Nr. 2K0
§reZtag,U. Oktober
Der Kirsihgartsn
Deutsche Uraufführung in der Volksbühne. AntonTschechow hat nur dveiDramengeschrieben.Die Kirsch- garten-Komödie ist aber der Schwanensang des 1S04 im Alter von erst vierundvierzig Jahren an der Schwindsucht dahingerafften Dichters. Tschechows besonderes Merkmal besteht darin, daß er besser als ein anderer Schriftsteller das Grundmanko der russischen ..Intellektuellen", nämlich ihre Willensschwäche und„weinerliche Unentschlosienheit", erkannt hat. Gleichwohl verharrte er nickt in einem trostlosen Pessimismus. Gerade die lebten Worte dieses Dramas sind von Hoffnung auf eine bessere Zukunft erfüllt. Der Kirschgarten eines adligen Gutsbesitzer«, der ein wahrer Märchen- garten war, wenn die Bäume in voller Blüte standen und wenn die Nachtigallen in seinen Gehegen sangen, ist von einem Geldmenschen unbarmherzig umgehauen worden. Keine Blüten, keine Nachtigallen — nur Geld statt dessen. Aber Tschechow sieht weiter in die kommende Zeit: er siebt das Gut wieder in anderen Händen, und ein neuer Garten ersteht auf derselben Stelle, ein Garten, wo Jeder und Alle ein neues Glück in neuer Umgebung finden werden. Ihnen, deren ganzes Leben nur ihrer eigenen Person gegolten hatte, konnte niemals solch ein Garten erblühen, aber bald wird er von Menschen wie Anja dM�Typus einer neuen Generation, und ihrem Freunde, dem„ewigen' Studenten", geschaffen werden.... Ein tiefer smnbolischer Zug geht durch das Drama. Der Kirsch- garten ist das Jugendland des Menschenglückes. Da er verloren geht, vermeint Ljubow Ranewskaja, die Gutsbesitzerin, nicht mehr leben zu können. Die Menschen, die durch die Handlung schleichen, versinnbildlichen das russische Volk, wie es unter dem Zarismus war: verhunzt, versklaut, voller korrupter Niedrigkeit und Verderbt- beii allenthalben, vornehmlich in der Schicht der Gebildeten, un° täng, leichtlebig, bei dem allen weichherzig und gutmütig bis zu kompletter Liederlichkeit. Der Krieg, den Tschechow nicht erlebte, hat uns gelehrt, diew Komödie um so besser zu verstehen, dies Ge- triebe schwächlicher Charakter«, die samt und sonders bloß an den Worten. Träumen. Hoffnungen sich berauschen, statt sich zu irgend- einer Tat aufzuraffen. Aber Tschechow glaubt an sie: fast wie ein Mysterium, eine Vrovhetie klingen seine Worte. Man kann sich die Wirkung der Tscheckowschen Dramen auf das russische Volk lebhaft vorstellen. Ja, selbst bei uns, darf man wohl sagen, würde die Aufführung des..Kirschgarten " zu einem Ereignis. Und zwar durch die so eminent echte Inszenierung und schauspielerische Wiedergabe. Die Dütbergschen Dekorationen sind geschöpft aus einer andächtigen Versenkung in die russischen Men- scheu und Zustände Wunderfein ist das Landschaftsbild dcS zweiten Aktes komponiert. Man spürt seinen organischen Zusam- menhang mit der Handlung; man empfindet die unendliche Weite — die Poesie und verlorene Einsamkeil der Steppe. So sieht es auch um die Mcnschendarstellung. Vielleicht wird der Rhythmus darin zuweilen als etwas träge empfunden; aber s o, schwerlich anders, muh er wohl sein. Herrlich spielt« Frau Fehdmer die Heldin des Ganzen: Ljubow Ranewskaja, wunder- bar echt in Freude und Weh Neben dieser Erscheinung Friedrich Kayhler von anderer bohcr Meisterart: als Leonid Gajew und zugleich als künstlerischer Lciter. Den niedrigen Geschäftemacher Lopachin ckxirakterisserte E. Stabl-Nachbaur geradezu glänzend in der Rauschszen«. Sein tierische» Gebaren ob dcS gelungenen Kaufs, dazwischen das erschütternde Schluchzen und Weinen der Guts- b siycrin— das war ein« packende Situation. Möglich, daß sie einige kleine Striche ertrüge, um noch kompakter zu wirken. Wie