Nr. 327■> ZS. Jahrgang
1. Heilaae öes Vorwärts
Donnerstag, 14. Juli 1921
GroßAerlm Aufgebot Ses Schwurgerichts wegen einer Jahne. Seit uns durch bis Verfassung als Reichssarbe Schnzarz-rot- ccü> bestimmt worden ist, geht die unerhörte nichtswürdige Hetze gegen die die Reichshoheit darstellende Flagge, während dieselben Kreise, die in Wort und Schrift die Reichsflagge herabzerren, i n frecher Provokation die alten fchwarz-weiß- roten Farben zeigen und tragen wo sie nur können. Da hat es sich nun in dem kleinen märkischen Stiidtchen Dahme ereignet, daß der Jugendbund des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes am Ii. September v. I. fein erstes Stiftungsfest feierte. Der Bund zog mit schwarz-weiß-roter Fahne durch die Stra- ß< n, uni Ausstellung vor dem Rathaus zu nehmen. Angesichts dieser offenen antirepublikanischen Demonstration konnte ein Dutzend Arbeiter seine herausgeforderten republikanischen Gefühle und semer Empörung nicht mehr Herr bleiben: sie entrissen dem Fahnen- träger die Fahne, zerrissen sie in Stücke und brachen den Fahnenstock entzwei. Und wegen dieses„Verbrechens� schleppte man zwölf ehrenwerte Männer der Arbeit gestern vor die Potsdamer Straf- kammer. Diese aber sah das Vergehen offenbar für so schwer an, daß sie sich, nachdem ein größeres Zeugenaufgebot vernommen war, für unzuständig fühlte und die Sache an das Schwurgericht verwies. Die Angeklagden, fast ausschließlich Familienväter, werden sich nun wegen Landfriedensbruchs zu oerantworten haben. Wenn deutschnationale Studenten das, was hier Arbeiter mit der schwarz-weiß-roten Fahne getan haben, mit der schwarz-rot- goldene Fahne getan hätten, dann würde die gesamte Rechte van einem„Dummen-Iungenstreich" reden. Die Arbeiter aber werden vor das Schwurgericht geschleppt. Wir meinen jedoch, unsere Gerichte hätten doch wohl immer noch die Prozesse gegen die Kapp- Putschisten zu erledigen. Möchte man dies« Prozesse nicht endlich und zuerst erledigen, ehe man ein Dutzend Arbeiter prozessiert, die eine antirepu- blikanische Fahne zerrissen haben!
Das ahnungslose„Mnttchen". Eine angebliche Beamtenbestechung im Moabiter Untersuchungs- gefängnis, welche auf eine zum mindesten originelle Art zur Kennt- nis der Behörde gekommen war, beschäftigte das Schösfengericht Berlin-Mitte. Angeklagt wegen aktiver bzw. passiver Bestechung waren der Kaufmann Willi Lehmann und der Hilfsgefangenen- oufseher Heitmann.— Der Angeklagte Lehmann befand sich vor einiger Zeit in dem Moabiter Untersuchungsgefängnis in Haft.� In seinem Besitze befand sich noch ein Fünszigmarkschein, den er bei der Aufnahme in das Gefängnis verheimlicht hatte. Als er erfuhr, daß feine Mutter, deren Ernährer er war, erkrankt fei, trat er an den Mitangeklagten Heitmann mit der Bitte heran, den Fünszigmarkschein seinem kranken„Muttchen" zu bringen. Heitmann dachte sich nichts Bh-sts dabei und nahm den.Schein an sich. Wie er behauptet, habe er in der Straßenbahn zu' feinem Schrecken gesehen, dag er kein Geld bei sich habe. Er habe den Schein deshalb wechseln müssen und da er sich genierte, nur 49 M. abzuliefern, chäke er'nür 40 M. abgeliefert in der Absicht, die fehlenden 10 M. am nächsten dienst- freien Tage abzuliefern. Tatsächlich lieferte er auch am nächst- folgenden Tage die 10 M. ab Inzwischen war das Malheur aber schon geschehen.„Muttchen" hatte nämlich in aller Harmlosigkeit an ihren Sohn einen Brief geschrieben, in welchem sie sich für die aus dem Gefängnis übersandten 40 M. bedankte. Da alle Ge- fangenenbriefe kontrolliert werden, kam die an sich harmlose Sache zur Entdeckung. — Der Amtsanwalt beantragte K bzw. 4 Monate Gefängnis, während die Rechtsanwälte Dr. Frey und Müller- Stromeyer geltend machten, daß sich wohl kein Beamter mit einem so lächerlich geringen Betrage, wie heutzutage 10 M. sind. „bestechen" lassen werde. Das Gericht hielt auch die Angaben der Angeklagten für glaubhaft und erkannte auf Freisprechung.
