Nr. 177 ♦ 35. Jahrgang
1. Seilage öes vorwärts
Sonntag, ZS.�tmhHlS
GroMerün ßilmhelöenverehrung. Diese moderne Krankheit grassiert jetzt niit einer solchen Heftigkeit, daß eine Steigerung kaum mehr denkbar ist. In erster Linie sind es höhere Backfische, die von ihr erfaßt und bedroht werden, so etwa im Alter von 15—30 Jahren, doch sind auch Erkrankungen bis in die spätesten Ausläufer des gefährlichen Alters durchaus nicht selten. Am besten lassen sich die Variationen der Seuche an einigen Beispielen beleuchten: Ein Plakat sucht Leute, die gern Filmschauspieler werden wollen. Ich bitt' Sie, wer will nicht gern Filmschauspieler werden? Weiß doch so ziemlich jeder, daß ein ungeweckteS Flimmertalent in ihm der Erlösung harrt. Also kann der geriebene Kopf, der hinter dem Plakat steckt, noch die aller- gnädigste Miene dabei aufstecken, wenn er den verzückten Kunstjüngern ein paar Hunderter abnimmt, um ein wenig Hokuspokus mit ihnen zu treiben. Genannt.Ausbildung". Wonach die armen Göhren , deren Gesichter schon einen film- dusenhaften Ausdruck gewinnen, Engagement suchen. Ge- nannt„Einbildung".... Ein Kaffee irgendwo im Deutschen Reiche.(ES ist schon überall passiert.) Ein Kaffee oder Restaurant voll gebildeter Menschen. Die wissen, daß man nicht das Messer durch die Zähne zieht und überhaupt, was Anstand ist. Eine Dame betritt in Begleitung eines Herrn das Lokal und setzt sich unauffällig an einen Tisch. Plötzlich: ein Stühlerücken, ein Raunen, das immer mehr anschwillt, ein Ruf: Die Henny Porten ! Ein Menschenknäuel schiebt und drängt sich um den Tisch, die Hintenstehenden klettern auf die Marmorttsche, Gläser, Teller gehen in Scherben, einer fällt in die Fenster- fcheibe. Der Wirt tobt, von der Straße drängen Neugierige herein, die Kellner schieben die Manschetten zurück, der Wirt klingelt nach der Polizei. Der Begleiter dcS FilmsternS brüllt, bahnt mit den Fäusten eine Gasse. Ein Straßenkehrer stellt seine Tättgkeit ein, schüttelt den Kopf und meint, die Leute hätten einen Vogel. Aber er ist nur ein Plebs, ein Prolet, und seine Meinung ist unmaß- geblich. Im Winter. Der Schnee fällt auf einen Menschenhaufen, der in Muffs und Pelze gehüllt, auf der Straße steht. GibtS Stiefel? wirb ein Schwein verpfundet? Rein; Max Landa spielt den Joe Deebs. Seine Kunst ist zwar nicht weit her, aber er trägt ein Monokel und einen tipptoppen Anzug und fängt Verbrecher mit lächelnder Kalt- schnäuzigkcit... nur so im Handumdrehen. Und ist un- lviderstehlich. Die Beispiele ließen sich ins Ungezählte vermehren. Warum ich sie anführe? Weil es Mießmacher gibt, die behaupten, in deutschen Landen gäbe es im fünften Kriegsjahre keine Begeisterung, keinen Sinn fürs Heldenhafte mehr. O, ein Mann, der, keß angezogen, der mit der Zigarette zwischen den Zähnen, an der Leiche eines zur Strecke Gebrachten steht, kann schon noch auf fanatische Bewunderung rechnen! Umso mehr, als für ein gewisses Publikum der graue Mann mit dem zerschossenen Arm- schon lange nicht mehr „aktuell" ist..._ 10 Jahre Berliner städtische Strastenbahne». Arn 1. Juli sind e3 10 Jahre, seit die Stadt Berlin eigene Straßenbahnen in Betrieb genommen hat. ES waren zunächst die beiden Linien.Weddingplatz— Landsberger Allee" und.Stettiner Bahnljof— Landsberger Allee " mit 5,7 bezw. 6.7 Kilometern Linienlänge. Die Städtischen
Straßenbahnen verfügen setzt über 2 Straßenbahnhöfe in der Kniprodestraße und in der Urbanstraße, wo im ganzen t7S Wagen untergebracht sind, während der Betrieb vor 10 Jahren mit tv Wagen aufgenommen wurde. Da» Bahnnetz hat sich von IS Kilo- meiern im Jahre 1S08 aus 83 Kilometer Gleisanlage vergrößert, wovon 13 Kilometer aus die Mitbenutzung anderer Straßenbahnen entfallen. Der Berkehr der Slädtiichen Straßen- bahnen ist von 6 Millionen Personen im ersten BeniebSjahre auf 40 Millionen gestiegen, demgemäß haben sich auch die Jahre«- einnahmen von 840 000 M. auf nahezu 4 Millionen Mark erhöht. Da» Anlagekapital belrägt zurzeit 18 Millionen Mark(gegen 3 Millionen Mark im Jahre 1808). Die Nentabilität bat sich in den 10 Jahren so gestaltet, daß außer der üdtichen Verzinsung noch für die Tilgung des Anlagekapital» 1,8 Millionen Mark verwende: und ebensoviel dem Erneuerungsfonds zugeführl werden konnten, überdies aber an Reingewinn im Lauf« der 10 Jahre noch rund 8 Millionen Mark erübrigt wurden. Da» Personal der Städtischen Straßenbahnen umfaßt zurzeit 600 Personen, der Betrieb wird seit Anbeginn von Dr.-Jng. Dietrich geleitet.
