» Gedachtnis-St-iftung, Harnburzg-Grotzborstel, herausgegeben, legt dar, wieviel sicherer das Andenken eine« geliebten Toten durch eine leben-spettdenoe Stiftung gepflegt wird, als durch ein Denkunrl� in Erz und Stsi«. Bereits sind der Stiftung Summen zugeflossi», die von ihr verwaltet werden. — Ein niederdeutscher Du u d, der„den Zusammen» fchlnß allen ntederdeutsche,: Kulturwillens in einen umfaiieichen Gesamtverband erstrebt, um Äsr»viedevdeutsckzen Bwvegung im weitesten Sinne einheitlichen Nachdruck zu verloihe»''. wurde in Berlin gegründet. Er will Organisal-ions- und VermitrlungSarbeit leisten, ohne die ihm angeschlossenen Verbände und Beveine� zu be-- etn trächtigen. Ein aus Vertretern aller wiederdeutschen Stämme und der verschiedenen Gebiete niederdeutscher Volksdrunspflege� zu» samm« ngesctz ter Arbeitsausschuß wird alle Gebiete niederdeutscher StammeSkultur sachgemäß beraren.
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Töchter öer yekuba.
Ein Roman aus unserer Zeit von Clara Liebig. (Schluß) Der Gehcimrat fuhr mechanisch nach dem Hut, und dann sah er sie an, so seltsam trüb und geistesabwesend» daß es sie ncit banger Ahnung durchzuckte. Die Frau nahm gar keine Notiz von ihr; den alt- modischen Kavottehut wie immer ein wenig zu weit vor» gerückt auf dem ongeglätteten Scheitel, starrte sie vor sich hin. Unbeweglich saß sie. Aber die Hände hielt sie nicht ruhig im Schoß, unablässig zupfte die Rechte an den Fingern der Linken:„Eins— zwei— drei." Murmelnd zählte die Ge- heimrätin. Und wieder:„Eins— zwei- drei." „Laß doch. Mutterchen." sagte der Mann. Und dann bittend:„Liebe Anna!" Er legte seine Hand auf die ihren. hielt so die unruhigen Finger fest. Was hatte die arme Frau nur? Die sah ganz verwirrt auS! Die Generalin fühlte ein Plötzliches Entsetzen. Der Geheimrat beugte sich zu ihr hinüber, er flüsterte ihr zu:„Wir hatten schlechte Nachrichten heilte morgen— sie sind wohl beide tot." � „Ihn Gottes willen!" Der Vater nickte, eS arbeitete zuckend in feinem Gesicht. „Der Hauptmann schreibt mir's. Unser Wilhelm wird ver» mißt. Pierrc-Bast-Wald— seit 15. November. Mein anderer ist am Argesnl gefallen. Das kam zu gleicher Zeit. ES war zu viel für Anna." „Eins— zwei— drei!" murmelte die Geheimrätin. „Drei. Söhne! Vor einem Jahr den ältesten;_ jetzt zwei. Meine arme Anna!" Traurig schüttelte der Greis den Kopf- Frau von Voigt griff nach feiner Hand, sie hätte laut herausweinen mögen: das ist zuviel! Zuviel! Sic biß sich auf die Lippen. Sagen konnte sie nichts» sie drückte nur diese arme Hand. Sie saßen sich stumm und bleich gegenüber, bis der Zug in Berlin einliss. „Wohin wolle« Me? Kam, ich Ihnen mit irgend etwas behilflich sein?'