Das öenzwgejchöst öer Staöt Elberfeld . Zum Prozeh gegen Stiller und Genossen. Der Prozeß gegen Stiller, Assessor Böhmer und Genossen nahm gestern seinen Fortgang. Es wurde zunächst der aus dem Prozeß Sonnenfeld-Sklarz bekannte junge Ernst Sonnenfeld ver- nommen, der in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis ein Gespräch zwischen dem Angeklagten Stiller und Kruse belauscht haben will, das für die beiden Angeklagten belastend war. Die Verteidigung be- streitet die technische Möglichkeit, ein solches Gespräch abzuhören und beantragte Lokaltermin. Sodann kam das Benzingefchä.ft der Stadt Elber- feld zur Verhandlung. Die Kohlenstelle der Stadt Elber- feld hatte unter Umgehung der gesetzlichen Vorschriften 2 ISO 00 Liter Benzin aus Belgien beschafft und befürchtete die Beschlagnahme. Um diese zu verhindern sandte der Leiter der Kohlenstelle Elberfeld den Kaufmann Hachenbrecht noch Berlin , um, wenn möglich, die nachträgliche Genehmigung zur Einfuhr zu erhalten. H. wurde auf allerlei Umwegen mit dem Angeklagten Höhn bekannt. Es fanden daran die Unterhandlungen über die Möglichkeit der Besorgung des Einfuhrsckieins statt, mit dem Ergebnis, daß dafür die Summe von 1 Million Mark festgesetzt wurde. Hachenbrecht erhielt von der Kohlenstelle Elberfeld die Genehmigung zur Bezahlung der Million, Böhmer besorgte dann wieder durch Stiller die Einfuhr- bewillkgung, die nach Böhmers Versicherungen absolut einwandfrei sein sollte, und die Million wurde gezahlt. Das Geld ist zwischen Böhmer, einem Hauptmann, Stiller, Hähn und mehreren Vermitt- lern geteilt. Der als Zeuge über dieses ganze Geschäft vernommene Kaufmann Habel hat dafür, daß er die Bekanntschaft mit Hachen- brecht vermittelt hat, auf seinen Teil 17S 000 M. erhalten. Da im weiteren Verlauf der Verhandlungen der Angeklagte Böhmer unter Schwächezuständen litt, wurde Geh. Medizinalrat Hoffmann herbeigerufen, der bekundete, daß Böhmer als starker illeur�stb-'nii ev Smonun" und Stärkungsmittel bedürfe. Kriminalkommissar K l i n k h a m m e r, der die Strafsache be- arbeitet hat, schildert die polizeilichen Maßnahmen, die schließlich zur Verhaftung des Assessors Böhmer und der Mitangeklagten ge- führt haben. Der Stein ist durch den Dampfsägereibesitzer Otto K o b l i tz in Ostpreußen ins Rollen gebracht worden, der an dem An- klagefall der Einfuhrbewilligung für Holz im Werte von 30 Millionen Mark interessiert war Koblitz war Verdacht hinsichtlich der Echtheit der Scheine aufgestiegen: er hatte sich an die Kriminal- polizei gewandt, und diese war auf Verabredung in die Geschäfts- räume der Niederdeutschen Handelsgesellschaft eingedrungen und hatte die Dokumente von Böhmer erhalten. Interessant war noch die Mitteilung, daß Böhmer gegen Klinkhammer ein noch schwebendes Strafverfahren wegen Beleidigung angestrengt hat, weil er ihn für die in den Zeitungen erschienenen Artikel verantwortlich macht.— Die Verhandlung wird heute fortgesetzt.
hoffen, daß es diesen gelingen wird, den Widerstand des Reichswehr - Ministeriums zu brechen. Ein mitfühlendes Herz scheint das Reichs» Ministerium für die armen Schwerbeschädigten, die bedauernswerte» sten Opfer des Krieges, nicht zu haben.