Verband für dt« Bekämpsnng der WohnnngSnot. Zur Fortsetzung der Berbandlungen über die Bildung«in«S Verbände» für die Beiämpfung der Wohnungsnot findet am Donnerstag, den 4. Juli, eine weitere Sitzung der Groß-Bcrliner Gemeinden im Berliner Rathau» statt.
Der Verband Grost-verli« und da? MSggelseegelSnde. Die Nachricht, daß der BezirkSauifchuß in Potsdam auch den neueren Beschluß der Cöpenicker städtischen Körperschaften über den Verkauf von 60 Morgen Ufer- und Waldgelände am Kleinen Müggel- see zur Anlage einer Bootswerft dir Genehmigung versagt hat, wird bestäiigt. E» ist erfreulich, baß der einmütige Einspruch der Oesfentlichkeit gegen die drohend« Verschandeluug«ine» der schönsten Landschaftibilder in der Umgebung Berlin » zum Erfolge geführt hat. Ebenso erfreulich ist es, daß der Verband Groß-Berlin sich seinerseits nicht nur mit einer ent- schiedenen Srellung gegen den Verkauf de» llfergelände» an der Kleinen Müggel begnügt, sondern auch, wie wir erfahren, sich grundsätzlich bereit erklärt hat, mit der Stadt löpenick in Ver« Handlungen über die Erwerbung de« Wald- und llfergelände» und gegebenenfalls auch weiterer Forstflächen der Stadt Köpenick ein- zutreten._ Bessere Straßenbeleuchtung i« Groß-Berlin. Auf Veranlassung de» Oberbefehlshaber» in den Marken soll zur Verminderung der Unsicherheit auf den öffentlichen Straßen Groß-Verlin«, abgesehen von anderen Maßnahmen,«ine Ver- siärkung der öffentlichen Beleuchtung vorgenommen werden, und zwar soll die gesamte Straßenbeleuchtung umgehend bi» aus 40 Proz. de« FriedenZbcdarfS aufgebessert werden. Bei der Vornahme dieser Verbesierung soll nicht allein der verkehr maßgebend sein, e» soll vielmehr eine möglichst gleichmäßige Be- leuchlung der Straßen bi« in die Außenbezirke der Stadt ein« gerichtet werden. Der Magistrat Berlin hat deshalb bei der Stadtverordneten-Versammlung beantragt, die Mittel hierfür zu bewilligen und zwar nach einer genauen Berechnung in Höhe von über 1 Million Mark._ Berliner Lebensmittel. In der Zeit vom 1. bi» 7. Juli wird an diesenigen Kunden, die in die Speisefettkundenlisten der in den Bezirken der 106.— III., 171., 202., 208., 213., 220. und 221, Brotkommisfion— Gegend Danziger Straße— cuigetragen sind, vro Kopf 125 Gramm Käse verteilt in den ienigen Geschäften, die durch«in SuShänge« fchild.verkauf von KiOe der Fetiftelle Groß-Berlin" gekennzeichnet sind,— Auf Abschnitt 34 der Süßstoffkarte R dürfen rm Juli zwei Päckchen Süßstoff H-Packung zu je 25 Pf. verausgabt und ent- nommen werden. D:« Abschnitte 1—83 haben ihre Gültigkeit ab 1. Juli verloren und dürfen nicht mehr eingelöst werden.
