Nr. 211— 1918
Unterhaltungsblatt öes vorwärts
Sonnabend, Z. August
Nach vier Kriegsjahren. Der Vater als Hausfrau. Am Bürgersteig, unter einer schattigen Linde, sitzt sie jeden Tag am Mittag. Dorthin kommen zwei blonde Mädchen mit einer Einholetasche, in der ein Topf sich wiegt. Mutter sitzt auf einem Büschel grünen Rasens und ißt jeden Tag aus demselben Topf mit demselben Lössel vielleicht. Weitab vom Fabriktor ist dieser Speise» Platz, wo die Sonne durch das Laubdach glitzert und grünes Lauben« gelände an die Straße ebbt wie neue Fluten an den Strand des MeereS . Und durch die Staketen schauen neugierig die abgeern» teten Stachelbeerbüsche, entweder zur Mutter oder zu den beiden sauberen blonden Mädeln. Diese sehen anscheinend gern zu, wie die Mutter löffelt und mit Behagen ißt.— Eine fremde Frau, die des Weges kommt, grüßt und sagt:„Können Sie aber essen, ich sehe Sie ja jeden Mittag hier."—„Ach ja. danke! Es schmeckt' mein Mann kocht auch sehr gut.*—„So, Ihr Mann kocht?"—„Ja. das kann er gerade mit Hilfe der Kinder noch; soviel Kraft und Glied- maßen hat ihm der Krieg noch gelassen." Die fremde Frau schweigt eine Weile. Dann sagt sie schwer atmend:.Frau, seien Sie glück- lich! Ich habe drei Söhne verloren, wenn nur einer, als Krüppel apch nur. wiedergekommen wäre, ich— ich..." Tränen erstickten das Weitersprechen..Ich bin auch zufrieden!" Ihre Augen leuchten hell aus dem rußigen Geficht und ihre Arme dehnten sich:.Er lebt wenigstens noch." Und die beiden blonden Mädlein plapperten nach:„Ja, unser Vater lebt noch!" Die Ziege im Keller. .Mutta, wir kosen uns ene Zicke! Ene Zicke gibt Milch, und die brauchen wir. Jetzt is allens umgekrempelt: Früher fing man an, au§ weißem Käse Kunstseide zu machen, und jetzt fabrizieren die Seidensabriken Dörrgemüse. Warum sollten wir uns kene Zicke kosen?! Und ene Zicke is noch nicht det Schlechteste, so'n richtiges KriegSinventarium frißt wenig und gibt ville, sie läßt sozusagen der linken Milchwarze nicht wissen, was die rechte gibt. Eine Wohl- täterin, so ene Zicke, villemehr als die DamenS mit der Sparbüchse bei die Ludendorffspende..." Seine Frau unterbrach ihn endlich, denn ihr Gatterich hätte den Zickenfilm noch weiter vorgeführt, ohne Apparat. Aber für den Ankauf einer Ziege war auch sie, denn Ziegenmilch mit 30 Proz. Fettgehalt in diewr mageren Zeit.— Dies war das richtige: der Gedanke war schon ein Labsal.— Am Sonntag fuhren nun Lieb» mannS aufs Land. Alte Bekannte, die im Kriege nichts mehr von sich hatten hören lassen, wurden in der Mark aufgesucht. Doch der beste Verwandte hat heute nichts zu verschenken, und so mußten Liebmanns dreihundert Mark blecken. Der Onkel sagte:»Frisch nielkig iS sie nicht, aber grasmelkig: ich Hab sie selbst gras- mrlkig gemocht."