Nr.2S7«ZH.�ahrgang
Heilage ües Vorwärts
donnerstag, y. Juni 1921
GroßGerMl Gebt keine Trinkgelöer! Ss kst dem Publikum zur lieben Gewohnheit geworden, Zln- gehörigen verschiedener Berufe Trinkgelder zu geben, vor allem den Angestellten im 5jotel-, Restaurant- und Cafegewerbe. Dieses Trink- gelderwesen, vom gewerkschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ein U n wesen, ist den Unternehmern außerordentlich willkommen. Sie können, gestützt auf die Almosen, die ihre Angestellten von den Kunden erhalten, diese verhältnismäßig niedrig entlohnen und ihren eigenen Gewinn vergrößern. Schon seit langem ist es das Bestreben der Gewerkschaften, die Abschaffung dieses Trinkgelderg«be»s und-nehmsns durchzuführen. Im Januar 1319 waren es die Gast- Wirtsgehilfen, die für feste Löhne und für Abschaffung des Trinkgeldes demonstrierten und streikten. Sie haben ihre Forde- rungen fast überall durchgesetzt. Jetzt macht sich aber wieder eine außerordentlich lebhafte Tätigkeit der Arbeitgeber bemerkbar, die das Trintgeldsystem wieder einführen wollen. Bor allem sind es die Arbeitgeberverbände in den Kur- und Badeorten, die jetzt unmittel- bar vor Beginn der Saison Richtlinien herausgeben, in denen be- tont wird,„daß die Trinkgelder grundsätzlich nicht abgelöst werden. Tarife werden nicht abgeschlossen. Jede Art Garantie- löhne wird abgelehnt". Die Unternehmer gehen so weit zu erklären, „daß die Trinkgeldoblösung überhaupt nicht zu bis- k u t i e r e n sei". Sie wollen das Trinkgeld wieder obligatorisch machen und verewigen und geben sich dabei der angenehmen hoff- nung hin, daß durch die Wiedereinführung des Trinkgeldsystems der Kampf gegen den Achtstundentag erleichtert wird. Wie man den Kellnern den festen Lohn vorenthalten will, so auch den Zimmermädchen, den Hotelhausdienern und anderen. Der Kampf der Gastwirtsgehilfen gegen diese Offensiv« der Unternehmer ist für die Arbeiterschaft keineswegs gleichgültig. Ins- besondere die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter haben die ver- dämmte Pflicht und Schuldigkeit, ihn mit allen Mitteln zu unter- stützen. Je öfter sie Trinkgelder geben, desto weniger wird der ein- zelne sich bereitfinden, gegen die Wiedereinführung des Trinkgeld- systems anzukämpfen. Das gilt insbesondere von den nicht organi- sierten Angestellten des Gastwirtsgewerbes. Wie die Organisation der Hotel -, Restaurations- und Cafeangestellten statt der Trinkgelder feste Löhne fordert und wie sie ihre Mitglieder auffordert, keine Trinkgelder anzunehmen, so hat die übrige Arbeiterschaft die Ver- pflichtung, in keinem Falle irgend jemand— ganz gleich, in welchem Gewerbe er tätig ist— mit Trinkgeldern»u belohnen. Rur so können diejenigen, die noch fürs Trinkgeld afbeiten, gezwungen werden, sich den Forderungen ihrer organisierten Kollegen und deren Verband anzuschließen, nur so können die, die zwar organisiert sind, aber der Versuchung nicht widerstehen können, zur Disziplin erzogen werden, nur so kann der Kampf der organisierten Gastwirtsgehilfen um festen, auskömmlichen Lohn zum Erfolg führen. Wir fordern alle organisierten Arbeiter auf, insbesondere bei ihren Ausflügen und eventuellen Ferienreisen, nur die ihnen vor» gelegte Rechnung zu bezahlen, aber in keinem Falle Trink- gelder zu geben. E- gilt den Kampf— vor allem der Gast- wirtsgehilsen— nach