Nr. 367 ♦ 3S. Jahrgang
Heilage öes vorwärts
Sonnabenö, 6. August l 921
Der firbeiterstuöent. Auf dem L deutschen Studentontag in Erlangen spielte sich ein Vorgang ab, der wert ist, etwas genauer besprochen zu werden. Zu diesem Tage war der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund eingeladen. Der Vertreter des Ge- werkfchaftsbundes begrüßte den neuen Studententyp, den sogenann- ten Werkstudenten. Das ist jener Student, der heute in der'Ferien- zeit in den Fabriken oder auf den Feldern arbeiten muß, um stu> dieren zu können. Der Student als Arbeiterl Ein verheißungsvoller Anfang! Dieser neue Student, der einen Teil des Jahres zusammen mit dem Proletarier in der Werkstatt, in der Kohlengrube, auf dem Acker die Last, chitze und Kälte des Tages trägt, muß ganz selbstverskändlicherweise eine völlig andere Haltung gegenüber dem Proletariat im Laufe der Zeit einnehmen, als jener alte Studenten- typus, der in den Ferienzeiten entweder sich noch tiefer in den Vücherberg vergrub oder sich den Tändeleien und romantischen Schwärmereien des Korpsstudententums hingab. Der Arbeiterstudent wird endlich die Brücke schlagen vom Proletariat zu den Intellek- tuellen hinüber. Der Arbeiterstudent wird die Kluft des Miß- trauens, die immer noch zwischen dem„Mann mit den blauen Nägeln" und dem Geistesarbeiter besteht, ausfüllen. Der Arbeiter- student als Element der Vermittlung und Berührung zwischen den Denkenden und Leitenden wird für das Proletariat und für den Be- freiungskampf der Arbeit von ebenso großer Bedeutung sein, wie der neue Beamte, der ohne Aengstlichkeit und ohne Scheuklappen sich mutig und entschlossen auf den Boden der Demokratie und der Verfassung an die Seite der freien Gewerkschaften stellt. Als vor einigen Tagen die Annäherung der deutschen Beamtenschaft an die freien Gewerkschaften gemeldet wurde, ging ein Angstschrei durch die bürgerliche Presse. Alle die offenen und versteckten reaktionären Geister haben Angst davor, daß dem Proletariat aus den Reihen der Beamtenschaft und der Intelligenz neue Kräfte zuströmen könnten. Der Arbeit er student bedeutet etwas neues In der deut- schen Kultur. Sein Austreten signalisiert einen neuen Abschnitt in der Geschichte des deutschen Studententums. Wir haben erst Keime, Anläufe und Anfänge vor uns, ober verheißungsvolle Anfänge, die olle die Kleingläubigen in der sozialistischen Bewegung mit neuem Mut und neuer Zuversicht erfüllen müssen. Es sind vielleicht 10 Jahre her, da wurde in München in ver» schiedenen Versammlungen, in denen der berühmte Rechtslehrer o. Amira Lbtr die Einführung in das Rechtsstudium sprach, dar- auf hingewiesen, daß nicht nur die Weltfremdheit der Ju» risten durch Ferienarbeit der Studenten beseitigt werde, sondern daß überhaupt jeder Student im Laufe des Jahres einen gewissen Teil der Zeit in der Industrie oder in der Landwirtschaft, je nach seiner Eignung mid je nach seinem späteren Beruf, arbeiten sollte. Von sozialistischer Seite wurde bereits damals darauf hingewiesen, daß eigentlich jeder tSudent erst dann wieder nach den Ferien zur Arbeit auf der Universität zugelassen werden sollte, wenn er in den Ferien in der Industrie öder in der Landwirtschaft gearbeitet habe. Heute zwingt nun die Not einen Teil der Studenten, eine für diese Arbeiterstudenten sehr segensreiche Tätigkeit neben ihrem Studium auszuüben. Der Weg, der durch die Not beschritten werden muß, müßte aus sittlichen und kulturellen Gründen heraus von allen be- gangen werden. Hier kann im guten Sinne wirklich einmal aus der Not eine Tugend gemacht werden. Die Erfahrungen, die die Studenten als Ferienarbeiter gemacht haben, sind