—„Na. Du mußt's ja wissen, wenn Du sie selbst grasmelkig gemacht hast", sagte Liebmann ver- gnügt. Und seine Frau sagte nichts. Sie wußte wohl, daß in Berlin nebenan ein Milchladen ist, aber eine grasmelkige Ziege kannte sie nicht. Ihr Mann spöttelte noch:„Na, Mariechen, wat sagst du nu dazu? Ihr Frauen seid aus demselben Geschlecht, aber wiffen duht ihr garnichts I"— Am nächsten Morgen meckerte in LiebmannS Keller eine Ziege. An der Straße blieben die Leute stehen wie ein Fuchs bei einer neuen Witterung. Aus dem eisenvergitterten Fenster klang es recht kläglich in allen Tonarten sioweit eine Ziege über Stimmbegabung verfügt). Eine halbe Stunde später ging Frau Liebmann melken. Onkel hatte ihr gezeigt, wie sie dem Tier die Milch.nur abzuzeschen" brauche mit Daumen und Zeige- singer. Und iveiter wäre nichts nötig, hatte der Onkel ge- sagt. Etwas Gras. Kartoffeln, Kleie und Körner würden schon für den Milchreichtum sorgen... WaS die Ziege nicht gab. war Milch. Am Abend kam ihr Mann schmunzelnd nach Hause. Die erste Frage war:„Milch?" und der erste Blick galt dem Milchtopf. Und nun ging er, aufgeregt über.die passive Resistenz' der Ziege in den Keller. Ein muffiger, feuchter Geruch kam ihm entgegen, und die Ziege weinte jämmerlich ihre alte Leier. Er konnte den Daumen und einen Finger, zwei Ftnger oder die ganze Hand nehmen: es kam keine Milch. Er fluchte laut im dunklen Keller, daß die Schimmelpilze an dem Gemäuer erzitterten. Der Portier des Hauses kam die Treppen herunter und sah sich die Bescherung an..Na", sagte der,.in diesem Keller wird Ihn die Zicke keene Milch nich geben— tragen Sie det Tier auf den Balkon... und denn gehn
Sie erst zum Magistrat und holen Sie sich ne Milchkarte— denn ohne Milchkarte gibt die Ziege Ihnen keene Milch."— Liebmann stieg, mit der Ziege unter dem Arm, die Treppe hinauf. Seit einigen Tagen ist nun sein Balkon so kahl von allem Grün wie ein Brachacker— und die Ziege meckert aus Leibes Kräften weiter. Liebmann aber schimpft auf seinen Onkel und seine grasmelkige Ziege, die noch nicht einen Liter Milch gegeben hat.... Der Straßenhändler. „Meine Damen und Herren! Wir gehen in der Erzeugung von Nahrung?« und Genußmitteln so weit, daß wir aus nichts die schönsten Sachen herstellen können. Natürlich hat das seine Grenzen. Aber sehen Sie(er hält ein Fläschchen hoch), diese?„Elixier- Fluiducken". Wenn Sie sich krank, elend oder hungrig fühlen; wenn Ihre Kartoffel- oder Brotkarten verloren gegangen sind, oder (mit leiser respektvoller Betonung) sie sollten nicht reichen, so riechen Sie nur auf dieses Fläschchen. Sogar gegen die Grippe, die echte spanische, hilft es auf der Stelle. Sie sehen, ich bin mager wie ein Konstantinoveler Straßen» Hund, doch ein Riecherchen auf diese Flasche gibt mir immer wieder neue Kraft. Auch dem Reichstag und dem Kriegsernährungs» amt habe ich Proben zugesandt, und sie haben sich lobend über diese epochale Erfindung ausgesprochen.... Passen Sie auf, alle Lebensmittelkarten verschwinden, und die Märkte werden sich stauen und alle Menschen staunen, so groß wird das Ueberangebot an Waren werden. Das ist nun beute aber Nebensache, meine Damen und Herren:— das Fläschchen kostet nur zehn Pfennige, solange der Vorrat reicht...." Ein Schutzmann kam des Weges — und der Händler packte seinen Koffer:„Es wird Ihnen leid tun, meine Damen und Herrn-- aber lieber kauft Ihr ja Butter, das Pfund für fünfundzwanzig Mark." s. p.
