Nr. 209 ♦ ZS. Iahrgatlg
2. Heilage öes vorwärts
Vonnerstag, S. Mal
GroßSerlln Es muß üoch Irühling werüen! Cs ist Mai und Frühling. Golden lacht die Sonne über die neu- belebte Natur. Im ewigen Wechsel der Zeiten ist der Frühling zu- rückgekehrt. Aufs neue erleben wir, wie der Mai in voller Pracht und Blüte steht, wie alles Leben, das wir im Winter fast gestorben wähnten, wieder erwacht. Im Wolde rufen und locken die Dögel und wir möchten mit ihnen jubeln und jauchzen und hinausziehen ins weite Land. WirfindArbeiterjugendund früh werden wir den Ernst des Lebens gewahr. Wenn die Söhne und Töchter des Bürgertums sich noch ihrer Freiheit erfreuen, heißt es für uns zu werken und zu schaffen. Aber auch für uns muß es Früh» ling werden. Gleichsam wie die Sonne siegreich den letzten Schnee zerschmilzt und neues Leben wachruft, so werden wir auch immer und immer wieder an die noch Schlafenden den Ruf ergehen lassen: Wachet auf, Zungprolekarier! Ihr sollt teil haben an den Schätzen der Erde, die Ihr Euch er- kämpfen müßt. Hier haben wir nicht zu bitten, sondern zu fordern. Den Achtstundentag will man uns wieder rauben. Im Arbeitsministerium ist ein Gesetz fertiggestellt, das der Jugend den Achtstundentag nehmen will. Dagegen wollen wir uns zur Wehr setzen. Am nächsten Sonntag habt Ihr Gelegenheit, der Regierung und den Arbeiterfeinden zu zeigen, daß Ihr nicht gewillt seid, Euch ins Joch zwingen zu lassen. GestaltetdenMai-IugendtVg am 8. Mai zu einer wuchtigen, gewaltigen Kund» gebung für Iugendschutz und Iugendrecht. Wann wird ein Dölkerfrühling werden? Die Entente fordert ungeheure Zahlungen und droht mit Sanktionen. Ratlos steht die ganze kapitalistische Gesellschaft diesem beispiellosen Zusammenbruch gegenüber. Ihr einzigstes Mittel ist die Gewalt, und wir als arbeitende Masse werden am stärksten zu leiden haben. Und doch muß es auch da Frühling werden. Gerade wir als Jugend wollen Seite an Seite mit der erwachsenen Arbeiterschaft für Frieden und Dölkerfreiheit und den Sozialismus kämpfen. Dafür gilt es zu rüsten. Fest geschlossen müssen die Reihen des Iugendproletariats sein. Zeigen wir deshalb zum Bezirksjugendtag, daß wir die Zeichen der Zeit erkannt haben, daß dieIung, Garde sich ihrer Lage voll bewußt! st. Auf zum Mai-Zugendtag am Sonntag, den 8. Mai 1921, in Kaulsdorf -Süd, Restaurant Sanssouci, Etation Sadowa. Treffpunkte werden noch bekannt gegeben.