anständiger Entlohnung und gegen die Wiedereinführung des Trinkgeldsystems energisch zu unter- stützen. wie Heeresgut verschleuöeet wurde. Einen Beweis für die mehrfach nn Parlament vorgebrachte De- hauptung, daß die Staatskasse um viele Millionen durch Verschiebung von Heeresgut geschädigt worden ist, lieferte eine Verhandlung. welche gestern die 2. Strafkammer des Landgerichts II beschäftigt«. Wegen Diebstahls in Jdealkonkurrenz mit Vergehen gegen den 8 ISS lEntziehung aus amtlichem Gewahrsam) war der Kaufmann Martin Kreimeyer anoeklagt.— Dem Polizeibeomten haberer wurde eines Tages von einem früheren Flieger hiller, der nicht wußte, daß haberer Beamter ist, Fleuazeugmaterial, wie Gummi- reifen, Kompasse und sehr wertvoll« Meßinstrument «, die sämtlich er» kennbar heeresgut waren, zum Kauf angeboten, haberer ging zum Schein darauf ein und erfuhr auf diese Mei'e, daß der eigentliche Verkäufer der jetzige Angeklagte Kreimeyer war, der damals mit dem schönen Titel Obermaterialienverwaltungsmaat bei der Land- fliegerabteilung in Adlersbof Dienst tat. Im Kellerraum des Kan- tinenpächters hofimann entdeckte die Polizei dann«in ganzes Lager von wertvollen Materialien aus heeresgut, die bei geeigneter Ver-
Wendung viele hunderttausend Mark für die Staatskasse gebrach' hätten, io aber von dem Angeklagten für 29 099 M. verkaust werden sollten.—. Der Angeklagte bestritt nicht, daß die sämtlichen Sachen Heereseigentum waren,«inen Teil habe er in den Auktionen auf dem Flugplatz erworben, den Rest habe er im Interesie der Staats- lasse„sichergestellt", da bei der damals bestehenden Soldatsnrots- Wirtschaft sich jeder nahm, was er verschieben konnte und viele da- durch reiche Leute geworden sind.' In der gestrigen Verhandlung spielte sich in der Beweisauf- nahm« eine charakteristische Szene ab. Der als Zeug« geladene Marineoberingenieur Frericks hatte in seiner früheren Vernehmung vor der Polizei anpegebeir, daß er dem Angeklagten nur zirka 29— 25 all« unbrauchbare Reifen zum Preis« von 899 M. verkauft habe. Da bei Kreimeyer jedoch 814 Reifen, darunter 4S neue und 298 ge- brauchte, gefunden wurden, stützte die Staatsanwaltschaft chre An- klage auf diese Bekundung, daß K. nur zirka 25 rechtmäßig er- worden, die übrigen aber gestohlen haben müsie. Auf die Frage des Rechtsanwalts Dr. D o n i g als Verteidiger des Angeklagten, ob es nicht auch 199 Reifen gewesen sein konnten, gab der Zeuge diese Möglichkeit zu. Auf die weitere Frage, ob es nicht noch mehr waren, erklärte der Zeug«: höchstens 299!— Vorsitzender: Können es nicht auch 399 gewesen sein?— Zeuge: Das ist möglich. — Dadurch stellte sich die sehr interessante Tatsache heraus, daß es möglich war, einen schweren Pneumatikreifen für noch nicht 99 Pf. das Stück zu kaufen. Der Staatsanwalt beantragte gegen den bisher unbescholtenen Angeklagten 19 Monate Gefängnis, während R.