Neohollanö. Nördlich von Oranienburg und Kreurmen dehnt sich dre Weste Talebene des Thorn-EberSwald-er Urftromtals aus. Die von Norden kommenden Havelgewässer haben die das Urstromtal im Süden be- grenzende Hochfläche durchbrochen und stellen eine Verbindung mit dem südlichen, älteren Warfchmi-Berliner Uisstromtal her.' Der Große Kurfürst besiedelte die ausgedehnte Talniederung mit hollän- dischen Kolonisten, die zum verständnisvollen Anbau dieses Gebiets trefflich geeignet waren. Vom Bahnhof Oranienburg wandern wir durch die Bernauer Straße zur Havel . Jenseits das Schloß, das jetzt das Lehrer- seminar beherbergt, mst dem Schloßpark. Weiterhin durch die Mittelstraße zu dem Waisenhaus für Beamtenlinder, einem roten Backsteinbau in niederländischem otil. Ter Germendorfer Weg fuhrt uns zum Oranienburger.Kanal. Alsdamt auf schattiger Promenade zur Obstbaukolonie Eden. Diese ist eine Siedlung. die völlig auf genossenschaftlicher Grundlage beruht. Ihre Mit- glieder sind überzeugte Vegetarier und Gegner des Alkohols und Tabaks. Sie blickt auf ein mehr als 23 jähriges Bestehen zurück.. Gegenüber Edeii das Vorwerk Luiseuhof, auf dem sich ein Er- holungshcim der Nordöstlichen Eisen- und Slahlberufsgeiiossenschaft befindet. Oestlich von Luisenhof fiihrt der Weg in nordwestlicher Richtung über die völlig ebene Talfläche zum Forsthaus Kuhbrücke am Ruppiner Kanal. Durch ihn wird eine lebhafte Holzverflößung aus dem Havellaiide ermöglicht. Auf dem Nordufer des-Kanals wandern wir gen West. Wir haben den Wald erreicht. Die Forst Neuholland zieht sich im Süden des Urstromtals von Kremmen bis Liebemvalde hin. Sie besteht vorwiegend aus Kiefern, weist jedoch auch schöne Bestände von Birken und Eichen auf. In diesem Teil der Forst, dem Sarnow, horsten Kraniche, Schma-rze Störche und Reiher, die in der Mark Brandeiiburg nur noch äußerst selten angetroffen werden. Bei Behvendsbrück kreuzen wir den Kanal. Am Forsthaus Sarnow vorüber wandern wir gen Südwest. Bald zweigt ein Weg nach Döringsbrück in nordwestlicher Richtung ab. Durch anfangs reine Eichen- und Birlenbestände gelangen wir in schönen Kiesern- bochwald, in den hin und wieder noch Eichen und Birken eingesprengt sind. Wir kommen nach Döringsbrück. Bon hier am Rande des Waldes gen Südivest. Schöner Blick über das weite Tal, das als Ackerboden und Viehweide benutzt wird. Bald haben tvir Verloren- ort erreicht, eine Siedlung, die in stiller Verlorenheit am Rande
von Wald und Luch liegt und ihren Namen zu Recht trägt. Von Verlorenort gen Süd durch prächtigen Kiefernhochwald, dann auf dem„Heuweg" zur Straße von.Oranienburg nach Kremmen , der wir in westlicher Richtung folgen. Das Gelände südlich der Straße wird hügelig. Es sind Dünen, die in dem sandigen Gelände des Urstromtals am Ende der Eiszeit zusamniengelveht wurden und sich in der Ost-West-Richiung des Tals zu laugen Zügen aneinander reihen. Wandern wir auf dem Kamm dieser Dünen entlang, so sehen wir. daß ihr Abhang gen Südwest einen bedeutend flacheren Böschungswinkel zeigt. Wir dürfen daraus schließen, daß es südwestliche Winde waren, die den Ausbau der Düne veranlaßten. Am Kremmener Schützenhaus erreicht der Wald sein Ende. Von hier führt eine schöne Promenade zur Stadt. Vor der Stadt liegen die Scheunen, die, wie bei allen Ackerbürgerstädten, wegen der Feuersgesahr außerhalb des Weichbildes aufgebaut sind. Nach einem Rundgang durch Kremmen , das an alten Baulichkeiten nur die Nikolaikirche, sowie einige alte Fachwerkhäuser in der Tamm- straße aufweist, komnien wir zu dem südlich der Stadt gelegenen Bahnhof. Von hier treten wir die Heimsohrt an. cd.