Um den hochftmietensatz. Ein unglaublicher Vorschlag des 5achverstS!>digeuausschusses. Die Borbereitungen zur Erhöhung de« MieiezuschlageS sind jetzt im Gange. Eine ZeitungSlorrespondenz. die Beziehungen zum RathauS bat, meldet: Der von der Berliner Stadtverordnetenversammlung in Sachen der Höchstmietenzuschläg« gewählte Sachverständigen- oliSichuß bat sich sehr eingehend mit den Berliner Mietverhältnissen beschäftigt und die Vorsitzenden der Berliner MieteinigungSämter zu den Beratungen hinzugezogen. Räch längerer Beratung einigte man sich im Ausschuß auf«inen Hächstmieten, uichlag von 100 P r o z. Bekanntlich besteht fr Wohnungen in Berlin ein Höchstmieten- zuichlag von 30 Proz., für gewerbliche Räume, Läden usw. von 40 und 50 Proz. Die Vorsitzenden der Berliner MieteiniaungS« ämter berieten unter sich und schlugen einen Zuschlag von 00 Proz. zur FriedenSmiete bei Wobnungen und eine Verdoppelung der jetzigen Höchstmietenzuschläge bei gewerblichen Räumen, Läden uiw. vor. Dem Magistrat Berlin find diese Vorschläge unterbreitet worden. In städlischen Kreisen nimmt man an. daß die Ge- meindebehörden ihre Zustimmung zu einem Höchstmieten. -Uschlag von 55 Pro,, für Wohnungen und einer Ver> Koppelung der übrigen Zuschläge geben werden. Es klingt kaum glaubhaft, daß der SachverstandigenauSschuß sich dafür ausgesprochen haben soll, den Mietezuschlag von bis- her 8 0 Proz. plötzlich auf 100Proz. zu erhöhen. Selbst die Erhöhung am 55 Pro,., die na» der obiaen Meldung
den Beifall des Magistrats zu haben scheint, wäre ein sehr be- deutender Sprung. Die Hauseigentümer werden allerdings ein Geschrei darüber erheben, daß der Magistrat sich nicht dem 100-Proz.-Vorschlag de? Sachverständigenausschusses anschließen will. Sie haben ohnedies in der letzten Zeit eine wüste Hetze gegen den Magistrat betrieben, den sie wegen wiederholter Erhöhung der die Häuser treffenden Abgaben usw. als den eigent- lichen Mietefteigerer hinstellen möchten.
Achtung, Genossinnen! /lllgemeine Zunttionärinnen- Konferenz Freitag, den 6. Mai. abend» 6 Uhr in der Schulaula. Weiumeistersir. 18 Tagesordnung:»veulfchlauds tiulturerueuerung- unter be- sonderer Berücksichtigung des Problems der weltlidjen Schule. Referentin: Genossin Klara Bohm-Schuch. M. d. R. Besonders interessierte Genossinnen und Genossen sind willkommen. Mitgliedsbuch legitimiert.
polnische Zuckerschiebungen. Ueberichüsse für das Polnische Uakionalkomilee. Da« Landespotizelamt hat ein« großzügig angelegt« Zucker- schiebung. die offenbar mit stillschweigender Unterstützung des Polnischen Nationalkomitees geschah, aufgedeckt. Der Agent E. P i t s ch, Hindersinstr. 5. oersuchte, von Zentraleinfuhrbehörden in Berlin Einfuhrgenehmigungen für Zucker zu erhalten. Er gab an. als Bevollmächtigter des polnischen Roten Kreuzes in Posen Forderungen gegen dieses zu haben, die durch Zuckerlieferungen beglichen werden sollten. Trotz vieler perfön- licher und schriftlicher Vorstellungen, die zu einem ausgedehnten Schriftwechsel zwischen ihm und den Einfuhrbehörden führten, lehnten diese die Antrag« ab. Pitsch wandte sich nunmehr an das Polnische National- k o m i t e«, das feine Wünsche bei preußischen und Reichsbehörden unterstützte. Aber auch diese Bemühungen blieben erfolglos. Gleich- wohl ließ Pitsch Zucker anrollen. Er verstand es, die Grenzkontroll- und die Berliner Zollbehörden unter Hinweis auf den behördlichen umfangreichen, aber völlig bedeutungslosen Schriftwechsel zu täuschen. Ein Angestellter des Berliner polnischen Generalkonsulats Werna stellte sich in dieser Eigenschaft dem Berliner Zollamt vor und bestärkte die Zollbeamten in dem von Pitsch hervorgerufenen Irrtum, es handele sich vm Lebensmittel kür Konsulatsbeamte, für die Ein- fuhrerleichterungen zugelassen sind. Der Zucker wurde allerdings teilweise Beamten des polnischen Generalkonsulat» zugeführt: ein großer Teil ging jedoch an Mitglieder des Polnischen Rational- komitees, an Beamte einer hiesigen polnischen Bant und an einen hiesigen KolonialwraenhänMer mit polnischem Natron. Ein« weiter« Sendung von 200 Zenwern, die an das polnische Generalkonsulat in Berlin unmittelbar adressiert war, wurde beim Anrollen aus Polen an der Grenzstation auf Deranlassung de» Landespolizeiamt« beschlagnahmt. Der Zucker wurde weit über den Höchstpreis zu S M. das Pfund abgesetzt. Dl« polnischen Organisationen zahlten sogar ein« Mark mehr für da« Pfund. Dieser Mehr- preis wurde dem Polnischen Nationalkomitee überwiesen. Der Schriftführer de» Nationalkomitees G o l d b e ck sowie Pitsch und Werno wurden in Untersuchungehaft genommen.