Reichswehrminlsterium und Kriegsbeschädigte. Für die Kreise Ober- und Riederbarnim ist für die Kriegsbeschä- digten seit 1. März 1921 ein eigenes Vcrsorgungsamt gebildet worden. Bei Bildung des Amtes war der Gedanke leitend, den aus den Land- kreisen weicher gereisten Beschädigten den Weg möglichst zu verkürzen. Aus diesem Grunde sollte das neue Amt im Norden Berlins in einer der ehemaligen Kasernen untergebracht werden, um so allen Kriegs- beschädigten, die auf dem Stettiner und Lehrter Bahnhof ankommen, die stundenlange Fahrt mit mehrmaligem Umsteigen nach Schöneberg zu ersparen. Das Reichsarbeitsministerium und Aas'Hauptversor- gungoamt. bemühte sich.feit.November 1920-vergebens» ein Unter» komnien für das neugebltdste Verforgungsami Ober- und Nieder- barnim zu finden, und noch immer müssen Aie Schwerbeschädigten sich besondere Begleiter nehmen, die sie durch Berlin führen und Kosten für Droschkenfahrten usw. aufwenden. Wie sind solche Verhältnisse möglich! Stehen doch im Norden Berlins eine Unmenge Kasernenräum« leer, oder sind nur mit Abwicklungsstellen des 200 000 Mann starken Heeres und der ehemaligen Freikorps belegt. Alle diese leerstehenden Räume nimmt nun das Reichswehrministerium für sich in Anspruch und ist nicht zu bewegen, auch nur einen minimalen Bruchteil der leeren Räume für seine schwerbeschädigten ehemaligen Angehörigen herzugeben. Eine lebhafte Beunruhigung herrscht unter den Beschädigten der Kreise Ober- und Niederbarnim , weil Monat um Monat vergeht, ohne daß eine zufriedenstellende Regelung erfolgt. Wie wir hören, befassen sich jetzt ihre Organisationen mit dieser Angelegenheit. Wir
Amt Norden Rettungsamt. Es sind in Groh-Berlin an Häusern, in Werkstätten, Dienst- räumen der öffentlichen Gebäude usw. noch zahlreiche Blechplakate verbreitet, welche auf die nächste Rettungsstelle hinweisen, aber noch den Hinweis auf sine frühere veraltete Telephonverbindung der betreffenden Rettungsstelle tragen. Diese Telephonverbindungen können jetzt nicht mehr benutzt werden. Das Rettungsamt Groß- Berlin hat jetzt eine eigene Telephonzentrale, welche die Bezeich- nung„Amt Norden, R e t t u n g s am t" hat. Durch diese Zen- trale ist jede einzelne Rettungsstelle telephonisch zu erreichen. Es empfiehlt sich, die auf den Blcchplakaten befindlichen Hinweise auf den Telephonanschluß der einzelnen Rettungsstellen zu entfernen ! und dafür den Hinweis zu setzen„Fernfprechanschluß Amt �Norden Rettungsamt. Auf Anruf bei dieser Stelle wird sofort mit der gewünschten Rettungsstelle verbunden. Die einzelnen ■ Besitzer der Blechplakate werden gebeten, diese Korrektur selbst aus- ! zuführen. Ein gefährlicher Gepäckschwindler treibt neuerdings zwischen dem Anhalter und Stettinsr Bahnhof sein Unrvesen und hat bereits mehrere Personen empfindlich geschädigt, ohne daß es gelungen wäre, ihm das Handwerk zu legen. Auf de� zwischen dem Stettiner und dem Anhalter Bahnhof verkehrenden Straßenbahnlinie 101 macht er geschickt die Bekanntschaft auf der