verkörperter Tatwille erschien Johanna Hafer als Anja und Jürgen Fehling , der an dem Studenten zwar den Bankerott der Jntellek- tu'llen, docb auch überzeugend siegsfroh dessen lleberwindung zeigt. Und dann sind Herta Wolfs sWarja), Julius Sachs , ständig der- gnügt trotz Schulden und Geldpumpversuchen dahinlebender Guts- best her Dsimeonow-Pischtschlk. Dem Buchhalter Epichodow gab Hrnry Berber einen Stich ins typische. Und den alten Lakai ver- mochte Guido Herzseld in aller seiner rührenden Fürsorg« um die Herrschaft, der er oient. sehr eindringlich hinzustellen. Endlich sind noch Luc:« Mannhestn(Stubenmädchen) und Ehrhard Siede!(Jascha) zu nennen. Das Drama wurde mit feierlicher Ergriffenheit und einein am Schluß sehr starken Beifall aufgenommen. est. Der Schuß ins Dorf. , von Artur Z>ckl«r. Das Dorf liegt weitab von den Straßen der Welt.. Wanderer, der mit der Kleinbahn gekommen ist, läuft zwei Stuu den oder drei über die Hügel, ehe er die Niederung erreicht.
Der Wald, eine schwarze.Kulisse, bläst Kühle in den Septembertag. trübt den Spiegel des Weiher«, um dem das Emenvolk lärmt. Sonst aber ist es still und hell, die Accker rauchen und die Luft läßt weite Sicht. Von der Straße aus. die sich in das Häußer- tal neigt, greisen die Parallelen der Feldraine hinauf bis dahin, wo die Hügelrücken den Himmel�rand abschließen. Da und dort, wie Schnecken kriechen die Pflugscharen, wenden die Erde und füllen den sanften Tag mit dem Duste der Frucbtbarkeit. Weil die Sonnenhöhe sich neigt, wacht in den Scheunen wieder die Arbeit auf, die Torr stehen offen, und auf den Tennen regen sich die braunen kräftigen Frauenarme. Die Frauen sind von besonderer Art. Während die wenigen Männer, die nicht im Kriege sind, die Zähne über der vielen Ar- best zusammenbeißen.müssen, während sie klotzig und müde sind, schaffen die Frauen, zumal die jungen, mit mühsam verhaltener Kraft, daß ihr ungestilltes Blut durch die Har�i leuchtet. In ihrem Gang über die Dielen liegt etwas vorn mutwilligen Stoßen junger Pferde. So verkühlen sie an der Arbeit ihre Sehnsucht, die fast eine Wut ist, daß ihre Augen müd sind, wenn sich die Glieder unter die großen heißen Federbetten legen. Von Zeit zu Zeit kommt einer von dem Dörfchen auf Urlaub; so steht das Dorf immer in Fühlung mit dem ManneZvolk, besser als durch die knappen und unbeholfenen Briefe Denn wie die Magd nur über die Strafte oder am Rain entlang zum Nachbars- Hof braucht, so sind die Männer draußen fast alle beim gleichen Regiment, stehen Schulter an Schulter oder können sich wenigsten? besuchen. Vier hat sich der Tod herausgegriffen, etliche liegen in Lazaretten, und getreulich tragen die Urlauber Kunde herein und hinaus. So runden sich die Tage leit Jahren, der Mühe voll, über dem Ort, Wintcrdunkel Wechsel mit Sonnenzeit, Aussaat schafft Ernte, einige Alten werden über den Hügel zum Kirchspiel getragen— das ist das Leben. Bis zu eben diesem Septembertag. der so bleich aus der Nacht- bläue wuchs, der in die Welt im Ganzeil nicht mehrj Tränen brachte, als ein sedcr der tausend vor ihm. nur ein Bündel Geschicke mit spielender Grausamkeit zusammenfaßte. Dieses Bündel ruht in einer Lcdertasche und der sie trägt, ist ein krummer Landbote, der den Stock in den Sand stößt und mit kalten mißmutigen Augen sein Wegmaß hinter sich bringt. Er stapft von Hof zu Hof, nickt stumpf in den Türen und steigt wieder. ins sinkende Licht hinein, über die Hügel. An den Häusern bleiben die Fenster dunkel, wenn sie der Mond nicht von-außen glänzt, Weinen, Heulen, Wimmern füllt die Stu- ben, die alten Männer bewegen sich starrend und benommen auf den Höfen, fassen nach Gerätschafien, lassen sie fallen und wissen