Nr. 357 ♦ 38. Jahrgang
2. SdkgL öes Vorwärts
Sonntag, 31. Juli
GroMerlin nn Me! „Die funge(Bardel das Zentralorgan der kommunistischen Jugend Deutschlands , greift die Parole des 31. Juli: Nie wieder Krieg! auf und formt daraus einen Beitrag, in dem zwar nicht der Krieg, wohl aber Gewalt verherrlicht wird.„Sagt nicht/ so ruft sie, ..nie wieder Krieg, nein, ruft es, schreit es in die Lande: Noch immer Krieg. Wehrt euch, zaingt die Mördergesellen auf die Knie! Schreit es darum in die Gaffen, in die Hütten und Paläste: Krieg dem Kriege. ... Bis wir die neue brüderliche Welt der Schaffenden und Arbeiten- den errichtet haben: die kommunistische Sowjetrepublik der Erde. Dann— ja dann wird es wahr: Nie wieder Krieg/ Den Moskauern zu Ehren ist's geschrieben. Die Moskauer werden'? nicht lesen, sie haben andere Sorgen. Die Stützen der neuen Welt, die sie auftichteten, sind schon morsch. Der Bau wankt. Aber die jungdeutschen Kommunisten, die wackeren Jungen, schwärmen und träumen unentwegt von der durch die kommunistische Sowjet- republik zu errichtenden neuen brüderlichen Welt. Wohl wahr, das ist unser aller Ziel: Dieneuebrüderliche Welt der Arbeitenden und Schaffenden. Die Hand darauf, das meinen auch wir. In diesem Sinne könnten wir Brüder sein. Aber das Verfahren trennt uns. Ihr ruft: Krieg dem Kriege! Wir könnten darüber lachen, wenn sich uns nicht die Fäuste in Empörung über Mitteldeutschland ballten. Jetzt steht ihr an Gräbern und an den Zuchthaushöhlen des Grauens, und ihr habt auch wieder nur Worte, nichts als wütende, empörte Worte, mit denen ihr gegen die Traillen der Zuchthäuser und Festungen rüttelt und kein zerstörtes Menschenleben wieder aufbauen könnt. Wollt ihr so die brüderliche Welt der Arbeitenden und Schaffen- den bäum, dann gibt es vorerst keine Brücke. Aber warum seid ihr unehrlich gegen euch selbst? Warum sprecht ihr Worte, ohne sie ernst zu nehmen? Wie kann denn die brüderliche Welt der Arbeitenden und Schaffendm anders erstehen als durch brüderliches Arbeiten und Schaffen! So laßt die blöde Phrase der Gewalt! So laßt die Phrasen von Krieg und Blut! Arbeitet! Schafft! Und wenn nicht, dann geht eures Weges, aber glaubt nicht, daß ihr die Welt erlösen werdet aus Jammer und Elend und Qualen. „Wer das Schwert anfäßt, wird durch das Schwert umkommml" Wer die Gewalt aufruft, den wird sie schlagm. Die Reinen und Guten, die stillm, unermüdlichen, treuen Arbeiter müsien unter Schwert und Gewalt leiden. Es gibt aber ein Mittel dagegen, das gebärt sich aus der Kraft des Geistes: Solidarität! Zusammenschluß aller gleich und ähnllch Gesinnter! Darum fort mit der Gewalt! Recht muß Recht bleiben! Fort mit allm blutrünstigen Phrasen! 10 Millionen Leichen haben sie uns gebracht. Soll ein neuer Blutrausch die Leiche Europa » der Welt vor die Füße schleudern? Darum heraus aus euren Wohnimgen ihr alle, die ihr mit Weib und Kind durch Not und Grauen des Krieges gegangen seid! Und auch ihr Jungen! Legt festliche Kleidung an! Nehmt Fahnen zur Hand, das Rot der Weltgemeinschast und das Schwarz-Rot-Gold der deutschen Republik. Laßt eure Mienen durchleuchten von jener stolzen stillen Zuversicht, die seid je den echten demschen Proletarier auszeichnet. Kommt olle und eint euch in dem Ruf, der als Aus- druck eines unerschütterlichen Willens die Gewalttätigen von rechts mehr zurückscheuchen wird als der Ruf nach Gewalt. Nie wieder Krieg!