Durchreise befindlicher Per- fönen, meist allein reisender Damen, und veranlaßt sie, auf dem Bahnhof angelangt, bis zur Abfahrt des Zuges ihr Gepäck mst seinem eigenen abzugeben und ein nahegelegenes Kaffee aufzusuchen. Einige Zeit vor der Abfahrt des Zuges der Dame holt er zunächst sein eigenes Gepäck von der Gepäckaufbewahrung und erbietet sich dann, auch das Gepäck der Reisenden zu besorgen, wobei er sein eigenes „Gepäck", gewöhnlich ein Kupeekoffer aus Papiermache, gefüllt mit Flaschen voll Wasser, unter der Aufsicht der Reisenden zurückläßt, um mit dem Gepäck der Dame dmin zu verschwinöen. Durch sein über- aus sicheres Auftreten und seine elegante Kleidung haben seine Opfer zunächst keinen Argwohn und warten geduldig auf die Rückkehr des hilfsbereiten Kavaliers, der inzwischen mit dem Gepäck das Weite ge- sucht hat. Der Dieb wird beschrieben als etwa 1,70 Meter groß, zirka 3S Jahre alt, mit sehr gewandtem Auftreten. Durchreisenden kann zum Schutz gegen derartige Schwindler nur immer wieder der Rat gegeben werden, keinem Fremden ihr Gepäck anzuvertrauen. Zum Raubüberfall in der Poststraße. Für die Aufklärung des Raubüberfalles, der am 2. d. M. vormitiägs in der Zeit von 9% b s 10 Uhr auf die Hausangestellte Frida D i ß m a n n bei der Seiden- Händlerin K o z o w e r in der Poststraße 12 verübt wurde, ist die Belohnung auf 20000 Mark erhöht worden. Die Be- lohnung ist teils für die Wiederherbeifchaffung der geraubten Waren, Seidenstoffe im Werte von ungefähr 200 000 M., teils für die Er- greifung der Täter ausgesetzt. Wie gemeldet, wurde das Mädchen während der Abwesenheit der Wohnungsinhabcrin unter Umständen überfallen und gefesselt, die einen starken Verdacht für ihre Mitwisser- schcft bzw. ihr Einverständnis mit den Tätern ergeben. Zur Aus- klärung ist es erwünscht, daß sich die Personen melden, die zur au- gegebenen Zeit vor.den Häusern. Postftraße 12 oder Burgstrage 3, dem.zweiten Ausgange des Grundstückes, mehrere Männer-und eine Frauensperson mit langen, schmalen, weißen Kartons, grauen Paketen und einem Korbs gesehen haben, ferner die, die angeben können, die geraubte� Ware, gemusterte seidene Voiles, farbige-Erepe-ww Chines und graue Seiden-Serges aufgetaucht ist. Meldungen, die streng vertraulich behandelt werden, sind an das Zimmer 89 des Berliner Polizeipräsidiums, Hausanruf 601, zu richten. Richiiakeii von Artellen der Groß-verKner Gewerbe» und kauf- mannsgerichle? Ein einheitliches Gewerbegericht und ein einheitliches Kaufmannsgericht für das Gebiet der neuen Stadtgemeinde Berlin sind von den städtischen Körperschaften beschlossen und vom Oberpräsidenten genehmigt worden. Da aber die Amtsdauer der bisherigen Beisitzer nicht über den 30. Juni hinaus erstreckt worden ist und andererseits die Wahlen der neuen Beisitzer erst am 19. und 21. August(für das Gewerbegericht) und am 26. und 28. August(für das Kaufmannsgericht) stattfinden, so hat
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Die Rächer. Roman von Hermann Wagner.