außerordentlich interessant und gut. Ein Bericht, den die Stuttgarter Firma Robert Bosch über die Ferienzeit von 10 Studenten für die Dauer der Owöchigen Osterferien gibt, meldet nach der„Sozialen Praxis" folgendes: Es kamen nur Studenten in Frage, die aus ihrer Ferienaxbeit bei der Firma für ihren spL- teren Beruf Gewinn hoben tonnten. Für den Jngenieurstudenten war das selbstverständlich, daß er etwas für seinen Berus profitleren mußte. Aber auch der Jurist und der Theologe— so betont der Bericht— muß aus dem Umgang mit Menschen aus Bevölkerung»- schichten, mit denen er während' seiner Studienzeit sonst wenig zu- sammenkommt, viel lernen. Auch zahlreiche andere Betriebe be- richten ebenfalls von guten Erfolgen, die solche Ferienorbeit für
beide Parteien gezeitigt haben Der Blick ins volle Menschenleben ist so wichtig, als die Weisheit der Bücher. Der Bericht hebt noch hervor, wie sehr der Umgang zwischen Studenten und Arbeitern auf die Beseitigung vieler Vorurteile hingewirkt habe. Die Erfahrungen, die also in dem Arbeiterstudenten bisher ge- macht wurden, reizen zur Nacheiferung auf dem neuen Weg des Studententums. Zu diesen eigenen Erfahrungen kommt nun noch das Beispiel hinzu, das uns das Ausland gibt. China ist heute dabei, eine Reihe Studenten nach Europa zu schicken, vor allem nach Frankreich , und diese chinesischen Studenten suchen sich ihren Lebens- unterhalt durch praktische Arbeit zu verdienen.„Arbeit schändet nichtl"— das ist ein Wort, das bei uns zwar recht oft gebraucht, anscheinend aber in China viel besser als bei uns zur Lebensmaxima gemacht wird. Für die Förderung des Arbeiterstudenten können die G e» wertschaften unendlich segensreiche Arbeit leisten. Niemond anders als die Gewerkschaften sind dazu imstande, für die Unter- bringung der Arbeiterstudenten im Inland wie im Ausland zu sorgen. Eine Perspektive tut sich auf, glückverheißenv für die Ar- beiterschaft. Alle Studenten in Deutschland arbeiten einen Tell des Jahres in Industrie und Landwirtschaft. Die Gewerkschaften ver- Mitteln die Arbeit für diese Arbeitsstudenten. Tausende von Stu- denken gehen ins Ausland, wie Taufende von Studenten herein zu uns kommen, und alle diese Studenten müssen, wenn sie als voll- berechtigte akademische Bürger gelten wollen, Arbeiterstudenten sein, d. h. neben ihrem Studium auch m die Arbeit des Proletariers hineinsteigen. Zukunftsmusik! Zukunftsmusik, ja, wenn die Welt noch das Gesicht der Vorkriegszeit tragen würde. Aber sehen wir uns doch um! Tagtäglich erzählen uns die Führer Deutschlands , daß das Schwerste noch bevorsteht. Und das ist wirklich kein Witz und wenn wir die Katastrophe ansehen, in die Rußland soeben HIneinge- stürzt, und wenn wir mit Schaudern sehen, daß Pariser Leichtsinn mit dem Frieden der Welt Schindluder treibt, dann sind wir sicher, daß die Zeit rasch, nur allzu rasch dafür sorgen wird, daß aus dem Arbeiterstudenten nicht bloß eine vorübergehende Erscheinung wird, sondern daß der Arbeiterstudent der Student der Zukunft ist und bleibt. Arbeiterstudent? Gibt es nicht eigentlich noch einen Doppelgänger des Arbeiterstudenten? Doch, der Arbeiter, der sich in feinen freien Stunden geistig soweit vor- wärts gebracht hat, daß er fähig und reif ist. tiefer in das Studium der Wissenschaft hineinzusteigen. Die Frankfurter Akademie für Ar- beit kennt ebenfalls einen Arbeiterstudenten. Diese Arbeiterstuden» ten kommen von der Arbeit her zum Studium, der andere kommt vom Studium her zur Arbeit. Don zwei Seiten wird der Berg an- gebohrt und durchstochen, in dem heute noch vor der Höhle des Reichtums der Drache Fafner liegt, von dem das Wort gilt:„Ich liege und besitze, laßt