Grvfffetter im Norde». Die Meldung„Grcßfeuer" rief gestern abend die Feuerwehr nach der S ch l i e m a n n st r. 6 nahe der Danziger Straße. Als die Ge- fahr bemerkt wurde, schlugen die Flammen mit dickem Qualm oer- mischt schon hell aus mehreren Dachfenstern empor. Die Aufregung unter den Bewohnern des Hauses— einer vierstöckigen, von 30 Par- teien bewohnten Mieitaserne— war ungeheuer. Einige Männer versuchten noch Sachen von dem in Flammen stehenden Boden in Sicherheit zu bringen, mußten aber wegen der«normen Verqualmung der Aufgänge von ihrem Borhaben bald abstehen. Als der 19. Lösch- zug an der Brandstelle ankam, brannte der mächtige Dachstuhl schon an mehreren Stellen in solcher Ausdehnung, daß Brandmeistsr
Steiner sofort mit drei Schlauchleihingen angreifen ließ und zwei weitere Löschzüge der 5. Kompagnie ausrücken mußten. Ueber die Treppen und mehrere mechanische Leitern wurden dann weitere Schlauchleitungen mit Erfolg vorgenommen und die angrenzenden Gebäude zunächst wirksam geschützt. Durch unausgesetztes tüchtiges Löschen mit mehreren Schlauchleitungen gelang es schließlich die Macht des Feuers zu brechen. Der Dachstuhl ist nieder- gebrannt, auch hat das vierte Stockwerk durch Wasser sehr ge» litten. Die Entstehung des Feuers wird wieder auf Brand- st i f t u n g zurückgeführt. Das Ende einer Liebeskragödle? Gestern vormittag wurden in der Nähe von Pichelsberg« auf den alten Schießständen in der Straße Nr. 8 ein Mann und eine Frau erschossen aufge- sunden. Nach vorgefundenen Papieren wurden die beiden als der 33 Jahr« alte Kaufmann Karl B i e l r o w aus Flensburg und ein« Bertha Qu ad« ebenfalls aus Flensburg festgestellt. Neben den Toten lag ein Trommslrevoloer. Allem Anschein nach hat Biel- row seine Begleiterin und sich erschossen. Das Motiv ist noch unbs- kannt, doch dürfte hier eine Liebesaffäre ihr blutiges Ende gefunden haben.— Der Forschungsreisende und Studienrat Alfred Schuster, der in Neu-TempelHof, Schulenburgring 2, wohnte, wurde gestern an der Dovebrücke als Leiche aus dem Wasser gezogen und dem Schau- hause übergeben. Ob ein Selbstmord, Unfall oder Verbrechen vor- liegt, tonnt« noch nicht ermittelt werden. Die wasserfperre, di«— wie wir meldeten— über das Haus Sprengel st r 33 oerhängt war, ist inzwischen aufgehoben worden. Der Hauseigentümer selber meldet uns, daß die Aufhebung erst erfolgt sei, nachdem er einen Teil des rückständigen Waffergeldes bezahlt hatte. Er fügt hinzu, daß nicht ihn di« Schuld an dem rigorosen Vorgehen der Wasserwerksverwaltung treffe, unter dem di« zahlreichen Mieter des Hauses zu leiden gehabt haben. Es fei ganz unmöglich, aus den Mieten die gestiegenen Un- kosten zu decken, behauptet er. Genossin Bohm-Schuch schreibt uns, daß sie