„Gar keine Gäste?" fragte Reisner enttäuscht. „Doch zwei." „Wen?" „Eine Dame und einen Herrn. Sie wohnen im rechten Flügel." „Ein Ehepaar?" fragte Reisner. „Nein," antwortete harmlos der Kellner, der den Sinn der Frage nicht verstand,„die Dame ist aus Hamburg und der Herr ist aus Wien ." Es war unschwer zu erkennen, daß er gern noch mehr geschwätzt hätte, doch Reisner winkte ab, da er sein Interesse an den beiden nicht vorzeitig verraten wollte. Es war ihm genug, daß er noch erfuhr, die Herrschasten hätten einen ge- meinsamen Ausflug aus eine nahe Alm hinauf gemacht. Er verzehrte, was ihm der Kellner brachte, und schlenderte sodann planlos durch das Städtchen, ging an den See hin- unter, warf sich auf eine Bank und starrte über das Wasser hin, dessen Wellen unruhig das Ufer anliefen. Seine Gedanken, plötzlich zur Ruhe gekommen, waren sel'sam schwer und düster. Sie richteten sich auf einen ein- ziaen Punkt, der vor seinen Augen dichter, breiter und dunkler wurde, bis er sich schließlich zu einer finsteren Wolke zusam- menballte, die drohend den sonnigen Himmel verdeckte. Behrens... �. Reisner verspürte einen eisigen Schauer. Jener Mann saß nun im Gefängnis und wartete, legte einen Tag zum anderen, fügte die Tage zu Wochen, die Wochen zu Monaten und die Monate zu Jahren und mußte doch noch zehn Jahre warten, bis der Tag anbrach, an dem sich seine Wünsche erfüllten-.. � � ,r„ Ein heftiges Grauen packte Reisner, das ihn schüttelte und würgte, mit solcher Wucht, daß er sich die Augen reiben muß�e, um wach zu werden, um wahrzunehmen, daß er in sonniger, milder Gegend, in schrankenloser Freiheit war. Gut, auch die zehn Jahre würden vergehen,— einmal, ja, würden sie um sein,— und eines gewiß, würden sich jenem Manne die Tore des Eefängnisies öffnen... Aber würde dann der. der die Kraft gehabt hatte, so lange zu warten, nicht ein alter Mann sein, verbraucht, müde und innerlich zerbrochen? Reisner stöhnte laut auf, denn er spürte in dem, was er selbst erlebt hatte, einen Teil dessen, was, nur schauriger und trostloser, jener andere erduldete.
Und eine blinde Wut, ein tödlicher Haß stieg in ihm auf gegen die, die es vergessen hatte, wer um sie litt, und es schien ihm mit einem Male, daß er ein Recht hätte, sie, wenn sie nur aufmuckte, zu erschlagen. Wie dumm war jener Alte in Meran , der da glaubte, er, Reisner, fei nur sein Werkzeug! Was wußte dieser Schwachkopf davon, wie stark der Haß in einem Menschen werden konnte, dem man durch Jahre die Fesseln knirschender Ohnmacht angelegt hatte! Was war ihm geschehen? Eine Frau hatte ihn be- trogen... Was lag daran? Frauen waren bMg, und man hatte genug Gelegenheit, sich an ihnen zu rächen. Aber von einer Frau verraten zu werden und dabei zur Ohnmacht verdammt zu fein,— hatte er dieses erduldet? Nein!! Reisner ging mit hastigen Schritten das Seeufer ab. Die Wellen bellten ihn an. Bellt nur, dachte er, ich fürchte mich nicht, ich tue doch, was ich wünsche! In mir ist eine Kraft, die nicht überwunden werden kann: die des Hasses! Reisner schlug, ohne aufzusehen, den Weg zurück nach dem Seehof ein. Ein kleines Mädchen, das spielend mitten auf der Straße saß, hätte er beinahe getreten. Es schrie auf und kroch furcht- sam auf die Seite. Reisner merkte es gar nicht. Leute blickten ihm verwundert nach, von dem Drohenden in seinem Antlitz sonderbar berührt. Ein