nicht warum. Eine arbeitsverdorr/te Bäuerin, der ver Schweiß und das Alter die Haare vom Kopfe gefressen, rennt in die Ge- Höste, schreit und stammelt, ihr blieb einer von vieren. Kanonen und Gewehre im fremden Land haben sich zusammengetan U'id da, Regiment zerbissen, die Männer des Darfes getötet, das zweibundcrt Jahre steht oder länger und nun aus eigenem Blut nicht mehr leben kann. Um die Mitte der Nacht schnauzen die Hund« und rasen an den Ketten; die Bäuerin, die verlassene, hat den Brand ins Dach gelegt, so glüht ihrem Letzten, der in die Heimat gedurft und die stille Straße kommt, ein zweiter Vjjond. Der scheint schon blasser, weil es Tag werden will, da torkelt der junge Soldat über die Accker, sieht die Leiche seiner Mutter und die elenden Gesichter, die ihm zeihen, daß er lebt, schlägt die Hände über dem Kopfe zusammen und fällt zu Boden.
gloichsfalls in höchst erbitterten Disput. Der Hausherr, s» weit er sich über den Krämer erhaben dünkt, fühlt sich ihm doch durch«ine Art von Ehemännerinteressenfolidarität verbunden, und es empört ihn tief, daß sein Frauchen in schnöder Mißachtung der Tradition, di« aufrührerische Weigerung des Krämerrveibee, den Korb zu tragen, verteidigen will, ja gar behauptet, sie würde in dem gleichen Falle ebenso gehandelt haben. Di« beiden, eben noch sto freundlich, fahren wie zwei Hähne gegencinander los, wobei landlich-sittlich das schwächere Geschlecht vom stärkereu eine Ohrfeige empfängt. Auch Knecht und Magd erhitzen sich über di« gleiche Rechtsfrage. nur daß dabei die Weiblichkeit die Initiative zu einem aggressiven körperlichen Vorstoß ergreift. Das zweite Stückchen„Das N a r r e n s ch n e i d e n" wurde als Schattenspiel gegeben. Zuerst sah sich's so an, all- ob der halb- verhungerte Arzt, der dem zugelaufenen Patienten zehn bare Taler im voraus abverlangt, die Ztosten des Spottes zu tragen haben werde. Aber dann geht's wider den Patienten, in dessen aufgetriebenem Bauch der Medizinmann eine ganze Brutstätte von Teufelchen entdeckt. Der Freß-, der Trink-, der Faulheitsteufel usw., sie alle werden auf dem Wegs durch den großen Klappniund vom Arzt ans Tageslicht befördert, bis die Kur den Leibesumfang, zum Zeichen, daß die Teufel nun entfernt sind, auf das richtige Maß reduziert hat. Der Kranke geht gesund nach Haus und die Zuschauer werden aufgefordert, sich ein Beispiel daran zu nehmen. Den Abschluß bildete ein Spie!„Im Wirt h s Haus zu in Deutschen Ho f", das ein paar Szenen von Hans Sachsens Zeitgenossen F o l z und R o s e n v l ü t und dessen„Heißes Eisen" aneinanderreiht. Fahrende. Gesellen, alte Bauern und Jungvolk sind in der Wirtsstube versammelt. Unterhaltsam in bunten Bildern, zu denen Bogumil Zepler die Musik ge- schrieben, zieht das Ganze vorüber. Eine Bauersfrau, eine Leidens- genossin des Krämerweibs, die ihren Mann aus dem Wirtshaus heimwärts treiben will, wird zum gemütlichen Mittrinken umgc- stimmt.„Der Bauer mit dem Hase n." Ein Lied vom Wein und Wasser leitet zu einem parodisnschen Wettkampf von Lobreden aus die Eheliebsten über(„ein Spiel, wie Frauen ein Kleinod aussetzen"). Die animierte Korona wird dann zum Publi- kum, vor dem das von seinem schlimmen Eheweib verdächtigte Hans Sachssche Bäuerlcin die Feuerprobe seiner ehelichen Treue durch Tragen eines glühenden Eisens(er balanziert es mit einem im Aerrnel versteckten Holzstücke) erbringt und die Anklägerin zum Ein- geständnis ihrer eigenen zahllosen Verfehlungen zwingt. Die von Altman inszenierte Ausführung, in deren erster Reihe Lupu Pick , Paul Bildt , Alice Torni.ng, Johanna Zimmermann mitwirkten, traf gut den Ton derb spaßender Volkstümlichkeit, ohne ins Grobe zu entarten. ckc.