in ihrem Maifeier- Referat di« Regierungsbildung gar nicht berührt habe. Dagegen habe sie ausführlich davon gesprochen, wie notwendig es für die Ent- wicklung zum Sozialismus ist. daß die Arbeiterschaft hüben und drüben wieder Vertrauen zu einander faßt. Nur dann könne der internationale Kapitalismus erfolgreich be- kämpft werden, dessen Auswirkungen die deutsche Arbeiterschaft in den wirtsachftlichcn Diktaten der Entente so furchtbar fühlt. Die �sehenswerte" Wohnung, über die wir aus dem Haufe Granseer Straße 2 berichteten, soll bis auf weiteres in ihrem skandalösen Zustand bleiben. Wir erfahren, daß die Wohnungs- lnspektion erklärt hat, da» Wohnzimmer brauche nicht tapeziert zu werden. In ihm haben nach einer vom Gesundheitsamt veranlaßt«» Desinfektion die Tapeten sich so gelöst, daß sie in quadratmetergroßen Fetzen herabhängen. Hält die Wohnungsinfpettion einen solchen Raum für ein„behagliches Heim"? Das Gesundheitsamt ist anderer Meinung, aber es hat anscheinend hierüber nicht zu bestimmen. Milch. Heute und Freitag, den S. Mai werden die D 1-Karten mit je'/« Liter, die D II- und D Ill-Karten mit je Liter Frischmilch beliefert Die st.-Llter-Krantenlarten und die illterSkarien werden mit Friich- milch beliefert, mit Ausnahme der Bezirke Z, 6, 7 und 8. AI » Ersatz für die ausfallende Frischmilch wird in diesen Bezirken'/♦ Liter EmulsionSmilch verausgabt. Die Ellzabete-Dancan-Schnle deransialtet heute am Himmel- fahrtStag. vormittag« Iii/z Uhr. im Theater der Volksbühne eine Vorführung rhythmischer Tänze zu Volk S- tümlichen Preisen. Damit wird der Arbeiterschaft etwas Seltenes geboten und sie sollte von dieser wohlseilen Gelegenheit regen Gebrauch machen. Das Maiprogramm der Scala. Zwei große Nummern geben dem neuen Programm den Charakter: das Berwandlungsstück der Fregolia und die Tänze von Ernst Matrag und Ketta Sterna. Die bereits früher in Benin gezeigten Künste der Fregolia find in der Tat verblüffend: sie stellt allein eine ganze Szenenfolge dar, und die Bühne bleibt nie leer. Ihre Berwandlungsfähigkeit und der außordentlich entwickelte Hilfsapporat hinter den Kulissen, der noch- her im Film vorgeführt wird, ermöglichen diese frappant« Wirkung. Künstlerisch hoch stehen die Leistungen des Tanzpaares Matrag- Sterna, das die Errungen'chaften des neuen Tanzes geschickt dem Varietebedürfnis anpaßt. Kostüm, Ausstattung, Musik sind im lchön- sten Einklang mit dem Tanz selbst. Die zierlich-geschmeidige Anmut der Sterna und der prachtvoll geschnellte Ausdruck Matrags ergänzen einander trefflich. Besonders das„Märchen" und der„Gassenhauer" schlugen ein. Auch die Tänze der Schüler gewährten in Erfindung und Ausführung geschmackvolle Reiz«. Reich vertreten ist das russi»
Stttie Menschenkind.