Mann grüßte ihn, doch Reisner dankte ihm nicht, da er seinen Gruß nicht hörte. Da schlug plötzlich ein helles Lachen an sein Ohr. Noch immer sah er nicht auf, denn er hatte den merk- würdigen Gedanken, daß dieses Lochen aus jenem finsteren Traum käme, den er träumte. Allein das Lachen wiederholte sich, und so hob er, wie erschreckt, den Kopf. Er stand vor der Freitreppe des Seehofes. Auf den mittleren Stufen aber hatten drei Menschen eine kleine Gruppe gebildet eine Dame in einem hellen Kleid, mit einem blaßgrünen Seidenschal um den Schultern, ein junger Mann, der seinen Panamahut in der Hand hielt, und der Wirt. Reisner regte sich nicht, ihm war, als habe sein Herz auf- gehört, zu schlagen: die junge Dame, in deren vollem, rot- blondem Haar die Sonne ein goldenes Feuer angezündet hatte, wandte ihm das Gesicht zu und betrachtete ihn schon eine Weile auf eine Art, die doch über ihn hinweg oder durch ihn hindurch zu sehen schien. Und auch der junge Mann war aufmerksam auf ihn ge- worden. Reisner sah sein harmloses, hübsches Jünglings- gesicht, in dem ein Paar lebhafter Augen fröhlich lachten. Er konnte kaum älter als zweiundzwanzig Jahre fein.
Reisner nahm alle feine Willenskraft zusammen. Die Entschlüsse jagten sich in ihm, sie kamen und er verwarf sie. Was tue ich, fragte er sich, wie soll ich mich benehmen? Plötz- lich brachte er es fertig, zu lächeln und höflich den Hut zu lüften. Nur ganz leicht war fein Gesicht noch verzerrt. Aber schon kam ihm der Wirt zu Hilfe. Er eilte ihm ent- gegen, machte eine Geste, die die beiden Parteien verbinden sollte, und sagte:„Gestatten die Herrschaften, daß ich unseren neuen Gast vorstelle: Herr Reisner aus Berlin -- Frau Dlümner, Herr von Webenau!" Reisner hatte sich endlich in der Gewall. Er sah Lucie Blümner fest an, streifte Herrn von Webenau mit einem leich- ten Gleiten seiner Augen und verbeugte sich. „Aus Berlin ?" sagte Lucie Blümner,„o, dann sind wir ja Landsleutel" „Mehr als das," sagte Reisner mit einem Ernst, der grell von der Situation abstach,„wir sind sogar aus der gleichen Stadt: ich bin Hamburger, gnädige Frau!" Er sah es, wie sie sich verfärbte, und ein immenser Jubel schwellte seine Brust, so stark und süß, daß er seinen Kitzel in allen Nerven spürte und sich erschauernd fragte, woher er käme. Lucie Dlümner sah ihn tastend cm.„Können Sie mich?" fragte sie, durch ein Unerklärliches an ihm unsicher gemacht. „Nein," antwortete er mit vollkommener Ruhe,„aber ich hoffe, daß ich Gelegenheit haben werde, Sie kennen zu lernen, gnädige Frau!" Selbst Herr von Webenau merkte jetzt, daß irgendein Unerklärliches in der Luft lag.„Es ist noch ganz tot hier," meinte er, nur um überhaupt etwas zu sagen,„wir kommen von Meran ..." „Ebenso wie ich," erklärte Reisner. „Ah!" entfuhr es Lucie Blümner. „Auch Sie?" fragte Herr von Webenau, durch den Ausruf Lucies erschreckt. „Gewiß," sagte Reisner,„oder finden Sie, daß daran etwas Ungewöhnliches ist?" Er maß beide mit einem flüch- tigen Spott und setzte sodann hinzu:„Darf ich den Herr- schaften vorschlagen, noch ein wenig in den Garten zu gehen?" Es gab eine Pause, in der die beiden zu überlegen schienen. Aber da lachte Lucie Blümner plötzlich auf.„Warum nicht," rief sie aus,„gehen wir in den Garten!" „Ja." sagt« mit einer geschmeidigen Geste der Wirt,„der Abend ist wunderbar mild!" (Forts, folgt.)