mich schlafen!" Die Gewerkschaften sagen es selbst, es fei für sie setzt eine neue Zeit angebrochen, jetzt gelte es nicht mehr bloße Lohn- kämpfe zu organisieren, jetzt gelte es, um den Neuaufbau des So- ! zialismus zu kämpfen. Diesen Neuaufbau werden die Gewerk- ; schaften um so rascher und um so sicherer herstellen, je mehr es ihnen gelingt, den Arbeiterstudenten dem Studententum als neues Ideal 1 vorzustellen. Kurt Eisner sagte einmal: Fürchterlicher und schreck- i licher als die Kluft zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden sei die ! Kluft zwischen den geistig Besitzenden und geistig Nichtbesitzenden. Aber es ist kein Platz zum Verzogen gegeben. Wer Augen hat zu � sehen, sieht eine neue Welt wachsen. Der Arbeiterstudent Ii st ein Stück dieser neuen Welt, einer ganz neuen Welt._ W.St GroßSerün Der grüne Saft aus Amerika . Bei den Weymouthskiefern in Grünheide . Die Kiefer ist der eigentliche Waldbaum der Mark. Sie nimm vorlieb mit dem magersten Sand, dem sie die kärglichen Nährstoffe noch abzuringen versteht. Deshalb treffen wir die Kiefernwälder vornehmlich in den alten Urstromtälern der Eiszeit an, deren
Sandboden auf andere Weise kaum nutzbringend gemacht werden könnte. Ueber die Lebensart der Kiefer und das eigenartige Ge- präge, das sie der märkischen Landschaft verleiht, finden wir eine naturwahre Schilderung in dem Buch„Unser Wald" des leider zu früh dahingegangenen Arbeiterwanderers und Nalurfreundetz Kurt Grottewitz.(Verlag: Buchhandlung Vorwärts.) Neben der gewöhnlichen heimischen Kieser oder Föhre(Linus siivestris) werden auch häufig andere Kieferarten angepflanzt, so besonders die Weymouthskiefer oder Strobe(Linus strodus). Sie ist ein Kind Nordamerikas , das im Jahre 1705 von dem englischen Lord Weymouth nach Europa gebracht wurde. In ihren Nadeln und Zapfen unterscheidet sich die Weymouthskiefer wesentlich von der gewöhnlichen Kiefer. Bei dieser sind die Nadeln starr; sie schimmern bläulichgrün und kommen je zu zweien aus einer häutigen Scheide. Die Weymouthskiefer hat dagegen ganz weiche Nadeln von hellgrüner Farbe, die zu fünfen vereint stehen. Die Weymouths- zapfen sind bis 12 cm lang und spitz und haben große Schuppen. Sie unterscheiden sich aufsässig von den bekannten Kiefernzapfen oder„Kienäpfeln". Beide Bäume lassen sich am besten erkennen, wenn wir tt« neben einander sehen. Auf dem Friedhos von Grünbeide an der Löcknitz finden wir die gewöhnliche Kiefer und die Weymouths- kiefer in enger Nachbarschaft. Wir fahren noch Fangschleuse (in Erkner umsteigen) und wandern gen Nord über die Löcknitz nach Grünheide , Die Ebene des Berliner Urstromtals, in dem wir wandern, ist meilenweit von Kiefernwald bedeckt. Bon dem hoch- gelegenen Friedhof dehnt sich eine schöne Aussicht über den Ort Grnnheide und den Werlsee. Leicht läßt sich hier die Weymouths- kiefer erkennen, die in dem ihr fremdländischen Boden gut gedeiht. Wir überschreiten das VerbindungSfließ des PeetzieeS östlich mit dem Werlsee westlich der Straße.' Am U'er des Werlsces herrscht ein rege« Freibadeleben. In nördlicher Richtung geht es auf der Straße nach Rüdersdorf durch den Kiefernwald weiter. Bald er- scheint der Rand der deutlich aufsteigenden Barnimhochfläche, die da» nördliche Ufer des Urstromtals bildet. Wir verlassen die Straße in nordwestlicher Richtung und gelangen an das Ostufer des KalkieeS. Auf schönen Uferwegen wandern wir gen Süd über Woltersdorfer Schleuse zum Flakensee und weiter zur Löcknitz, die in diesen See mündet. Jenseits der Löcknitzwiesen liegt Erkner . Wir überschreiten das Fließ und kommen durch die freundliche Siedlung wieder zum Bahnhof Erkner .