<kin Stockholmbuch. Artur Holitscher ist einer vtrn denen, die vor mehr als Jahresfrist in Stockholm bauten und hofften, daß sich eine Mög- lichkeit anbahnen werde, die Welt aus dem blutigen Chaos zu befreien. Sein neues Buch(„Bruder Wurni", S. Fischers Vertag, Berlin ) faßt noch einmal die. Stimmungen, die ihn damals er- füllten, erhoben und bedrängten, zusammen. Er gibt sie lvieder in der Form eines Zwiegesprächs mit einem alten Regenwurmsucher im Garten vor Berns Saal in Stockholm , der. für die Friedens- konfereuz vorgesehen war. Das Buch ist ganz Reflex, schemenhast �— nur einige der Persönlichkeiten sehen wir an der Peripherie der inneren Abrechnung vorbe istreifem Zu rein künstlerisch, zu differenzier� zu visionär sind die Gedankenreihen Holitschers, als daß sich seine Stellung zu den Problemen, die vor ihn und die Welt hintreten, auf eine nüchterne knappe Formet bringen ließen. Soviel aber läßt sich sagen, daß er das Weltschicksal mit einem. hoch über nationaler Gebundenheit, stiehendem Kulturfinn erfühlt, der ihn ziun Anwalt des Menschlichen erhebt. Er siebt mit wachen Augen, wie der Krieg alles Geistige, alles Künstlertum, alles Sitt- liche, alle Güte zertrampelt, daß die Völker durch einen Nebel der Verblendung in den Untergang taumeln. Holitscher hofft, fürcht:t, trauert um den Frieden,„der den Söhnen des Vaters not tut. auf daß kein Mensch mehr die Welt der Menschen verlassen und in seinem letzten Erdenseufzer klagen müsse: Ihr wißt nicht, wer von euch geht! Ihr wißt nicht, was ihr vernichtet habt!" Holitschers Buch gehört zu den wenigen literarischen Skistun- gen, die in den Regalen bleiben werden, wenn ein gesünderer Verstand und ein besserer Geschmack unter der Kriegslitcratur 'einmal Nachlese halten wird.„ Denn es ist voll jenes alten, neuen Geistes der Menschenliebe, auf deren Grunde eine bessere Zukunft die Pfeiler höherer Welt- ordnung errichten kaum_ a. z- Notizen. — Pl a ttd eutsch e Straßennamen. Daß sich im Nordwesten die heimische plattdeutsche Sprache neuerdings wieder immer steigender Wertschätzung erfreut, dafür verzeichnet die Zart- schrift„Niedersachscn" ein hübsches Beispiel: die Alstertal-Terrain» Gesellschaft hat alle ihre neuen Straßen und Plätze mit plattdeutschen Namen belegt und der Hamburger Schriftsteller Ludwig Frahm hat dabei Gevatter gestanden. Alte Namen sind dabei in ihrer alten Form wieder hervorgeholt worden, und so befinden sich im Gebiete der Gesellschaft jetzt die folgenden Straßen- und Platz- namen: Up de Worth, Hasenhop. bi den Swanksod, Löhnendwiet. Kritenbarg, Langestücken, Hülsenholm, Bmhmlwvg, Stakenbom, Hasselhorst, Spannon, Anschuß. Molhagen, Kasbeernredder, Grote Bleeken. — Drahtloses Fern sprechen. In Kopenhagen hat man nach„Prometheus" in neuester Zeit zahlreiche erfolgreiche Versuche mit drahtloser Fernsprechverbindung auLgeführi. Jetzt irsird die erste ständige drahtlose Telephonverbindung zwischen Bornholm und der benachbarten kleinen Insel Christiansö eingerichtet.
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kloSz. Das gelobte Laaö.