SePerbesthwörunge» vor Gericht. Auch eine Nachwirkung des Krieges. Just an dem Tag, an dem in Berlin und im ganzm Deutschen Reich eine gewaltige Demonstration: Nie wieder Krieg! stattfindet, können wir über eine Gerichtsverhandlung berichtm, die uns mit einem Schlag die Seelen der Menschen öffnet und uns hinein» schauen läßt in ein unermeßliches Meer von Trübsal. Verzweiflung und Qualen. Immer wieder sind es— und es ist das ganz selbst- verständlich— die Frauen, die den Verlust, das spurlose Vev- schwinden eines geliebten Menschen nicht verstehen und verwinden
können und deshalb Ihre Zuflucht zu allerlei dunklm und geheim- nisvollen Mitteln, besonders zum Spiritismus, suchen, ohne aller- dings auch hier die ersehnte Ruhe und Gewißheit zu finden. Auch diese Gerichtsverhandlung lehrt uns: Nie wieder Krieg! Als eine der eigenartigsten Kriegsfolgen macht sich augcnblick- lich neben Kokainismus, Morphinismus und anderen„ismen" auch eine starke Neigung zum Spiritismus in Berlin bemerkbar. Bon i den exklusiven Seancen(Sitzungen), am Kurfürstendamm ange- fangen bis zu den Geisterbeschwörungen im Kartoffelkeller in der Ackerstraße herunter, finden sich zu allen diesen Veranstaltungen eine große Anzahl Gläubige ein, welche in erster Linie versuchen, mit ihren im Felde gefallenen Bätern, Männern und Brüdern aus dem Geistsrreich in Verbindung zu treten. In dem jetzt zur Anklage stehenden Fall hatte die Angeklagte, Frau Maro Korf, in der Elisabethstraße spiritistische Sitzungen ver- anstaltet und durch die Mitangeklagte Hinzmann ein Eintrittsgeld von 3 bis ö M. erheben lasten. Wie die K. angibt, hat sie eine natürliche Beranlagung. mit den Geistern Abgeschiedener in Der- bindung zu treten, und zwar sei diese Fähigkeit von verstorbenen Spiritisten ausgebildet worden. Leiterin des Zirkels fei ein Fräu- lein Maria von Zierajewski gewesen. Die Sitzungen begannen mit geistlichen Gesängen und einem Gebet, dann wurden durch Medien die Geister Verstorbener zitiert und gaben angeblich durch den Mund der Angeklagten Auskunft über alle gewünschten Dinge. Während die Kriminalbeamten, welche den Sitzungen beige- wohnt hatten, die Sache als Schwindel und die Angeklagte korf als eine geschickte— Bauchrednerin bezeichneten, trat eine Reihe vom Verteidiger geladener Zeugen auf, welche bekundeten, daß die Sache durchaus ernst zu nehmen sei und sie tatsächlich mit den Geistern ihrer verstorbenen Angehörigen in Verbindung getreten seien. Eine Zeugin, deren Sohn im Felde durch einen Herzschuß getötet worden war, behäuptete ganz bestimmt, daß sie tatsächlich mit ihrem Sohn, der„immer noch blute", in Ver- bindung getreten sei. Eine andere Zeugin behauptete, daß sie durch den Mund des Mediums mit ihrem gefallenen Sohn gesprochen und dabei Dinge erfahren habe, welche nur der Verstorbene, auf keinen Fall aber das Medium misten konnte. Eine andere Zeugin be- kündete, daß auch ein Tiroler erschienen sei, der gejodelt habe. Ferner sei ein Leutnant erschienen, der aber links gegrüßt habe, also wahrscheinlich ein— Oesterreicher gewesen sei. Eine Frau Schubert und eine Frau Nethke aus der Meyerbeerstraße bekundeten, daß die spiritistischen Offenbarungen bei ihnen ganz genau eingetroffen seien. Die Angeklagt« selbst erklärte sich bereit, im Gerichissaal eine spiritistische Seance zu veranstalten und jeden von dem Vorsitzenden gewünschten Geist herbeizurufen, um zu zeigen, daß es sich absolut nicht um Schwindel handle. Dos Gericht lehnte jedoch dankend ab. — Der Staatsanwalt beantragte vier bezw. S Wochen Gefängnis, während Rechtsanwalt G o l n i ck geltend machte, daß der Spiri- tismus heutzutage nicht mehr mit einer Handbewegung abzutun sei und bereits wissenschaftlich anerkannt sei. Es fehle deshalb jeder Nochweis, daß die Angeklagte das Publikum bewußt getäuscht habe. Das Gericht folgte diesen Ausführungen und kam zu einer Frei- s p r e ch u n g._ der Einbruch In öie griechische Gesanötschast. In der Nacht zum 3. Februar d. I. war, wie erinnerlich sein wird, bei der griechischen Gesandtschast ein Einbruch verübt worden, der gestern sein gerichlliches Nachspiel vor der Ferienstrafkammer des Landgerichts i hatte. Die Gssandtfäulft hatte ihr Heim in der Hohenzollernstr. 