57]
III. Der Sündenfall. Don Martin Andersen Nexä. .Ist das wahr, daß du neulich zum Ball warst?"' fragte sie..Man erzählt's sich." .Wer hat das gesagt?" fragte er hitzig. Endlich hatte sie ihn so weit! „Das hat jemand gesagt,— ich sage nicht mehr, wer." erwiderte sie neckend. „Dann kannst du ihn grüßen und bestellen, es wflre gelogen." Karl vergaß sich: sonst pflegte er nie starke Worte zu «brauchen...... „Daran ist doch nichts Böses-- ach richtig, du hältst es ja für eine Sünde, zu tanzen! Wenn ich doch bloß mal auf einen Ball käme, einen recht feinen, feinen Ball!" Stine be- gann, vor sich hin zu trällern. „Das solltest du dir nicht wünschen— denn da wird nur sündhaftes Zeug getrieben." „Ach, du mit deiner Sünde,— das sagst du bei allem. Du bist ein richtiger Kopfhänger! Essen ist wohl auch beinah eine Sünde?— Gehst du heut abend wieder zur Betstunde?" Stine bereute, daß sie ihn geneckt hatte, und brachte das Ee- sprach auf seine Interessen, um es wieder gutzumachen. „Ja, wenn ich wegkomme. Willst du mit?" Nein, das wollte Stine nicht. Sie war ein paarmal mit ihm gegangen, bedankte sich aber dafür. Sie hatte nichts da- von. wenn sie als Kind der Sünde behandelt wurde, �von allen v?''en selbstgerechten Menschen, die vor lauter Frömmigkeit ewJft ganz schiefen Kopf bekommen hatten.— einen noch schiefem als die Frommen bei den Astdachtsfwnden des Krug- wirts' Was ging es sie an. was ihre Mutter getan hatte? Diese Leute behandelten sie. als hätten sie der Hölle eine sichere Beute entrissen. „Es lohnt sich nicht, hmzugehn." sagte sie. Karl antwortete nicht, er drang me in sie. Eine Weil« hörte man nur die Milchstrahlen in die Eimer rinnen. Dann tönte Lärm aus dem Wohnhause herüber. „Hör. wie sie grölen und sohlen," sagte er bitter,—„sie fetzen eine Ehre in chre Schande!" Er meinte die Mutter, Stine wußte es wohl.„Aber zu Neujahr mach' ich. daß ich sorttomm'; ich will nicht hier bleiben und das noch länger mit
ansehn!" Das sagte er so oft, und doch konnte er sich nicht aufraffen. „Ja, aber sie rühren einander ja gar nicht an." wandte Stine ein.„Sie küssen sich nicht mal." Sie sagte es, um ihn zu trösten, hatte aber auch nichts dagegen, ihn zugleich ein wenig auszuforschen. „Ach, das verstehst du nicht,— du bist ja ein Kind," rief er verzweifelt. „Das sagt ihr immer!" erwiderte Stine, etwas getrankt. Sie begriff nicht, was das für mystische Dinge waren, von denen sie nichts wissen durste.„Ist es das, daß sie neulich im Hotel in Frederiksoärk die Kleider mit ihm getauscht hat?" „Ach, es ist so vielerlei-- und alles ist gleich häßlich." Er schwieg plötzlich. Stine merkte, daß es ihyi den Hals zuschnürte; sie ließ chre Arbeit fahren und ging zu chm hm. Im Halbdunkel des Standes faßte sie seine Schultern. Aus eigner Erfahrung wußte sie, wie beruhigend eine Hand wirken kann. Aber auf ihn übte es die entgegengesetzte Wirkung aus, er begann zu schluchzen.„Du solltest deine Brüder veranlassen, nach Hause zu kommen und mit ihr zu reden," sagte sie still und legte chre Wange an sein Haar. „Die wollen niKt mehr nach Hause kommen," erwiderte er und schob sie zurück. Stine stand einen Augenblick da. Dann hörte sie den Taglöhner draußen auf dem Hofplatz und eilte zu ihrer Kuh. * Um halb zehn Uhr begann Karen zu gähnen und sich an den Beinen zu jucken, die voller Krampfadern waren; das war das Zeichen zum Aufbruch. Stine sputete sich, um über den Hafplatz zu kommen, bevor die Lampe in der Wohnstube ausgelöscht wurde. Eigentliche