Roman von SB. St. R e y m o n t. „Behältst du nichts für dich zurück?" „Ich brauch' ja nichts, Muttchen. Es tut mir bloß leid, daß ich nicht so viel verdienen kann, als du brauchst," sagte er-einfach; seine Schüchternheit war plötzlich verschwunden. Er schnitt Brot herunter und wollte dann in die Kammer zurückkehren. „Juftu. mein teurer Sohn, mein liebes Kind," flüsterte die Mutter mit weinerlicher Stimme, und dicke Tränen flössen über ihre abgezehrten Wangen und fielen auf den Kopf des Sohnes, den sie an ihre Brust drückte. Ter Junge küßte ihr die Hände und kehrte mit freudigem Gesicht zu den übrigen Geschwistern zurück, die unter einem kleinen, vergitterten Fenster, das auf den Bürgersteig ging, am Boden saßen; vier waren es, im Alter von zwei bis zu zehn Jahren. Ganz still spielten sie, weil der Aeltcre, ein dreizehnjähriger schwindsüchtiger Knabe, im Bett lag; das Bett war etwas von der Wand abgerückt, wegen der Feuch- tigkeit. die auf die Bettwäsche heruntersickerte. „Antosch!" Er beugte sich über das Kissen zu dem blassen, grünlichen Gesicht, das aus der bunten Bettwäsche mit gläsernen, unbeweglichen Augen zu ihm ausschaute, mit der tragischen Ruhe des Absterbens. Der Kranke erwiderte nichts, bewegte bloß den Mund und heftete die grauen, glänzenden Augen auf ihn; dann berührte er mit den abgemagerten Fingern sein Gesicht mit kindlicher Zärtlichkeit, und ein blasses Lächeln, wie das Lächeln welkender Blumen, glitt über die blauen Lippen und belebre die starren Blicke. Jusiu setzte sich neben ihn, schüttelte ihm die Kissen auf, kämmte� mit seinem Kamm das wirre und wie Seide so weiche helle Haar und fragte: .Antosch, geht's dir heut gut?" „Gut." flüsterte er leise, zwinkerte bejahend mit den Augen und lächelte. „Bald bist du ganz gesund!" Befriedigt schnalzte er mit den Fingern. Sein gesunder, kräftiger Organismus konnte die Grauenhaftigkeit der Krank- heit seines Bruders gar nicht nachfühlen. Antosch starb langsam an Schwindsucht dahin. Aus einer starken Influenza hatte sie sich entwickelt, und das Elend, daS
seit zwei Iahten, seit jener Zeit, als sie vom Lande aufs Lodzer Pflaster übergesiedelt waren, an der ganzen Familie fraß, förderte die Krankheit: das Gesicht der Mutter, das jeden Tag trauriger wurde, rieb ihn völlig auf; die jüngeren Geschwister, die immer stiller wurden, rieben ihn auf, und das ewige Gepolter der Werkstätten, die fast ohne Unterlaß Tag und Nacht die Decke über seinem Kopf erschütterten, die Feuchtigkeit, die an den Wänden herunterfloß, das Lärmen der Nachbarn und die Prügeleien, die oft in den Nachbar souterrains und oben ausbrachen; am meisten aber das Be wußtsein ihres gemeinsamen Elends, das jeden Tag wuchs. Der Junge war sehr entwickelt. Das Unglück, das die Familie betroffen, und die lang sich hinziehende Krankheit hatten ihn noch mehr entwickelt. Dabei war er eine stille und träumerische Natur. „Jusiu, ist es noch nicht grün aus den Feldern?' fragte er leise. „Nein, heut ist ja erst der fünfzehnte März." „Schade." Leid verdunkelte ihm die Augen. „In einem Monat wird's grün sein; dann bist du auch schon gesund, wir nehmen dann paar Freunde mit und gehen zum Maifest." „Ihr werdet allein gehen, und Mama geht mit, Vater und Soschka geht mit und Adasch geht mit, alle werdest hingehen, alle, ich