22. Drei fragwürdige Existenzen, Wilhelm Claus, Wilhelm T r e b u t und Carl Zimmermann lungerten dort in den Straßen um- her und hatten bemerkt, daß im Hause der Gesandtschaft sämtliche Fenster bis auf eins durch Jalousien dicht verschlossen waren, woraus sie folgerten, daß dort„ein Ding zu drehen" fein würde. Die Villa der Gesandtschaft geht bis zur Hildebrandstraße durch. Von dort gelangten die drei Komplizen unter Anwendung von Kletterkünsten auf da» Grundstück der Gesandtschaft bis zu dem nicht gesicherten Fenster, in das Claus einen Stein warf. Das dadurch entstandene Loch wurde so erweitert, daß der schlankste der Einbrecher sich hindurchzwängen und in das Innere der Villa ge- langen konnte. Er öffnete das Fenster und zog die beiden anderen zu sich hinein. Don diesem Raum führt eine Glastür in ein Nebenzimmer. Die Angeklagten, die bis zum frühen Morgen ihrer„Arbeit" oblagen, durchsuchten dann sämtliche Räume und stahlen aus dem Treppenhaus einen Gobelin, Smyrnateppiche, ferner ein« wert- volle Chaifelongue-Decke, ein Stück Perserteppich, eine Schreib- Maschine und verschiedene andere Wert- und Gebrauchsgegenstände
im Werte von über 100 000 M. Die Diebesbeute wurde auf einen Handwagen verladen und in aller Frühe zu einem Schankwirt in Treptow gefahren, wo sie vorläufig in dessen Vereinszimmer unter- gestellt und von da aus verkauft wurden. Die Diebe waren schließ- lich wohl gestört worden, denn in der Diele der Villa wurde ein großer Teppich zusammengerollt und außerdem noch mehrere Sachen, die sie im Stich gelassen hatten, vorgefunden. Es ist gelungen, der Gesandtschaft den größten Teil der ge- stohlenen Sachen wieder zuzustellen. Trebut und Zimmermann waren voll geständig, dagegen mußte die Sache gegen Claus ab- getrennt werden, weil sich die Notwendigkeit ergab, ihn auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. Trebut wurde zu einem Jahr sechs Monaten, Zimmermann zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.
Vohnungsfkaaöale. Die Kloake in der Wohnung. Einen unerhörten und, wie wir zur Ehre unserer sanitären Per- Hältnisse annehmen wollen, hoffentlich einzigartigen Fall einer Wohnungsverseuchung konnten wir in der Kellerwohnung des Hauses Friedrichstr. 232 durch einen Zufall feststellen. Die genannte Kellerwohnung ist schon seit Weihnachten der Ueberflutung durch st in k end es A b fl u ß w a ss e r infolge eines Rohrbruches ausgesetzt. Bereits am Weihnachtsabend mußte die Feuerwehr alarmiert" werden, um die Räume auszupumpen, und bis zum heutigen Tage strömt noch immer das übelriechende Wasser aus dem Rohrbruch in die Wohnung des Portiers. Es klingt unglaublich, ist aber leider wahr, daß in den verflossenen sieben Monaten eine ausreichende Beseitigung der Ueberflutung nicht bewirkt wurde. Als wir die Wohnung besichtigten, stand das Wasser handhoch über dem Fußboden und gurgelnde Töne aus dem Rohr kündigten einen neuen Zufluß an. Die Möbel stehen mit ihren unteren Teilen im Wasser und sind dem Verderben ausgesetzt. Das Brot überzieht sich mit einer ekelhaften grünlichen, pilzartigen Masse und die Auf- bewahrung sonstiger Genußmittel ist ebenfalls schon aus hygienischen Gründen ausgeschlossen. Und die Abhilfe? Auf die vorgebrachte Klage wurde seitens der Baupolizei geantwortet:„Es muß sofort gemacht werden!" Das städtische Gesundheitsamt ließ die Wohnung von einer an- gestellten Schwester in Augenschein nehmen. Antwort:„Es muß eine andere Wohmng beschafft werden!" Auf dem Wohnungsamt erfuhr der Beschwerdeführer