„Wir wollen nach der Auskunstsstelle in der Kriegs- akademie. Meine Söhne waren Offiziers— vielleicht daß dort noch Näheres bekannt ist. Sie wollte nicht ohne mich bleiben, durchaus mit mir gehen. Komm, liebe Anna!" Er faßte seine Frau unter den Arm. Die stand wie eine ganz Hilf- und Willenlose. Langsam schlorrend setzte sie die Füße. Am Potsdanter Platz war ein großes Gedränge. Sie waren plötzlich in einer sich stauenden, aufgeregten Menschen- menge. Die Zeitungsverkäufer schrien und schwenkten ihre von der Druckerschwärze noch nicht getrockneten Extrablätter: , Friedensangebot der Mittelmächte!" WaS— was?! Hermine von Voigt glaubte zu träumen. Was schrien, die Menschen:.Deutschlands Friedensangebot?' Um sie her ein staunendes Atemanhaltcn, dann leise, wie beginnende Flut, ein Murmeln, von Mann zu Mann, von Frau zu Frau. Ein Sichanstarren, ein Stumm-mit-den- Augen-fragcn: war'S wirklich wahr, nicht bloß eine SensattonS- Nachricht??!ein, nein, da stand es ja zu lesen, amtlich be- glaubigt, mit klaren Worten, aller Welt zur Kenntnis: .Deutschland macht ein Friedensangebot/ Stand es so schlecht mit Deutschland , daß eS Frieden machen mußte, um jeden Preis? Um Gottes willen' Die Generatiu riß dem hersergeschrienen Zeftungsverkäufcr das Blatt aus der Hand, ihre Blicke jagten über hie Zeilen. Sie batte den Arm der Geheimrätin fahren lassen, mit beiden Händen hielt sie die Zeitung, die zitterte und knitterte, sie konnte die nicht ruhig halten. Sie wußte nicht, daß sie ganz laut las. Um sie drängten sich Menschen. teutc vormittag zwölf Uhr war in Berlin , Wien . Sofia onstantinopel den Vertretern der neutralen Schutzmächte die Note zur Uebermittelung an die kriegführenden Mächte der Gegenpartei überreicht worden: .Getragen von dem Bewußtsein ihrer militärischen und wirtschaftlichen Kraft und bereu, den ihnsn aufgezwungenett Kamps nötigenfalls bis zum äußersten fortzusetzen, zugleich aber von dem Wunsche beseelt, weiteres Blutvergießen zu verhüten, schlagen die vier Verbündeken vor» alsbald in FriedenZverhandlunzeu einzutreteu.'
Schlief sie und träumte einen glücklichen Traum? Hermine von Voigt faßte sich nach der Stint, die Buchstaben tanzten ihr plötzlich vor den Äugen, Himmel und Erde, der weite Platz und all die Menschen drehten sich um sie. Sie hatte das Gefühl einer gewaltigen Erschütlertmg und zugleich einer unbeschreiblichen Erlösung: das war nicht der Not- schrei einps Gemarterten, eines am Siege Verzweifeln- den. das war der vollbewußte, wohl überlegte Entschluß eines in seiner Kraft gefestigten, klar denkenden, trotz aller Widerwärtigkeiten unaufhaltsam dem endliche Siege Zu- schreitenden. Es>var zu plötzlich gekommen. AuS der tiefsten Nieder» gcschlagenheit zu der höchsten Ernmiigung— wer tonnte so rasch mit?! Fassungslos starrte Heimine von Voigt auf du: tanzenden Buchstaben. Und den Menschen um sie her ging es wie ihr: kein lauter Jubel, noch wagte sich keiner zu freuen. Nur wie ein Aufseufzen ging eS durch die Menge, wie ein befreiendes Atemholen. Was würden die Frauen sagen, all die armen Frauen, die Hunderte, die Tausende und Abertausende, die Mütter. die Gattinnen, die Bräute, die Schwestern, die Töchter? Her- minc von Voigt überkam es auf einmal mit einer schier über- wältigenden HoffnungSseligkeit: tväre es möglich, Friede? Oh. dann würde ein Lächeln die Gesichter erhelle;:, diese armen verdüsterten, betränten Gesichter! „Nun gibt es Frieden," sagte ganz laut jemand neben ihr. Der alte Geheimrat sprach es. Er legte feinen Arm um die Schultern seiner tcilnahmlos, mit starrem Blick da- stehenden Frau.„Anna, hörst du? Liebe Anna, unser Kaiser macht Frieden 1" „Frieden," stammelte die Arme nach. Es waren nur die Laute, der Sinn noch nicht erfaßt. Dann aber, als sei ihr plötzlich mit diesem einen Wort die Besinnung zurückgekehrt, belebte sich ihr starrer Blick. Sie fragte:„Frieden?" Und dann stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen:„Meine Söhne! Oh meine Söhne!" Beide Hände um den Arm des Mannes faltend, hob die Mutter ihr leidverstörtes Antlitz auf zum Himmel. Und wiederholte;.Friede»!"