Futterstoff-Ersparnts. Die ReichSbefleidungSftelle veröfftnilicht eine Bekarmtmachnng, wonach Männerbekleidungsstücks nicht mehr in dem Umfange wie bisher mit Futterstoffen verseben werden dürfen. Bei dem am
Halse geschloffen z» tragenden Joppen dürfen nur noch die Aermel gefüttert werden. Ausgenommen find solche schwere Winter- jovpen, die an Stell« von Wintermänteln getragen werden. Die Rückenteile von Röcken und Jacken der Männer« und Knaben- oberkleidung dürfen überhaupt nicht mehr, Westen-Rückenteile nur noch mit einfachem Futter versehen werden. Mäntel, Ueberziebrr, Paletot« für Männer und Knaben dürfen im Rücken zwar auch fernerhin gefüttert werden, sedoch nur bis zum unteren Rande der Handseitentnicken. Auch die Anzahl von Taschen soll eingeschränkt werden. Röcke und Jacken der Männer- und Ktiaben- oberlleidung sollen nicht mehr als vier, Westen und Hosen nicht mehr al» drei Taschen enthalten. Die Verwendung aus reinen Papiergarnen hergestellter Futterstoffe ist unbeschränkt erlaubt. Von diesen Bestimmungen werden nur Kleidungsstücke betroffen, die neu angekertigt werden, sie gelten nicht für Umarbeitung getragener Stücks, soweit da» bisherige Futter verwendet wird.
Verschärftes Bezvgscheinverfuhren bei Kleider- anschaffnng. Dl« ReichSbekleidungSstelle hat angeordnet, baß in Zukunft vor Ausstellung eine« Bezugscheine» regelmäßig schriftlich« Bestandsversicherungen abzugeben sind und daß die Be« zugscheinbehörden bei Verdacht unrichtiger Bestandsversicherungen stichprobenweise al« Verwaltungsmaßnahme anzusehend« h ä u s» lich e Nachprüfungen vorzunehmen haben. Alle Antragsteller, die wegen zu hohen Bestandes einen Bezugschein nicht erhalten können, sollen auf die Möglichkeit der Bezugscheinerlangung gegen Abgabebescheinigung hingewiesen werden. Zur wetteren Förderung der Papiergarnindustrie ist ferner an- geordnet worden, daß Gebrauchsgegenstände aus reinen, Papiergarn auf den Bestand an KleidungS« und Wäschestücken nicht anzu« rechnen find._ Die Anmeldungen zur Jugendweihe werden von allen.Vor« wärtS"-Speditionen sowie vom Bezirkssekretariat. Lindenstraße 8, 2. Hof III(Tel. Moritzplatz 364) mündlich oder schriftlich entgegen- genommen. Um festzustellen, ob sich infolge der wachsenden Be- teiligung diesmal die Veranstaltung von zwei Feiern notwendig macht, sind die Anmeldungen bald zu bewirken. Gefährliche» Spiel. Ein Leser schreibt un«: In der Nähe de» Hohen st aufen-ParkeS wohnend, habe ich oft Gelegenheit, Knaben bei einem höchst gefährlichen.Spiel" zu beobachten. Mir Hilfe«ine» Bogen» schleudern sie Pfeile(Holzstäbe), an deren Spitze mir Hilfe von Pech oder Teer eine Stecknadel befestigt ist. Die im Park spielenden Kinder, die Paffanren und sogar die Um- wohner sind durch diese» Sviel andauernd gefährdet und können leicht um ihr Augenlicht toinmen. Flog doch eines Abends, als ich lesend am Fenster saß, ein solcher Pfeil auf mein Fensterbrett. Eltern und Lehrer würden sich um die Allgemeinheit verdient machen, wenn sie die Knaben auf da» Gefährliche ihrer Belustigung aufmerksam machten. Kaffee-Ersatz. Der Beffellabschnltt 12 der Kaffee- Ersatzkarte muß in Berlin und den V o r o r t e n in der Zeit vom 30. 6. bi» 3. 7. bei den Kleinhändlern abgegeben werden. Auf be» Gartenbühue de» Rose-Theater» wurde am Freitag ein« von Alfred Berg verfaßte und von Viktor Holländer vertonte AuSstattiingSrevue.Bitte recht freundlich' zum ersten Male aufgeführt. Der Verfasser hat auS der Fülle der LtriegS« erscheiirungen eine Reihe markanter Typen herausgegriffen, die mit mehr oder minder guten Witze» auf die Lachmuskeln der Zu- Hörer wirken. Ein bißchen reichlich viel.KriegSpatriotiSmii!." läuft dabei freilich mit unter. Daneben aber finizen sich recht gelungene Einfälle und zahlreiche melodiöse Weisen, so daß man dem neuen Werke eine längere Zugkraft weissagen darf. Nur möchten wir raten, daß bei den Wiederholungen der Rotstift de» Regiffeur» daS Stück auf ei» er« trägliches Maß zusammenstreicht, und daß nicht wieder Pausen von dreiviertel Stunden die Handlung auSeinanderreißen. Trefflich unterstützt wurden Verfasser und Komponist durch die Darsteller. von denen vor allem Hermann Krause, Siegwart Bergmann («in Neuling mit sehr guten Stimmitteln), Kurt Nehrk«, Hedy Krönet und Meto Schmidt-Noster zu nennen sind. Im Sportpark Treptow soll am heutigen Sonntag die Ent« scheidung de».Memento 1814" fallen. Sowohl in den beiden
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Loöz.