gehe aber nicht mit, nein." Er schüttelte den Kopf. .Ja, wenn alle hingehen, dann kommst du doch auch mit." „Nein, Justu, ich werde dann nicht mehr unter euch sein." Er sprach langsam. Tränen hoben seine Brust; er wollte sie zurückhalten, aber es ging nicht; wie große Perlen liefen sie, und er schaute durch diese Tränen in irgendeine entsetzliche Tiefe. Der Mund begann zu zucken, und eine große Todesangst packte ihn so mächtig, daß er aufsprang, als ob er fliehen wollte. „Jusiu, ich will nicht sterben, ich will nicht, Jusiu," flüsterte er, und ein furchtbares Leid zerriß sein Herz. Jusiu umarmte ihn zärtlich und stellte sich vor ihn hin, aus Angst, daß es die Mutter sähe, und begann ihn zu trösten. „Du brauchst nicht zu sterben; der Doktor sagte gestern Mama, daß du spätestens im Mai wieder ganz gesund bist. Weine nicht, sonst hört es Mama," flüsterte er ihm leiser ins Ohr. Autosch beruhigte sich etwas, wischte schnell die Tränen ab und blickte lange auf den Vorhang, hinter dem die Mutter stand.
„Wenn ich wieder gesund bin, dann fahre ich zu Onkel Kasiu für den ganzen Sommer, nicht wahr?" „Ja, ja, Mama hat schon an Onkel geschrieben." „Weißt du, im Juni, da gibt's schon junge Wildenten im Sumpf. Weißt du, gestern Hab' ich geträumt, daß ich im Kahn auf unserm Teich gefahren bin und du und der Herr Walicki, ihr jagtet auf Wasserenten. So schön war es auf dem Wasser! Dann war ich ganz allein und ganz genau hörte ich, wie die Sensen auf den Wiesen gedengelt wurden. Unsere Wiesen möchte ich mal sehen." „Du wirst sie sehen." „Aber sie gehören ja uns nicht mehr." Er summte ein Lied vor sich hin. Jusiu blickte auf die Mutter, die sich verstohlen die Tränen abwischte, sich an den Tisch lehnte und für einen Augenblick in die nahe Vergangenheit versank, die noch so ganz in ihrem Herzen weiterlebte. Mit seiner ganzen Seele gab Antosch sich diesen Erinnerungen hin. Er hörte auf zu singeu, verlor da? Gefühl der Wirklich- keit; feine Seele trug ihn zu dem geliebten Dorf, um das er in Sehnsucht verging, wie eine Pflanze, die auf eine» schlechten Boden verpflanzt wird. „Kinder, kommt zum Tee!" rief die Mutter nach einer Weile. Antosch wachte sofort auf und wußte nicht, wo er sich befand. Erstaunt blickte er in der Kammer herum, an den von Feuchtigkeit grünen Wänden entlang, auf denen zu- sammen mit der ganzen Familie die Porträts der Ahnen in verrußten Rahmen faulten,— das einzige, was aus dem Schiffbruch gerettet wurde,— und Tränen stiegen ihm in die Augen. Stumm lag er da und schaute leblos auf die grau- rötlichen Feuchtigkcitstropfen, die an der Wand glänzten. Jusiu schob den Tisch in die Mitte der Kammer, und bald setzte sich die ganze Familie heran; gierig warfen sich die Kinder auf das Brot und den Tee, bloß Jusin aß nicht, schaute mit ernstem, väterlichem Blick auf diese hellen Köpfe und auf die Augen, beobachtete unruhig das Verschwinden des Brotes und die Mutter, die gebückt und abgezehrt, mit dem Geficht einer Märtyrerin, in der Kammer wie ein leiser Schatten herumhuschte und alle mit dem kräftigen Blick der grenzenlosen Liebe umfing. Ihr aristokratisches Gesicht mit den sehr feinen und vornehmen Zügen trug das Brandmal des erstarrten Schmerzes. Immer wieder wandte sie sich zu dem Kranken. Niemand sprach etwas beim Tee. Doris. folaU