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kleines Theater: ,/Ut-itlirnbeeg*. HanS Sachs , der Schuhmacher und berühmte Meistersänger aus Alt-Nürnberg, der in dem sonnigen, seine„poetische Sendung" feiernden Gedicht des jungen Goetbe und in Wagners„Meister- singern" lebendiger als in seinen eigenen Dichtungen(es sollen deren mehr als sechstausend sein) fortlebt, erschien am Mittwoch mit emigen seiner Fastnachtsspiel« auf den Brettern des„Kleinen Theaters". Da gab's zunächst den Schwank vom„Krämers- korb", ans wclcheni zu ersehen ist, wie«in an einer Stelle auS- gebrochener ehelicher Streit gleich einer Ansteckung nach allen Seiten »eitergreift. Die Krämerfrau, die ihren liederlichen Mann, der all sein Geld verspielte, gründlich auszankt und ihm den Korb mit Waren, den sie als Frau nach altem Brauch zu tragen verpflichtet wäre, vor die Füße wirft, hat zweifellos gerechten Grund für ihren Zorn. Das junge, zärtliche, l)errschastl.ich« Ehcpärchen, das die . Schilderung, die der Hausknecht von dem Streit entwirft, so er- � götzlich findet, gerät bei näherer Erörterung des interessanten Falles
Notizen. — Vorträge. Der Eichendorff-Dund veranstaltet am ' 11. Oktober,'AS Uhr, im Lessing-Museum einen I u n p- romantikcr-Abend.— In der Gesellschaft'für Erdkunde ! spricht am 12. Oktober, abends 7 Uhr, im Künstlerhaus, Bellevuc- straße 3, Dr. W. Behrmann über: Die rumänische Land- s ch a f t(mit Lichtbildern).— Am Montag, 14. Oktober, beginnt � Dr. Adolf B e h n e eine Reihe von Lichtbildervorträgen über !„Kunst und Kultur des Altertums" im Falk-Realgymnasium, ! Lützowstr. 34d.— Dichtungen Walter Harlan ? Familien-- , i jenen— werden in der„Klause"(Aula der Köuigin-Augusta- � Schule, PallaSstr. 47) am 14, Oktober, abendS S Uhr. vorgetragen.— Jngenieur-Architett Karl Stodieck spricht am lk>. Oktober, abends 8 Uhr, in Charlottenkmrg, tdantstr. 25, in der Herder- gescllschaft über:„Vorschläge zur Reform unsere« BstdungS- wefens". Eintritt frei. — Sprach unterricbtskurse(russisch , türkisch und bulgarisch ) werden auch in diesem Winter an der Humboldt- akademie Freie Hochschule veranstaltet. Näheres sagt da« Vor« lesiingsverieichnis, da« im Hauptbureau, Neue Friedrichflr. 53/5C, II, erhältlich ist.' — Verein„»rbeiter-HochschuIe". Di« neuen Vor- lesungeu beginnen am 14. Okiober. Ans der Hörerversammlmrg am 12. Oktober«erden Aunieldungen entg«g«ngen«mmen. Bc« schäftSstelle C 3, Neue Friedrichstr. 53/50 JX — Der h ö ch st e Schornstein der Welt ist soeben in Tacoma im Staate Washington erbaut worden. Er ist au» Ziegeln gebaut und 174 Meter hoch. Sein inneret Durchmesser beträgt a« der Grundfläche 12 Meter, an der Mündung 7,00 Meter. Die Mauerstärke nimmt von 1 435 Meter 0,343 Meter al>. Die Basis bildet ein Gebäude von 15 Metern Höhe.