-A. Dr. D o n i g die Freisprechung für geboten hielt, da nach jener Zeugenaussage die Möglichkeit bestehe, daß der Angeklagt« die Sachen rechtmäßig er. warben habe. Das Gericht hielt den Angeklagten zwar kür dringend verdächtig, kam jedoch, da bei dem damals herrschenden Tohuwabohu der Soldatenwirtschaft eine restlose Aufklärung des Sachverhalts nicht mehr möglich sei, aus Grund eines nc>a liquet(nicht aufgeklärt) zu einer Freisprechung._ Lynchjustiz an Runge. Nach Meldungen verschiedener Blätter wurde gestern an dem ehemaligen Husaren Runge, einen der bekannten hauptbeteiligten an der Ermordung Liebknechts und Rosa Luxemburgs, ein Akt der Lynchjustiz verübt. Der„Lokal-Anzeiger" meldet darüber: heute vormittag gegen 11 Uhr erschien in dem Gewerkschasts- Haus der Metallarbeiter in der Linienstraße ein junger Mann, der bat, ihn in die Liste der Arbeitsuchenden einzutragen. Als der Beamte ihn nach seinem Namen fragte und er einen an- genommenen, auf den er Papiere besaß, angab, traten mehrere anwesend« Arbeiter, die ihn schon längere Zell beobachtet hatten, auf ihn zu und sagten:„Du bist ja der Husar Runge, der unser« Genossin Rosa Luxembura ermordet hat." Runge ergriff die Flucht. Dies war das Signal zu einem allgemeinen Angriff. Zahlreiche Arbeiter stürzten hinter dem Flüchlling her, holten ihn bald ein und schlugen ihn zu Boden. Als immer neue Angreifer auf den schon halb Bewußtlosen einschlugen, erschienen mehrere Schutzpolizisten.die ihn mw den Händen der Meng« befreiten und nach der Alexander. Kaserne brachten. Ein ungeheurer Menschen ström begleitete sohlend, pfeifend, schreiend und drohend den Transport und die Beamten mußten wtederholl zahlreiche neue Angriffe abwehren. In der Alexander-Kaserne brach Runae bewußtlos zusammen. Ein Arzt bemühte sich um ihn und stellte fest, daß er keinerlei lebensgefährlicke Verletzun- gen davongetragen hatte. Runge wurde in Schutzhaft ge- nommen. Runge war am 15. Mai 1919 vom Kriegsgericht zu zwei Iahren Gefängnis verurteilt worden. Er ist danach wahr- scheinlich vor kurzem aus der Haft entlassen worden. Vor einiger Zeit veröffentlichte die„Freiheit" ein angebliches G e- ständnis Runges, wonach Runge zugegeben hat, daß ex in Gemeinschaft mit den Offizieren des Edenhotels planmäßig und vorbedacht den Mord an Liebknecht und Rosa Luxemburg begangen hat. Da durch die Ver- Haftung des Leutnants Krull die Mordtat aus den Januartagen 1913 sowieso wieder aktuell geworden ist, erlauben wir uns hiermit öffentlich die Anfrage, welche Schritte die Staats. a n w a l t s ch a f t auf das angebliche Geständnis des Runge hin unternommen hat und welches das Resultat ihrer Unter- s u ch u n g e n gewesen ist.
Einbrecher bei der Kontrollkommission. Bon Einbrechern heimgesucht wurde in der Zeit vom vergan- genen Sonnabend bis zum Montag das photographisch« Atelier der Interalliierten Kontrollkommission im 5. Stock des Hotels Bellevue. Die Verbrecher erbeuteten für über 199 999 M. photographische Ar- tikel. Objektive von Tessar und Zeitz mit Verschluß, heliar- und Lasour-Berthiot-Objettio«, englische Prismen, drei Kodak -Apparate usw. Der Kriminalpolizei ist es noch nicht gelungen, die Täter oder den Verbleib ihrer Beute zu ermitteln. Wer nach der einen oder der anderen Richtung Angaben machen kann, wird ersucht, sich bei Kriminaloberwachtmeister Ziegler, Dienststelle B. I. 12 im Zimmer 79 des Polizeipräsidiums zu melden. Vor Ankauf des ge- stohlenen Gutes wird gewarnt.