Das gelobte Land. Roman von W. St. R e y m o n t. „Schneller I Du kostest so viel wie eine gute Maschine und arbeitest so langsam," zischte er und schluckte die Pillen herunter. Der Lakai reichte ihm auf einem silbernen Tablett ein Glas Wasser. „Arsenik läßt er mich schlucken, daS ist so eine neue Heil- Methode. Na. wir werden's ja sehen, wir werden sehen.. „Ick sehe schon eine große Besserung, Herr Rat." „Still, Hammer, es hat dich niemand danach geftagt." „Machen Sie die Arsenikkur schon lange durch, Herr Rat?" fragte Boroiviecki. „Den dritten Monat vergiftet man mich schon. Kannst gchn, Hammer l" warf er hochmütig ein. Der Doktor verneigte sich und ging. „Ein sanfter Mensch, dieser Doktor, wattierte Nerven hat er!" Borowiccki lachte. „Ich wattiere sie ihm mit Geld. Ich zahl' ihm gut." „Es wird telephonisch angefragt, ob Herr Borowiecki da ist. Was soll ich sagen?" meldete in der Tür der Beamte vom Dienst. „Gestatten Herr Rat?" Buchholz nickte nachlässig mit oem Kopf. Karl ging hinunter ins Kontor, wo das Telephon sich befand. „Borowiecki, wer dort?" fragte er, den Hörer ans Ohr legend „Lucy! Ich liebe dich!" zitternd drangen ihm aus der Ferne die Worte ii»s Ohr. Närrin I dachte er und lächelte ironisch. „Guten Tag." „Komm' abends acht Uhr. Du wirst niemand antreffen. Konim'. Ich warte. Ich liebe dich. Hör' mal', ich küsse dich. Ans Wiedersehen." Das Telephon verstummte. „Närrin I Das wird schwer werden mit ihr. Sie wird sich nicht leicht zufrieden geben." dachte er. nach oben zurück- gehend, und war durch den originellen Liebesbeweis mehr beunruhigt als erfreut. Buchholz blätterte, im Fauteuil zusammengekauert, mit dem Stock auf den Knien, in einer dicken, von oben bis unten mit Ziffern bedruckten Broschüre. Er war so darin vertieft, daß er jeden Augenblick mit der Unterlippe nach dem kurz geschorenen Bart schnappte. In der Fabriksprache hieß
daS: Er saugt an seiner Nase. Es war da» bei ihm ein Zeichen größter Vertiefung. Auf einem niedrigen Tisch neben ihm lag ein ganzer Haufen, von Briefen und verschiedenen Papieren, die ganze heuttge, soeben eingetroffene Post, die er gewöhnlich selbst durchsah. „Sie werden mir die Briefe sortteren helfen, Herr Boro- wiecki. Sie könnest' jetzt gleich Knoll vertreten, und übrigens will ich Ihnen auch ein Vergnügen machen." Borowiecki blickte fragend. „Mit den Briefen. Da werden Sie sehen, wa» man mir für Briefe schreibt, und worum man sich an mich wendet." Die Broschüre legte er weg. „Pudel, her damit!" Der Lakai schüttete ihm alle Papiere vom Tisch auf die Knie. Mit unglaublicher Schnelligkeit sah sich Buchholz die Kuverts an und warf sie mit einer entsprechenden Bemerkung hinter sich:„Kontor!" Der Lakai fing die großen Kuvert? mit Firmenauf- schrifteu in der Luft auf. „Knoll!" An den Schwiegersohn adressierte Briefe. „Fabrik!" Diese waren an die Firma adressiert, aber für die An- gestellten der Fabrik bestimmt. „Zenttale l" Bahnsatturen, Nachfragen, Rechnungen, Tratten: „Druckerei!" Farbenprospekte, Farbenproben auf dünnen Kartons und bunte Muslervorlagen. „Spital!" Briefe ans Fabrikspital und an die Aerzte. „Meryenhof!" An die Gutsverwaltung, die sich neben der Hauptverwaltung der Fabriken befand. „Gesondert!" Diese