den tröst- lichen Bescheid, daß das Amt auf zwei Monate geschlossen sei. Angesichts der Schwere dieses Falles istsofoxtigeAbhilfe ganz unerläßlich. Die darf natürlich nicht in der Weise geschehen, daß man etwa die Wohnung schließt und den Inhaber heraussetzt, sondern daß die dazu berufene Stelle für Abhilfe und gründliche Reinigung und Austrocknung der Wohnung sorgt. Wir werden den Fall im Auge behalten und erneut darüber berichten. Ein greises Ehepaar auf die Straffe gesetzt. In dem Stallgebäude des Hauses Bismarckstr. IS bewohnt seit zwei Jahren ein 73 Jahre alter Rentenempfänger Kretschker mit seiner 79 jährigen kränklichen Ehefrau eine Wohnung bestehend aus Stube und Küche Der alte gebrechliche Mann erhält eine monatliche Invalidenrente von 84 M. Um mit seiner Frau auch nur vegetieren zu können, zahlt die Gemeinde ihm eine kleine laufende Armenunterstützung. Durch die Not der Zeit gezwungen, nahm das Ehepaar einen in Arbeit stehenden Neffen, einen ehrlichen Bäcker- gesellen, zu sich in Schlafstelle, doch dem Hausbesitzer, einem Herrn Lewaw, der die ansehnliche Villa vor Jahresfrist erworben hat, ist dieses„Idyll" nicht angenehm. Indem er sich zunächst selber vor zwangsweiser Zuweisung anderer Mieter dadurch zu schützen wußte,. daß er Zwischenwände entfernen ließ, um so weniger Zimmer zu haben, verlangte er von K. auf Grund des Mietvertrages Entfernung des Schlafburschen. K. erhob beim Mieteinigungsamt Beschwerde. Dieses hat unter Vorsitz des früheren Friedenauer Bürgermeister Walger„den Antrag auf Erstattung der Aftermietung abgewiesen," später unter Vorsitz eines anderen Herrn„die Zu- stimmung zur Kündigung zwecks Räumung erteilt". Das Amts- gericht Schöneberg hat nun auf Antrag des Hausbesitzers den alten Mann am 28. Juli zur Räumung verurteilt: am 29. Juli läßt der Herr Hauswirt dem Mieter sogar das Wasser absperren. Be- merkenswert ist, daß die Miete stets bezahlt wurde. Die Folge da- von ist nun, daß die Leute, welche 80 Jahre Friedenauer Bürger sind, auf die Straße gesetzt werden und der Hauspascha wahrschein- lich dafür sorgen wird, daß sein Privatchauffeur dort einzieht. Was gedenkt das Wohnungsamt hierzu zu tun?
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Die Rächer. Roman von Hermann Wagner.
„Welches Recht?" fragte er. „Das der Selbsterhaltung." antwortete sie,„denn der. der tüchtig ist, darf leben I" „Auch auf Kosten der anderen?" „Wir leben immer und alle auf Kosten der anderen, wir leben immer gegen die anderen,— die auch niemals zögern, gegen uns zu leben, wenn sie die Stärkeren sind... Ja, darauf kommt es an: stark zu fein!" Reisner schwieg und versuchte es, sich an den Pfahl, den sie vor ihn hin in die Erde gerannt hatte, anzulehnen, ihn zu umfassen,— ihn, der stark und groß war und der für alle Ewigkeit gemacht schien. �. Sich so anlehnend, fühlte er mrt einem Mal, wre ruhig er wurde, wie eine weiche Zuversicht in sein leeres Herz ein- zog, die es warm und yell machte, sehnsüchtig und glücklich,— ja, auch glücklich! „Du findest Worte," sagte er.„die ich nie gefunden hätte, in dir ist alles klar, was in mir nur dumpf liegt,— ja, das schon immer in mir gelegen hat... 2ch danke dir!" „Kennst du jetzt dein Ziel?" fragte sie ihn. „Mein Ziel ist deine Liebe," antwortete er leise,„die ich erringen werde, wenn du siehst, daß ich der geworden bin, zu dem du mich machen möchtest?" „Ja," stnnmte sie freudig zu. „Du.— du bist meine Hilfe!" „Sagte ich dir das nicht schon einmal?" fragte sie. „Ja, ja..." „Meine Liebe zu dir ist da.— sie ist eine junge Pflanze. die wachsen will,— und die nur wachsen kann und blühen wird, wenn,— wenn... du sie pflegst!" „Ja," sagte er glücklich. „Kannst du an meine Liebe glauben?" �Ja, ja," rief er leise aus. „Dann kannst du auch an d i ch glauben,— und das gerade ist es, was ich will!" Das blaue Licht im Zimmer verwischte die Umrisse aller Gegenstände, verwischte ihre Formen und machte sie zu einem