— Aus diesem Anlaß erfährt die Oeffenllichteit die interessante Tattache, daß sich die Interalliierte Kontrollkommission ein eigenes photographisches Atelier hält. Wozu eigentlich? Die Wochenkarten. Eine Anfrage der S?D.»Reichskagsahgeordneken. Die Rücksichtslosigkeit, mit der die Reichseisenbahnverwaltung über die berechtigten Wünsche der arbeitenden Bevölkerung hinweg- gegangen ist, die die Bevölkerung m bezug auf Festsetzung eines gerechten, die wahren wirtschaftlichen Verhältnisie der unteren Klassen berücksichtigenden Preises für Wochenkarten geäußert hat, hat in diese.1 Kreisen Empörung hervorgerufen. Des'-olb ist von den Genossen Keil, Schumann, Geck- Mannheim, Brey, Müller- Franken und Hildenbrand unter dem 4. Juni fol- gende Anfrage an den Reichstag ergangen: Die trotz vielfachen Einspruchs am 1. Juni in Kraft getretenen Preise der allgemeinen.Wochenkarten der Reichs- eisenbahnen erweisen sich für den Verkehr der Arbeiter und Ange st eilten zwischen Wohnung und Ar- b e i t s st ä t t e einfach als unerträglich. Eine Möglichkeit. die großen Fahrpreissteigerungen durch Lohn, und Gehaltserhöhun- gen auszugleichen, ist bei den derzeitigen Wirtschaftsverhällnissen nicht gegeben. Die allgemeine Wohnungsnot gestattet keinen die Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsstätte abkürzenden Woh- nungswechsel. Der Versuch, ein« Erhöhung der Fahrpreise bis zu 359 Proz. durch eine weitere heravdrückung der Lebenshaltung zu decken, müßte in zahllosen Familien ruinierend wirken. Eine schleu- niae Nachprüfung der neuen Tarife zu dem Zweck, für den beruf- lichen Verkehr der Arbeiter und Angestellten Sätze zu finden, die wirtschaftlich erträglich sind, ist daher dringend gehoten. Wir ftagen die Reichsregierung, ob sie bereit ist, mit der größt- möglichen Beschleunigung eine solch- Nachprüfung zu veranlassen. Auflösung des Lazaretts Schlaft Eharlottenburg. Der Konflikt im Bersorgungslazarett Schloß Charlottenburg soll leider keine friedliche Losung finden. Die streitenden Parteien haben einander so wenig Entgegenkommen gezeigt, da� eine Eini- gung nicht erzielt werden konnte. Am Dienstag haben die P a» tienten das vom Hauptversorgungsamt gestellte Ultimatum in einer erregten Versammlung ab- gelehnt. Nur wenige Patienten haben sich an der Abstimmung beteiligt: gerade die Freunde eines Entgegenkommens sollen sich der Stimmm- enthalten haben. Nach Ablehnung des Ultimatums hat das Hauptversorgungsamt beschlossen, die angedrohte Auslösung des Lazaretts sofort durchzuführen und am 9. Juni damit zu beginnen. Die Patienten sollen, soweit sie dazu bereit sind, in Wagen nach dem Lazarett Tempelhof gebracht werden. Wer nicht einwilligt, wird gänzlich entlassen. Die Angestellten des Lazaretts Charlollenburg� werden auf andere Lazarette Grotz-BexNns verteill. Dieser Aus- gang des Streites ist aufs lebhafteste zu bedauern, haben wieder einmal gewisse Drahtzieher ihre Hände im Spiele gehabt, denen mit einer friedlichen Lösung nicht gedient wäre? Mietekasfierung unter Polizeischuft? In Berliner Mietskasernen ist zwar vieles möglich. Wer daß ein Hauswirt oder sein Vertreter bei der Mictekasiierung die hinzu- ziehung von Polizei für nötig halten könnte, hatten wir bisher nicht geglaubt. An die Mieter der Häuser hussitenstr. 15 und 1 7 hat der dort bestehende Mieterrat ein Rundschreiben versandt, das über ein derartiges Vorgehen Anes Vertreters der hauscigentümerin berichtet und es als eine unerhörte Provokation der gesamten Mieterschaft zurückweist. Den Anlaß zur Hinzuziehung von Schutz- polizei soll ein stürmischer Auftritt gegeben haben, der zwischen
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Sline Menschenkind. III. Der Sündenfall.