wie Postpakete verschwknSen. Der Postfahrer und sein Helfershelfer. Für das Verschwinden zahlreicher Postpakete wurde der Post- fahrer Elias verantwortlich gemacht; mst ihm stand der Kriegs- invalide August D o m n i g unter Anklage der Hehlerei vor der Ferienstrafkammer des Landgerichts III. Elias war bei dem Pakstpostamt Charlottenburg tätig und hatte die Aufgabe, in den Bezirken Reichskanzlerplatz, Kasserallee und besonders auch in der Sipo-Kaferne die eingegangenen Pakete zu bestellen. Es fiel t.un auf, daß während feiner dreimonatigen Tätigkeit nicht weniger als 00 Pakete, die zum großen Teil Nah- rungsmittel für die Sipo-Leute enthielten, nicht bestellt worden, fon- dern abhanden gekommen waren. Der auf den Angetlag- ten Elias sich lenkenoe Verdacht, die Pakete unterschlagen zu haben, wurde durch die von mehreren Pförtnersleuten beobachteten Vor- gänge zum Teil verstärkt. Diese hatten nämlich mehrmals wahrge- nommen, daß der Angeklagte aus dem Postwagen mit einem ge- füllten Postsack gestiegen war, den Postsack auf dem Flur eines der Häuser des Bezirks niedergelegt hatte und daß sich dann der zweite Angeklagte mit den Paketen entfernt hatte. Die Sache war den Zeugen so verdächtig, daß sie zweimal inter - venierten und die Angeklagten direkt vor Veruntreuungen warnten. Beide Angeklagte bestritten ihre Schuld, Elias indem er auf aller- lei Möglichkeiten hinwies, unter denen die Pakete abhanden ge- kommen fein könnten. Eine bei dem zweiten Angeklagten vorge- nommene Haussuchung förderte auffallend große Na h r u n g s- Mittelvorräte zu Tage. Die Beweisaufnahme ließ keinen Zweifel darüber, daß ein Teil der verschwundenen Pakete auf das Schuldtonto des Angeklagten Elias zu fetzen war. Dos Gericht verurteilte diesen zu 2 Jahren Gefängnis, den Angeklagten Domnig zu 1 Jahr Gefängnis. Elias wurden v Monate auf die Untersuchungshaft angerechnet.
Die Rächer. Roman von Hermann Wagner. O ja, der Mann namens Granich wollte. Er behielt zwei Stunden das Wort und er behielt es gern. Behrens tat es wohl, eine menschliche Stimme zu hören. Auch daß er so viele Gesichter sah, das und jenes und ein drittes und noch viele andere, und daß ein jedes dieser Gesichter seine bescheidene Eigenart hatte, tat ihm wohl. Er hatte jahrelang keine solche Gesichter mehr gesehen. Jetzt war es ihm«ine stille Freude, sie zu betrachten. Ueberhaupt war das Leb«n voll stiller Freuden, dachte er, nur mußte man alt genug werden, um sie zu finden. Er war alt. Er hätte sich hundert, zweihundert Jahre geben können, ja, ihm war, als habe er viele, viele Generationen überlebt und als wüßte er alles, was man j« vor ihm gedacht oder ge- fühlt, gehofft oder verwünscht hatte. So alt war er. Und das Ergebnis all dieses großen Alters war nur dieses: sein Lächeln... „Eigentlich." sagte Garnisch und spreizte sich ein wenig. sehen Sie nicht danach aus, als ob Sie fibon viel in der Welt herumgekommen wären.,. K e n n e n Sie Hamburg ?" ..O sa." „Wissen Sie, solche Leute wie Sie sieht man dort wenig. Sie haben nicht die... die Ellenbogen, die"dort Mode sind. Nehmen Sie sich in acht!" „Ich fürchte mich nicht," sagte Behrens. „Oh, das hat schon mancher gesagt, und man hat doch schon manchen dort umgebracht!" erklärte Granich und nahm dies zum Anlaß, von Sankt Pauli zu erzählen, ganz so, als ob er dort daheim wäre und jeden Winkel dort kenne» wie daheim die vier Ecken seines Hauses. „Umgebracht..." wiederholte Behrens für sich und ver- sank in ein Grübeln. Allein er fuhr sich gleich darauf über die Stirn und lächelte schon wieder, den das waren Dinge, denen er genug nachge- grübelt hatte und über die er mit sich im klaren war. Und er stellte plötzlich Fragen, nicht aus Wißbegierde-- denn was konnten ihm die Menschen hier erzählen, was er nicht ichon besser kannte?— sondern nur um seine eigene Stimme zu hören, von der er nicht wußte, ob sie noch die der anderen Menschen war.