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Loöz.
Ge-
Das gelobte LanS. Roman von W. St. R e y m o n t. „Sie reden wie ein Mensch, der keine Ahnung von schäften hat." „Nein, ich sehe bloß keinen Heroismus darin, daß Sie statt dreihundert nur hundcrtfünfzig Prozent nehmen 1" „Gut. reden wir nicht mehr davon I" llnwillim warf Wilczek die Bücher in die feuersichere Kasse, die in der�Ecke stand. Er war sehr ärgerlich, weil er Angst hatte, das Gerücht von den wucherischen Operationen könnte durch Horn über ganz Lodz verbreitet und ihm der Verkehr in der.Kolonie' und in einigen anderen Kreisen verwehrt werden. Horn musterte ihn aufmerksam und vergaß, daß er ja gehen wollte. An der Stelle seiner Empörung trat eine gewisse Neugierde, mit der er Wilczek zuhörte. E§ erschien ihm letzt ganz anders. Eine mächtige Kraft strahlte von ihm aus. „Ach, Sie mustern mich, als ob Sie mich das erste Mal sähen." „Ich muß zugeben, daß ich Sie zum erstenmal mir so genau ansehe." „Ein wundersames Exemplar, was? Ein Bauer mit schmutzigen Instinkten, ein einfacher Judenknecht für alleS; bäßlick. erbärmlich und schlecht! Da kann man nichts machen. Herr, ick bin nicht im Palais geboren, bloß in einer einfachen Baucrnhütte; ich bin weder schön, noch angenehm, ich gehöre nicht zu euch, und deshalb sind auch sogar meine Tugenden. wenn ich welche haben sollte, Vergehen; na, aber deshalb leiht ihr euch doch Geld von mir", fügte er lächelnd hinzu. Ironie flackerte in seinen kleinen Augen. „Herr, die Wasserniann ist wiedergekommen", rief ein Junge durch die Tür. „Laß sie reinkommcn." Die alte Jüdin brachte Schabbesleuchter und eine große Berusteingarnitur als Pfand für die zehn Rubel, die ihr Wilczek sofort auszahlte und gleich einen Rubel Prozente für die erste Woche abzog. „Sie werden sagen, das ist Wucher, was? Wenn ich ihr aber das Geld nicht gebe, stirbt sie Hungers. Es gibt eine ganze Menge solcher Frauen in Lodz , die von dem von uns
entliehenen Gelde leben. Sie alle haben Kinder. Mütter, Männer, die nur beten können, sonst aber unbeholfene Krüppel sind." „DaS heißt also mit anderen Worten, daß die Gesell- schaft euch dankbar sein sollte für eure unermüdliche Wohl- tätigkeit." „Die Gesellschaft könnte uns in Ruhe lassen, wenn wir sie auf diese Weise uneigennützig beglücken." Er lachte herzlich und sehr zynisch. „Herr, der Jude Grünspan ist da," rief der Junge durch die Tür. „Bleiben Sie noch einen Augenblick, Herr Horn, dann werden Sie Zeuge einer sehr komischen Szene sein." Horn hatte keine Zeit mehr, dagegen zu protestieren, weil Grünspan schon eintrat. „Guten Tag. Herr Wilczek, Sie haben Gäste, vielleicht störe ich!" rief Grünspan von der Schwelle an?, eine Zigarre im Mund, und streckte die Hand aus. „Bitte sehr, mein Freund, Herr Horn." Grünspan nahm rasch die Zigarre auS dein Munde und schaute Horn mit einem durchdringlichen Blick an. „Sie haben bei Buchholz gearbeitet?" fragte er etwas von oben herab.