Don Martin Andersen Nexö . (Schluß.) Und mm dank' ich euch für all die Zeit, wir sind jetzt wohl mit'nonder fertig. Ihr habt es mir schwer gemacht weil ihr's mir zu leicht gemacht habt! Es gehört ein Mann dazu, ein paar Pferds zu tragen, und er muß die ganze Zeit die Zügel in der Hand behalten: aber wenn ihr einmal in Gang gekommen seid, dann geht ihr— wenn auch träge— das ganze Leben long. Ihr seid das bequemste Arbeitstier, mit dem man zu tun gehabt hat, ein Besenstiel kann euch fahren. Aber ihr seid zu klein! Das ist eure Stärke gegen- über unsereinem gewesen- durch eure Schläfrigkeit habt ihr gesiegt. Nun will ich's euch nachmachen und versuchen, ob ich mir auch ein bißchen Glück erschlafen kann. Gesegnete Mahlzeit wünsch' ich euch allen!" Gaffend saßen die Leute da, nachdem der Krugwirt ge- gangen war.„Das war ja«in ordentliches Donnerwetter," sagte Lars Peter plötzlich und löste dadurch die Stimmung. „Ja, er hat euch nicht zart behandelt." sagten die Kopen- Hagener.„Aber ein mörderisches Maul hat er!"
Die Sonne war im Beariff unterzugehen, man wartete aus die Musik zum Tanz. Karl war von der Arbeit gekom- msn, und er und Stine gingen Arm in Arm plaudernd in der Nähe des Festplatzes um?ier. Von den Höfen ringsum hatte sich junges Volk eingefunden, um ein Tänzchen zu machen: Lars Peter stieß auf Sine vom Bakkehof.«Du hast also deine wunderbaren roten Backen immer noch," sagte er ver- gnügt.„Mit dir möcht' man verflixt gern ein Tänzchen machen." Dos junge Volk wurde ungeduldig und schickte jemand nach dem Krug, den Spielmann zu holen. Er kam nicht zurück, und da wurde ein anderer ausgeschickt. Endlich kam ein Mensch durch den Hohlweg gelaufen, ein funger Bursch von einem der Höfe weiter landeinwärts war e».„Es wird nichts aus dem Tanz," rief er geschwätzig.„Der Krugwirt hat sich erschaffen. Er hat beide Flintenläufe in den Mund gesteckt und mit der großen Zehe abgedrückt, sein Gehirn ist bis an die Decke gespritzt." Ein Schrei ertönte, ein kurzes, scharfes Aufkreischen; Lars Petsr kannte den Laut und lief hinzu. Stine lag im Grase
und krümmte sich— jammernd: Karl stand über sie gebeugt. Lars Peter nahm sie auf feine Arme und trug sie heim.
Stine lag wimmernd auf dem Bett, mit halbgefchloffenen Augen. Rings um sie war ein Gelaufe aus und ein, aus und ein. Bon Zeit zu Zeit fühlte sie eine kalte, schweißige, zitternde Hand auf ihrer Stirn— es war Karl.„Geh' zur Mutter hinein," flüsterte sie.„O— o!" Und dann stieß sie ein langgedehntes Kreischen in die Sommernacht. Warum lies man so und trat so auf— warun� quälte man sie so? Durch die halbgeschlossenen Augen fing sie alles auf, was in der Stube vorging. Die Frauen liefen hin und her, stellten den einen Gegenstand hin, nahmen einen anderen in die Hand— und stampften auf! Die Mutter konnte gewiß keine Ruhe finden— die Aermste! Aber Karl faß wohl bier bei ihr: es war dumm von ihm, sich hier in der Wochenstube aufzu- halten und sich vor allen den Frauen zum Narren zu machen. Er sollte drinnen am Bett der Mutter sitzen, ihre Hand halten und achtgeben, daß sie nicht erlosch wie ein Licht. O— nein! Stine sperrte den Mund weit auf! Sie Härte selber nicht, daß sie schrie, aber alle die andern Laute hörte sie: einen Menschen, der in holzschuhen um den Giebel lief, und einen andern, der drinnen in der Stube einen Stuhl hinstellte. Es war der Wochenbettfttchl des Dorfes, sie kannte ihn recht gut von Lars Jensens Witwe her, bei der er seinen Platz hatte. Er war sehr breit und ganz kurz im Sitz, die Kinder hatten ihn für eine Bank angesehn.»Ja, eine Folterbank," hatte Lars Jensens Witwe gesagt. Sie war bei alken Kindbetten zugegen, nur sie selbst hotte keine Kinder gekriegt; wo die Bank war, da war sie auch. Letzt ertönte ihre Stimme dicht über Stines Kopf.