Angst vor der Finsternis hatte sie nicht, aber hier auf dem Bakkehof war die Dunkecheit lebendig. Das Grauen lauerte in allen Winkeln. Unterhalb der Schlucht brüllte das Meer und sandte beißende Käste nach dem offenen Hofplatz hin; es war, als griffe ihr jemand mit Eisfingern unter di- Kleider. Geschwind schlüpfte sie hinein und schloß die Tür hinter sich. Eins, zwei, drei, war sie aus- gekleidet und unter dem alten, schweren Deckbett geborgen. Im Bett war's zuerst eiskast, sie zog die Knie unters Hemd herauf, bis ans Kinn, und lag eine ganze Weile zahne- klappernd da, bis die ärgste Kälte aus dem Bette verjagt war. Aber es dauerte etwas, bis sie es richtig durchwärmt hatte; und vorher konnte sie nicht einschlafen, sondern lag da und dachte: dachte an die zu Hause und an die Mutter im Gefäna- nis, an Geld und Kleider, an das, was geschehen war, und
1 was in Zukunft geschehen würde. Für einen flüchtigen Augen- blick verweisten die Gedanken bei Großchen, verschoben sich ' dann aber auf etwas andres; Großchen glitt in Stines De- wußtsein immer mehr in den Hintergrund. Desto häufiger meldete sich dagegen die Mutter; es war. als käme sie und verlangte, daß auch an sie gedacht würde. Stine konnte sie deutlich vor sich sehen und mußte sich mit ihr beschäftigen, sie mochte wollen oder nicht. Sie woltte nicht gern und war froh, wenn sie merkte, daß die Gedanken eine andere Richtung einschlugen. Aber man durfte es sich nicht merken lasten, daß man etwas wußte. Sobald man dachte: Ah, nun lassen die Gedanken von Mutter ab,— ja, so kamen sie wieder mit ihr angeschleppt. Es kam und ging, wie es Lust hatte, immer vager und vager, je wärmer sie wurde, und je mehr der Schlaf sie umfing. Einen Augenblick verweilte sie bei dem großen Klaus, der daheim im Elsternnest im Stalle stand und so gemütlich taute, und bei dem neuen Badehotel, das im Dorf gebaut werden sollte— und streifte auf dem Wege in den Schlaf hinein ganz flüchtig Karl. Karl war alles andere als Stines Held; der Mann, den sie bewundern sollte, mußte ganz anders beschaffen sein. Daß er sich unglücklich fühlte, erregte ihr Gemüt; er litt, deshalb tat er ihr leid. Es war zum Weinen, wie er umherwankte, Heimat- und elternlos im eigenen Heim; und für Stine bedeutete Mitleidhaben eine Aufforderung zu dem Versuch, zu helfen. Allzu bereit, wie sie war, Bürden aus sich zu nehmen, zerbrach sie sich vergebens ihr kleines Gehirn, um Auswege zu finden, was seinen Zu- stand betraf, und konnte nicht wieder davon loskommen. Er muhte weit fort, ja, das mußte er,— zu seinem lieben Bruder. Ihm sollte er beim Schulunterricht helfen. Sich Respekt zu verschaffen, würde ihm gewiß schwer fallen, aber er sang die Kirchenlieder so schön! Sie selber wollte nach der Hauptstadt in Dienst gehen und phantasierte— halb im Schlafe—. daß sie schon da sei. Keinem geringeren als dem Lehrer führte sie die Wirtschaft; es war Pause, und sie brachte ihm den Kaffee hinein. Froh lachte er ihr zu, denn sie hatte frischen Kuchen zum Kaffee ge- backen, um ihn zu überraschen.„Du bist ein tüchtiges Haus- Mütterchen," sagte er und strich ihr übers Haar. Stine wollte sich verneigen, aber in diesem Augenblick verspürte sie einen Ruck in dem einen Dein, und sie wurde wach. So etwas hatte Großchen ein Schlafwahrzeichen genannt.„Dann soll man aufhorchen, denn dann ist da etwas, das einen nötig hat," hatte Großchen gejagt. Und Stine lag stül und horchte, mit erhobenem Kopf und angehauenem Atem.(Forts, folgt.)