„Sie sind der Sohn von Horn und Weber in Warschau ?" fragte er weiter, alL er auf seine erste Frage keine Antwort erhielt. „Ja." „Sehr angenehm. Ich mache Geschäfte mit Ihrem Vater." Sehr gnädig reichte er Horn die Fingerspitzen. „Ans dem Spaziergang wollte ich so mal bei Ihnen vorbcisrhen. Herr Wilczek, so nachbarlich." „Schönes Wetter heute; nehmen Sie doch bitte Platz", lud Wilczek höflich ein. ohne die Freude verbergen zu können, die ihm Grünspans Besuch bereitete. Sanft schob Grünspan die Schöße seines langen KaftanS auseinander und setzte sich, streckte die Beine auS, die in langen, bis zn den Knien reichenden Stiefeln steckten, und erhob das listige, fettig glänzende Gesicht. Die kleinen, schwarzen Aeualcin liefen unablässig im Zimmer herum und hinters Fenster und in den Garten, klammerten sich an den roten Fabriksniauern fest, die an der Ecke standen, und kehrten prüfend zu Horn und Wilczek zurück. Grünspan hüllte sich in Rauchwolken, räusperte sich, rückte auf dem Stuhl herum und wußte nicht, wie beginnen. Wilczek schwieg ebenfalls, ging im Zimmer auf und ab und lächelte.
„Es ist schön kühl hier bei Ihnen im HauS," begann d�r Fabrikant und wischte sich mit einem karierten Tuch den Schweiß vom Gesicht. „Die verhängten Fenster lassen keine Sonne vom Garten herein. Haben Sie meinen Garten gesehen. Herr Grünspan?" „Ich hatte keine Zeit. Warum sollt' ich ihn gesehen haben? Bei so vielen Geschäften ist man ja angespannt wie ein Karrengaul." „Wenn die Herren Luft haben, können wir ja hiirauö- gehen. Ich werde Ihnen meinen Garten und meine Felder zeigen, gut?" „Gut, sehr gut," rief Grünspan lebhaft und ging vor. Sie schritten um den engen Hof herum, der mit Mist« Haufen, altem Eisen, Blech und alten Töpsen angefüllt war. An der einen Seite des Hofes standen Fässer mit Zement, und an der anderen zogen sich armselige Ställe an der Mauer der Grüuspanschen Fabrik entlang. Sie traten aus dem Hof. Gin Stück Brachfeld lag vor ihneu. Purer Sand, aus dem die Winde jede Spur fruchttragender Erde weggeweht hatten. „Reinstes Gold I" bemerkte Wilczek ironisch. „Na, und eine schöne Landschaft erblickt man von hier." Horn zeigte auf die Linie der Waldungen, die in bläulichen Sonnennebel getaucht waren, und auf die ragenden Korn- selber. „Was r�den Sie, wie heißt Landschaft! Das find Bau- Plätze!" rief Grünspan lebhast, durch die ironische Bemerkung Wilczeks aufgebracht. „Da haben Sie recht. Aber mein Bauplatz ist besonders fein. Er liegt nämlich dicht an Ihrer Fabrik und fast ganz in der Stadt. Man könnt- da einen schönen Park au legen..." „Legen Sie ihn an, dann werden wenigstens meine Arbeiter an den Feiertagen sich da erholen können..." Sie kehrten vore'HauS zurück und setzten sich auf die Bank. Horn verabschiedete sich und ging. Die beiden saßen eine Zeitlang schweigend nebeneinander und taten so, als ob sie sich an der von Rauch und Au-?dünstungen der Fabrik- abflüsse durchsättigten Luft ergötzten. „Ich hätte ein kleines Anliegen an Sie," begann endlich Grünspan. „Ich weiß sogar, was für einS. Mein Freund Moritz Welt erzählte«S mir." Eortl. folgt.)