Aber er schwieg doch ebenso schnell wieder, denn es dünkte ihn. daß das Reden nicht mehr seine Sache sei. Einer, der, wie er. so lange geschwiegen hatte, lernte das Schweigen lieben und erkannte, daß es die tiefste Art des Menschen war, sich auszudrücken, ein Gottesdienst, der von so strenger und un- beugsamer Schönheit war, daß es nichts gab, was man mit ihm vergleichen konnte. Schweigen, hören und wieder schweigen und verzeihen, dachte er, das ist es, wohin man gelangt, wenn man bis zum Letzten und Wtselvollsten in der Seele des Mensdjen'vordringt. Schweigen war nicht Stolz, Schweigen war Güte. Und gut sein war alles. Die ersten Häuser von Hamburg tauchten auf, und Behrens sah sie mit einer Wehmut, auf deren Grund«ine herbe Süße war. „Dieses ist die Alster, erklärte Granich,„die Außenalster!" „Ja, die Alster ..." sagte Behrens. „Wo steigen Sie aus?" „Auf dem Hauptbahnhof." Granich schüttelte ihm die Hand, wie einem Kinde, um das man besorgt ist.„Adjüs." verabschiedete er sich,„und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe: Aufpassen! Scharf aufpassen!" Der Zug fuhr in den Hauptbahnhos ein. und Behrens be- fand sich mit einem Mal in einem Gewühl von Menschen, das ihn unruhig machte. Nur fort, dachte er, ich weiß ja sein Grab... Ihm war, als entweihe die summende Menschenmenge die Ruhe seiner Gedanken; er wankte auf eine Autodroschke zu und sagte zu dem Ehauffeur mit bettelnder Stimme: „Fahren Sie mich nach dem Ohlsdorfer Friedhof ." Der betrachtete ihn mißtrauisch und zögerte„Das ist sehr weit..." Behrens drückte ihm ein Goldstück in die Hand.„Fahren Sie nur... fahren Sie nur..." Er sah nichts von den Häufern und den Menschen, an denen er vorübersurrte. Er faß in gebeugter Haltung im Wagen und starrte auf den Boden. Als ob es gar nichts Wirkliches wäre, was ich da erlebe, dachte er. Zwölf Jahre schon ist er tot. Und zwölf Jahre habe i ch gebraucht, um zum Leben zu kommen, zum wahrhaften Leben. Und dann gfng er die wundervollen, breiten Wege des Friedhofs, der ein einziger großer Park war. die rechte Stätte
für die, die ruhten. Aber er sah an all dieser Schönheit vorbei, sie umwehte ihn nur wie ein Traum, schattenhaft, unwirklich und stumm, bis er an dem Grab stand, an das man ihn ge- wiesen hatte. Er stand lange Zeit dort. Leute, die vorübergingen, mochten chn wohl für einen halten, der unermeßliche Trauer hatte, obgleich sie es, wenn sie ihn genauer betrachtet hätten. an dem Ausdruck seines Gesichtes hätten erkennen müssen, daß er nicht trauerte, sondern sich freute. Er dachte: Du bist tot, und ich mußte leben. Daß du starbst, war das Leichtere. Mein Los war das Schwerere: ich mußte leben. Ich habe mein Schicksal getragen. Da ich gebüßt habe, ist alles in Ordnung... Erst auf dem Rückweg nahm er wahr, daß es Frühling war. Die Bäume träumten jung in den Himmel hinein, der sie liebkoste und beschirmte, als wären sie seine Kinder, die er liebte. Eine warme Feuchtigkeit strebte allenthalben empor ynd erfüllte die Luft, die der eines Treibhauses glich. Alles wuchs, damit es sterben konnte. Jeder und jedes mußte sich seinen Tod erst verdienen. Die Autodroschke war fort, und Behrens freute sich dessen, denn er hatte setzt keine Eile mehr. Er hatte Zeit, Er hatte so viel Zeit, daß ihm fast bange wurde, wenn er daran dachte, wie es ihm wohl gelingen sollte, sie zu verwerten. Rur Weniges noch blieb ihm zu tun. Bsar es getan, dann hatte er bezahlt, was er schuldig war. und durfte ruhen. Er stieg in eine Elektrische und fuhr in die Stadt, durch- querte sie, planlos, ohne Ziel, nur dem Staunen hingegeben, das es ihm bereitete, daß er soviel Menschen sah, die allx Eile hatten, redeten, sich voll Leben gebärdeten, wo sie doch in Wahrheit zum Leben noch nicht erwacht waren. Ihm schien, als müsse er auf sie in seinem Schweigen wie eine Mahnung wirken. Allein man beachtete ihn gar nicht. er stürzte In jenen gähnenden Rachen, der die große Stadt war, und blieb verschwunden. Er stieg in die Hochbahn und fuhr einmal, zweimal rings um die Stadt. Welches Leben, welche Geräusche— und doch wirkten sie nur schattenhaft auf ihn, so daß er sick nach der Stille des Dorfes sehnte, nach dem beschaulichen Nicken der Gräser auf den Wiesen, die eindringlicher und verständlicher mit ihm sprachen.' (Forts, folgt.")