Toten, in das em Traum, ein stiller Traum, ein verlangendes Leben gehaucht hatte. Irgendwo tickte dünn eine Uhr, und das hob die große Stille, die um sie war. noch mehr hervor, machte sie zu einem tiefen Wasser, das sie süß anzog und dessen grundloser Tiefe sie sich verlangend hingaben, bereit,-in ihr den bebenden Schlaf des Glücks zu tun. Er nahm sie in sewe Arme:„Ich liebe dich, und ich furchte nichts... nichts mehr!" „Was hast du gefürchtet?" fragte sie zärtlich. „Den anderen," sagte er leise,„den,— den... in der Feme !" „Behrens—?" „Ja..." „Gerade heute, gerade jetzt?" „Gerade heute, ja,— gerade jetzt." Er lachte leise, und die Stille um sie nahm dies Lachen auf, und der Schimmer der blassen Dämmerung legte sich dämm, so daß es starb,— so leise, so kaum merklich, wie es gekommen war. Und er erzählte ihr von dem Brief, den er am Morgen erhalten hatte. „Wrd er sich rächen?" fragte er. „Kann er es überhaupt.— und wann?" „Ja, noch neun Jahre trennen uns von ihm,— noch neun Jahre..." Das war eine Zeit, die so endlos schien, daß es wie eine Unmöglichkeit anmutete, daß sie überhaupt jemals kommen könnte! „Und wenn," sagte sie,„was kann er tun?" Ja, was könnte er tun?! Er fand dann die Dinge, wie andere Menschen sie auch finden: grausam, hart, und er hatte sich mit ihnen abzu» finden, wie sich alle Menschen mit ihnen abfinden mußten: in Resignation..., denn er war der Schwächere! „Hassest du ihn?" fragte er. Allein, im Gegenteil,•*- er lockt mich... Ja, irgend etwas in ihm lockt mich an,— ich weiß nicht, was es ist. und wieso es kommt,— vielleicht so, wie einen der Schmerz, den man einem anderen bereiten muß,— ja, muß!... immer irgendwie süß reizt und lockt..." Ihre Worte erstarben in einem Seufzer, denn ste spürte seine Küsse, sie spürte sein Verlangen und seine Demut...
Neun Jahre, ging es ihm noch einmal durch den Kopf, neun lange Jahre...! „Ich liebe dich." sagte er, mit bebenden Fingern ihr Haar auflösend,„du bist meine Frau!" Sie lächelte schmachtend.„Ja, deine Frau..." 17. Im Jahre darauf, im Mai, wurde Reisner ein Mädchen geboren. In den letztM Monaten ihrer Schwangerschaft war mit Lucie eine auffallende Veränderung vor sich gegangen. Sie, die körperlich aufgeblüht war, schien seelisch unter Aengsten zu leiden, war tief niedergeschlagen und konnte oft tagelang in ihrem Zimmer sitzen, Gedanken hingegeben, die sie quälten oder tief niederdrückten. Der Arzt, den Reisner zu Rate zog, machte eine Geste, die die Bedeutungslosigkeit aller Befürchtungen dartun sollte. und sagte:„Unsinn! Das ist das Kind!" „Aber viele macht doch gerade das zu erwartende Kind froh!" wandte Reisner ein. „Es macht sie froh und traurig, je nachdem, immer ver- ändert es sie, wie sich ja jede Frau in einem solchen Zustand immer verändert." Es kamen aber auch Tage, wo Lucie das Bedürfnis emp- fand, sich an ihren Mann anzuschmiegen, wie um bei ihm eine Hilfe gegen etwas zu suchen, das ihr drohte. Was war es? „Ich fürchte mich jetzt zuweilen," sagte sie.„ach. ich fürchte mich so schrecklich!" Und als ihr Mann meinte, daß es die bevorstehende Eni- bindung sei, vor der sie sich ängstigte, schüttelte sie den Kopf. „Das ist es nicht, das läßt mich kalt, darauf freue ich mich vielmehr, denn es wird die Erlösung sein, denke ich!... Nein, es ist etwas anderes. Etwas Unbestimmtes, für das es keine Worte gibt!... Ach, mir ist so bang!" Er war an solchen Tagen beständig um sie. obwohl ihm die Fabrik kaum noch Zeit ließ, Atem zu schöpfen. Aber einmal glaubte sie, eine Erklärung gefunden zu haben, die Erklärung dafür, was es war, das sie so lähmte. „Es sind die Fesseln, die ich trage." sagte sie zu ihrem Mann, „die Fesseln der Mutterschaft, die der Mann der Frau auf- erlegt und mit denen er sie wehrlos und feinem Willen unter- tan macht." (Forts, folgt.)