waren zweifelhast und wanderten auf Buchholz' Schreibttsch, oder Knoll nahm sie mit. „Paß auf, Pudel." schrie er und schlug mit dem Stock hinter sich, als er hörte, daß ein Brief auf den Boden ge- fallen war, dann schleuderte er weiter und befahl, kurz und schroff. Der Lakai konnte kaum so schnell alle Briefe auffangen und sie in die entsprechend bezeichneten Oeffnungen eines Schrankes werfen, durch die sie vermittelst Röhren nach unten flogen. In das Hauptkontor. Von da aus wurden sie sofort ausgefahren und ausgetragen. „Und jetzt wollen wir uns ainüsicren I' Er hörte mit dem Werfen auf und es blieben nur noch etliche zwanzig Briefe in verschiedenen Größen und Farben auf seinen Knien. „Hier, lesen Sie!" Karl zerriß das Kuvert des ersten Briefes— es war mit einem Monogranun versehen— und nahm den Brief!
heraus. Er duftete nach Veilchen und war in einer vor- nehmen Danienhandschrift geschrieben. „Lesen Sie, lesen Sie," sagte Buchholz, als er sah, daß Borowiecki ans Diskretion zögerte. „Hochgeehrter Herr Rat! Ermutigt durch die Ehrfurcht, mit der alle Unglücklichen Ihren Namen, Herr Rat, nennen, wende ich mich an Sie mit der flehentlichen Bitte um Unterstützung. Um so muttger wende ich mich an Sie, hochverehrter Herr Rat, als ich weiß, daß Sie meine Bitte beantworten werden, wie Sie ja stets das menschliche Elend, die Tränen der Waisen, die Schmerzen und das Unglück wohlwollend gelindert haben. Ihr goldenes Herz ist im ganzen Lande bekannt, sehr bekannt! Gott weiß es, wem er Millionen geschenkt hat!" „Ha, ha. ha I" Er lachte leise und so herzlich, daß ihm die Augen überliefen. „DaS Unglück verfolgt uns. Hagel. Viehseuchen, Dürre und Feuer haben uns in den Ruin gestürzt, und jetzt liegt mein Mann gelähmt im Sterben." „Krepieren soll er, von mir aus," warf er hart hin. „Mit meinen vier Kindern sterbe ich Hungers. Sie werden die Schrecklichkeit meiner Lage begreifen. Herr Rat, und auch die Schrecklichkeit des Schrittes, den ich hier unter- nehme, als Frau, die in einer anderen Sphäre erzogen wurde, als Frau auS der Gesellschaft. Ich muß mich de- mütigen,— aber eS ist nicht für mich. Ich würde ja lieber Hungers sterben,— aber die vier unschuldigen Kindlein." „Hören Sie auf, das ist langweilig. Was will Sie denn eigentlich?" „Ein Darlehn von tausend Rubel, um einen Laden auf- zumachen," sagte Karl, nachdem er rasch den Brief durchflogen hatte, der bis zum Schluß immer in demselben, künstlich weinerlichen Ton geschrieben war. „Ins Feuer!" befahl er kurz.„Lesen Sie weiter." Der nächste Brief war mühselig kalligraphiert. Eine Beamtenwitwe hatte sechs Kinder und hundertfünfzig Rubel Pension: sie bat, man möchte ihr die Fabriksreste zum Ver- kauf in Kommission geben, damit sie ihre Kinder zu an» stündigeil Staatsbürgern erziehen könne. „Ins Feuer! Ich werde viel dabei verlieren, wenn auS ihnen mal Diebe werden." Dann folgte der Brief eines Edelmannes, nicht ganz orthographisch, der Briefbogen roch nach Heringen und Bier, anscheinend ivar er in einem kleinstädtischen Restaurant ge- schrieben; der Bittsteller erinnerte daran, daß er vor Jahren das Vergnügen hatte, Buchholz zu kennen, und daß er ihm damals ein paar Pferde verkauft hätte. (Forts, folgt.)