„Komm, mein Mädchen," sagte sie,„nu wollen wir sehn, daß wir schnell damit fertig werden." Dann schleppten sie sie hinein auf die Folterbank und stapelten sie auf. Die Füße wurden'oben auf der Querleiste angebracht und die Knie ganz nach der Seite gespreizt, so daß sie an die Lehne des Stuhles stießen. Sie hielten sie an den Knien fest, und Lars Jensens Witwe stand dahinter und preßte ihre Lende.„Sieh," sagte sie.„nun los!" Und Stine stieß einen gellenden Schrei aus.„Das war recht," sagten die Frauen und lachten,„das könnt' man bis zum Bakkehof hören." Stine war erstaunt, sie selbst hatte mitten während der Wehen die kleine Uhr deutlich zwei schlagen hören... und warum sagten sie: auf dem Bakkehof?„So— eine neue Wehe:" rief Lars Jensens Witwe. Und Stine äcbrte wie auf Kommando. O. aber warum quält man sie? Was hat sie dem»
getan? Sie schreit zum Himmel in ihrer Rot, stöhnt und jammert, mißbraucht und zerschmettert von entsetzlicher Pein. „Das sind die bittern Folgen," sagen die Frauen und lachen, „das süße Vergnügen haben wir ja hinter uns!"' O, aber— nein, nein! Was ist das— der Sünde Lust? Was hat sie denn wohl anders getan als ihre Pflicht? Immer nur ihre Pflicht? Und nun soll sie dafür bestraft werden mit der Qual der Hölle. Sie ergreifen sie mit glühenden Zangen und schrauben sie fester an die Marterbank, und wenn sie mit den Zähnen knirscht und schreit wie ein wildes Tier, so lachen die Frauen und sagen: Mebr noch! Tausend Teufel baben sie gepackt, vor ihren Augen ist Feuer! Und plötzlich verschwindet dos Ganze, sie hört Karl mit der Mutter reden, langsam und träge, von deyi Diesseits und dem Jenseits: und sie denkt froh: Wie gut ist es, daß er ins Haus kam; denn dann hat die Mutter doch einen, der sie versteht. Mit ihm kann sie reden; es ist, als gleite sie an seiner Hand weiter und weiter fort. Aber jetzt sehen ihre Augen etwas Schönes. Neues Licht ist darin angezündet. Das hat Karl bewirkt. Und plötzlich ist es wieder da, alles stürzt ein! sie wird zermablen zwischen den Brocken der Welt, die vergangen ist, ist zerschmettert.„Schau!" sagt eine Stimme—„das ging ja ganz leicht." Eine Kinderstimme schreit, und Stine sinkt weich, ganz weich in einen Abgrund. Als sie wieder aufwacht, scheint die Sonne ans sie, und sie liegt in einem weißen Bett, die Laken haben Hohlsäume, und Halsqueder und Hals sind mit weißen Spitzen eingefaßt. Dos rotblonde Haar liegt auf dem Nackttkleid, eine der Frauen hat es gebürstet: nun steht sie mit der Bürste in der Hand da und sagt:„Das Mädel hat eigent- sich ganz schönes Haar: das hat man gar nicht sehen können. als es geflochten war." Die Zacken des Kopfkissens rahinen ihren Kopf ein, und in ihrem Arm liegt ein kleines rotes Ding ein Menschenbündel. Sie betrachtet es fremd und gleichgültig, während Karl am Bett steht und vor Freud « über irgend etwas Sinnloses weint.„Du lebst ja!" sagt er.. Natürlich lebt sie, was sollte sie denn sonst tun? Da kommt Lars Peter bereingestürmt; er ist im Krug ge- wesen, um zu bitten, das? ein Fuhrwerk bereitgehalten wird — für Tod und Leben. Er nimmt Stine das Kleine ab und hält es gegen das Licht.„I, so ein kleiner prächtiger Menschen- keim!" sagt er mit warmer, tiefer Stimme.„Den kannst du mir lassen." Da erst erkannte Stine, daß sie ein ricktiges lebendige� Kind bekommen hatte, und sie streckte die Arme nach dem Kleinen aus.